# taz.de -- Kritikerin des Gesundheitswesens: Kranke Kassen
       
       > Das Gesundheitswesen ist ein aufgeblähter Kosmos voller Dienstleister,
       > eine Megabürokratie der Kassen. Eine Kritikerin erzählt.
       
 (IMG) Bild: Die „All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten ist die Lieblingswaffe von Finanzwissenschaftlern
       
       Das Einkommen entscheidet über den Grad der medizinischen Versorgung. Wer
       arm ist, muss früher sterben. Zugleich werden die Reichen immer reicher,
       schwimmen unsere Krankenkassen im Geld infolge der verordneten
       Sparmaßnahmen und Beitragserhöhungen.
       
       Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) macht unser
       Gesundheitssystem (Gesundheitsfonds und gesetzliche Krankenkassen) dieses
       Jahr 5,7 und kommendes Jahr weitere 1,8 Milliarden Euro Überschuss. Dazu
       kommen 10 Milliarden von 2011 und 3,8 Milliarden von 2010. Die Überschüsse,
       gern „Rücklagen“ genannt, betragen somit deutlich über 20 Milliarden Euro.
       
       2 Milliarden (pro Jahr) stammen aus der sogenannten Praxisgebühr, über
       deren Abschaffung gerade gestritten wird. Diejenigen, die streiten und die
       gesundheits-und sozialpolitischen Entscheidungen treffen, sind allesamt
       Leute, die keinen Cent in die Kassen der Solidargemeinschaft zahlen,
       sondern sich im Gegenteil auch noch auf Kosten des Steuerzahlers mit
       luxuriösen Beihilfen im Krankheitsfall ausstatten lassen. Ohne jeden
       Skrupel.
       
       Dementsprechend gnadenlos fallen die „Reformen“ aus. Die rauben den
       Patienten immer mehr Geld und Ansprüche. Einführung neuer Zuzahlungen für
       Praxisgebühr, häusliche Krankenpflege usf., die drastische Anhebung der
       Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalt, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel und
       ebenso die „Ausgliederung“ von Leistungen aus der Erstattungspflicht der
       Krankenkasse wie rezeptfreie Medikamente, Zahnersatz, Glaukomvorsorge usf.
       wälzten die finanziellen Risiken im Fall von Krankheit und Altersschwäche
       immer mehr auf den Beitragszahler ab.
       
       ## „Demografische Zombies“
       
       Vorgeschobene Gründe für die Sparmaßnahmen gab es viele, wie die angebliche
       „All-you-can-eat-Mentalität“ der Kassenpatienten, oder auch der
       „demografische Effekt“, eine Lieblingswaffe von Wirtschafts- und
       Finanzwissenschaftlern, die sich als Lobbyisten der Finanzindustrie
       feilbieten wie damals den Nazis. Einer sprach unlängst ganz in diesem Sinne
       öffentlich von „demografischen Zombies“ und von „Hundertjährigen, die
       einfach nicht sterben wollen“. Die von allen Liberalisierern an die Wand
       gemalte Kostenexplosion jedoch hat sich als Gewinnexplosion herausgestellt.
       
       Hier wird deutlich, worauf das zielt, wir werden systematisch einer
       Privatisierung nicht nur der Krankheitskosten, sondern unserer gesamten
       medizinischen Versorgung entgegengeführt. Sie soll vollends dem Markt
       unterworfen werden. Dazu passt die neueste Meldung, dass die Krankenkassen
       künftig dem Kartell- bzw. Wettbewerbsrecht unterstellt und damit offiziell
       zu UNTERNEHMEN erklärt werden.
       
       Bisher galten die gesetzlichen Krankenkassen als Organisationen mit einem
       klar definierten gesellschaftlichen Versorgungsauftrag, sie hatten eine
       soziale Aufgabe zu erfüllen, auf dem Grundsatz der Solidarität, nach den
       Regelungen des Sozialgesetzbuches. Wir dürfen gespannt sein, ob in Zukunft
       die Befreiung von der Umsatzsteuer entfällt.
       
       Frau Hartwig lebt auf dem Land, aber für Beschaulichkeit bleibt kaum Zeit.
       Sie ist eine streitbare Bayerin voller Tatendrang. Seit Jahren deckt sie
       die Machenschaften einer miteinander verfilzten Clique aus Politikern,
       Lobbyisten und Vertretern der Gesundheitsindustrie auf, zeigt, wie und
       wohin sie unser Gesundheitssystem manipulieren.
       
       ## Sie mietet das Olympiastadion
       
       Sie wird laut, sie kriegt einen Zorn, sie verpfändet sogar ihr Haus, um das
       Münchner Olympiastadion zu mieten und das alles öffentlich anzuprangern.
       Sie ist vor dramatischen Irrtümern zwar nicht gefeit, lässt sich aber nicht
       vom eigentlichen Ziel abbringen. Ihr Kampfruf lautet: Zivilcourage ist
       Bürgerpflicht! Was sie will, ist Demokratie und Bürgergesellschaft.
       
       In leidenschaftlichem Tonfall und bayerisch gefärbter Sprechweise erzählt
       sie uns ihre Erfahrungen: „Ja, ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker, wo ich
       echt sauer werde, das sind Doppelmoralisten, aber davon später. Und ich sag
       Ihnen gleich, ich bin keine Patientenvertreterin! Das möchte ich gleich
       klarstellen, das hätten manche gern, um mich zu entschärfen! Ich vertrete
       Bürgerrechte.
       
       Klipp und klar! Das ist ganz was anderes. Für mich ist das, was passiert im
       Gesundheitswesen, etwas ganz Grundsätzliches, das ist eins der wichtigsten
       gesellschaftlichen Themen. Aber aufgepasst: Wenn wir von ’Gesundheitswesen‘
       bzw. von ’Gesundheitssystem‘ reden, dann meinen wir nicht nur Ärzte,
       Krankenhäuser und Krankenversicherungen.
       
       Wir reden von einem aufgeblähten Kosmos an ’Dienstleistern‘, von den
       gewaltigen Megabürokratien der Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen,
       von Verwaltungsbeamten, von Apotheken, Labors, Instituten, von Pflege,
       Service und Reha-Einrichtungen, Krankenhäusern und Groß-Kliniken,
       Zulieferern und vor allem von einer alles durchdringenden gewaltigen
       Pharmaindustrie. Die Triebfeder von dem Ganzen ist das Geld. Aber das
       wirkliche Ausmaß von diesem Kosmos habe ich erst allmählich begriffen.
       
       ## Am Anfang eine Angina
       
       Angefangen hat’s mit einer Angina und einem Hausarztbesuch. Als er mal kurz
       rausmusste, habe ich zufällig einen Blick werfen können auf seinen
       Computer, und da stand als Laufband: ’Die veranschlagte Zeit für diesen
       Patienten ist abgelaufen.‘ Ich habe den Arzt dann zur Rede gestellt, und es
       war ihm irgendwie peinlich, er redete was vom ’engen Budget‘.
       
       Das wollte er aber dann so doch nicht stehen lassen, und eines Abends kam
       er mit vier Kollegen zu mir nach Hause, und sie haben mir ihre Probleme auf
       den Tisch gelegt, erzählt, dass sie furchtbar unter Druck stehen, dass sie
       eigentlich für ihre Arbeit kaum noch was kriegen, dass sie pleitegehen und
       dass es aus diesem Grund demnächst keine Hausärzte mehr geben wird.
       
       Ich war der typische uninformierte Kassenpatient, habe denen das damals
       natürlich alles geglaubt und mich dermaßen empört darüber, dass ich
       beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Wir sind 70 Millionen
       Beitragszahler, dachte ich, wir wissen nicht, was mit unserer Kohle
       passiert, das können wir uns doch nicht bieten lassen! Sie haben mich
       eingeladen, und so bin ich erst mal eineinhalb Jahre, als einzige
       Nichtmedizinerin, zu den Treffen des Hausärzteverbands gegangen – auch zu
       den Protestveranstaltungen – und habe mir angehört, was die Ärzte so zu
       sagen haben.
       
       Habe auch sehr viel recherchiert und mich sachkundig gemacht. Und ich hatte
       all die Jahre viel zu tun mit Ärzten aus der Funktionärsszene, den
       Verbänden, mit Ärzten, die sich berufspolitisch auseinandergesetzt haben.
       Und erst allmählich fiel mir irgendwie auf, sie streiten eigentlich alle um
       des Kaisers Bart. Es ging immer nur darum, welche Leistungen bringen wir
       und was bekommen wir dafür bezahlt. Aber ich habe gedacht, diese Haltung
       ist ein Ergebnis der Systemfehler.
       
       ## „Ich hasse Nürnberg!“
       
       Ich dachte, was hier gebraucht wird, ist eine informierte Bürgerbewegung,
       zur Unterstützung, aber auch damit die Ärzte mal lernen, über ihren
       Tellerrand zu gucken! Eine Woche später habe ich eine Initiative gestartet
       und mithilfe meiner Webmasterin die Homepage
       [1][patient-informiert-sich.de] ins Netz gestellt.
       
       Meine Überlegung war, Ärzte und Patienten kämpfen gemeinsam. Und im April
       2007 haben sie mich eingeladen zu einer Demonstrationsveranstaltung nach
       Nürnberg. Ich hasse Nürnberg! Und dann auch noch Meistersinger-Halle, 2.000
       Ärzte haben demonstriert, weil sie zu wenig Geld kriegen und fertiggemacht
       werden. Da war mein erster Auftritt.
       
       Ich hab mich am Mikrofon zu Wort gemeldet, quasi für
       patient-informiert-sich.de, und habe gesagt, wir Patienten, wir
       Beitragszahler, werden nun wach, wir legen jetzt den Finger in die Wunde
       und sagen Halt! Stop! Die Macht der Krankenkassen und Kassenärztlichen
       Vereinigungen muss begrenzt werden, wir lassen es nicht zu, dass die
       Hausärzte aussterben! Ich war voller Idealismus und habe mich blenden
       lassen von den Ärzten. Das passiert mir heute nicht mehr!
       
       ## So wie es unter Hitler funktioniert hat
       
       Meine Wut gegen die Masse der niedergelassenen Ärzte kam, als mir klar
       wurde, dass sie selber schuld sind, dass sie freiwillig mitmachen, dass sie
       ihr eigenes Denken, Fühlen und ihre Zivilcourage opfern für ihren ganz
       kleinen Vorteil, für ihr ganz kleines Sicherheitsdenken. Ich habe zum
       ersten Mal wirklich kapiert, wie das unter Hitler funktioniert hat. Ich
       musste aber das ganze komplizierte System erst mal durchschauen lernen.
       
       Und ich habe begriffen: Was draufsteht, muss nicht drin sein.
       Beispielsweise beim ’freien niedergelassenen Arzt‘. Den gibt es nämlich gar
       nicht. Er arbeitet in einer Scheinselbständigkeit, die er selber wählt. Es
       funktioniert so, dass er jeden Monat eine Abschlagzahlung kriegt. Das ist
       seine Sicherheit, auf die er allergrößten Wert legt. Wenn er die hat, ist
       ihm vollkommen wurscht, wie das System eigentlich funktioniert. Und da
       haben wir ein Problem!
       
       Ein anderes Problem ist die Kassenärztliche Vereinigung, kurz KV. Die Macht
       der KV kommt daher, dass die Politik sich ganz wunderbar zurückgelehnt und
       gesagt hat: Wir machen zwar die Rahmenbedingungen, aber das eigentlich
       Brutale, das macht mal ihr! Damals, als Hitler drankam, gab’s bestimmte
       Strukturen der KV, und die haben sich bis heute nicht geändert.“
       
       ## Der Patient bleibt übrig
       
       Die KV wurde 1931 in Berlin im Zuge der Notverordnungen gegründet und 1933
       zur KV Deutschland. Hinfort starke Verflechtung mit dem NS-Herrschafts-und
       Gesundheitssystem, u. a. entzog sie den jüdischen Kassenärzten ihre
       Niederlassung und damit ihre Existenzgrundlage, was die nichtjüdischen
       Kassenärzte billigend in Kauf nahmen.
       
       „Auf der ganzen Welt gibt es keine KV, nur in Deutschland! Als offizielle
       Standesorganisation ist sie einerseits ein Instrument, um die Ärzte
       ’führen‘ zu können, aber in der Hauptsache ist sie ein Machtinstrument,
       denn sie ist der direkte Partner von den Kassen. Die Kassen zahlen das Geld
       an die KV, und die sitzen dann praktisch auf diesem dicken Geldsack und
       haben die Macht des Verteilens. Und ums Verteilen geht der ganze Hickhack!
       
       Was darüber aber vergessen wird, ist der Patient, der Beitragszahler. Und
       darum geht’s. Deshalb heißt auch mein neues Buch: ’Geldmaschine
       Kassenpatient.‘ Der ist nämlich die sprudelnde Quelle, er zahlt ein ins
       Solidarsystem. ’Einer für alle, alle für einen.‘ Aber wir müssen uns mal
       fragen, funktioniert das überhaupt noch? Ich sage, wir haben kein
       Solidarsystem mehr!
       
       Der Staat bedient sich bei unseren Beiträgen und verwendet das Geld für
       andere Zwecke. Aus diesem Topf bedienen sich mittlerweile alle, nur der
       Patient bleibt übrig und steht da als Depp! Wenn er krank ist, muss er sich
       entschuldigen, dass er was braucht und Kosten verursacht. Er wird nur so
       lang gut bedient, solang aus seiner Krankheit Geld zu ziehen ist.
       
       Und das wird immer knapper, wenn einer krank ist, dazu kommt dann noch eine
       Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf Arzneimittel, die sackt der
       Finanzminister ein – auf Katzenfutter sind’s nur 7 Prozent. In keinem
       anderen Land der Welt ist die Umsatzsteuer auf Arzneimittel dermaßen hoch!
       Aber ich soll’s Maul halten und zahlen. Ich finanziere meinen eigenen
       Untergang als Patient. Die Kassenpatienten sind die rechtlosen Financiers
       dieses Systems, das Melkvieh! Und die Ärzte haben damit kein Problem,
       solang sie ihre Kohle kriegen. Lieber biedern sie sich an, zum Beispiel bei
       ihrer KV.
       
       ## Die Kontrolle bleibt aus
       
       Es gibt 17 Landes-KVen und eine Bundes-KV. Und die verschlingen schon mal
       einen Batzen für ihre eigene Bürokratie, und üppig ist natürlich auch die
       Ausstattung für die Kassenarzt-Funktionäre. Die KV ist ein
       Selbstbedienungsladen, dabei ist sie doch eine Körperschaft öffentlichen
       Rechts und nur Treuhänder unserer Gelder. Aber das interessiert die nicht,
       die Geldpipeline wird an uns vorbeigeleitet. Ungeprüft!
       
       Die Aufsichtsbehörde ist die Politik, also die Sozial- und
       Gesundheitsministerien des jeweiligen Bundeslandes. Aber eine Kontrolle
       findet überhaupt nicht statt! Da wird gewirtschaftet nach Gutsherrenart,
       und die Ärzte starren nur darauf, wie wird verteilt, welche Berufsgruppe
       kriegt zu viel, welche zu wenig! Doch alle sind sich darin einig, es ist
       nie genug!“
       
       Ein Hausarzt verdient im Monat netto um die 8.000 Euro. Pro
       Patientenkontakt wendet er im Durchschnitt 7,8 Minuten auf. Deutschland
       wendet im internationalen Vergleich am wenigsten Zeit auf für die Zuwendung
       des Arztes zum Patienten!
       
       „Und Achtung, jetzt werd ich aggressiv! Die Kassenärzte lassen sich mit ein
       paar finanziellen Anreizen ruhigstellen und liefern dafür uns Patienten
       gnadenlos ans Messer. Ohne mit der Wimper zu zucken, oder auch weil sie zu
       blöd sind, einen Vertrag richtig zu lesen, unterschreiben sie ihn und
       verpflichten sich, nach dem Sozialgesetzbuch V zu arbeiten. Das heißt dann
       im Klartext, dass sie an uns die so genannte WANZ-MEDIZIN vollziehen.
       
       ## Es droht die Insolvenz
       
       Das Sozialgesetzbuch V regelt, auf welchem Niveau die medizinische
       Behandlung von Kassenpatienten zu erfolgen hat. Sie muss ’WIRTSCHAFTLICH,
       AUSREICHEND, NOTWENDIG und ZWECKMÄSSIG‘ sein. Das klingt auf den ersten
       Blick sogar vernünftig, nur, wer definiert das? Der Arzt jedenfalls nicht!
       Er bekommt ein Budget vorgeschrieben, und bei dessen Überschreitung drohen
       ihm Regress und Insolvenz im schlimmsten Fall!
       
       Dazu verpflichten sie sich, das ist bindend, das wird überprüft! Und dafür
       bekommen sie dann ihre Abschlagzahlungen monatlich, wie ein Gehalt, und ein
       halbes Jahr später ihre Abrechnung. Damit sind sie zufrieden, und mit
       Schnäppchen, wie den IGe-Leistungen, privat zu bezahlenden ’individuellen
       Gesundheitsleistungen‘, die der kommerzfreudige Mediziner dem
       Kassenpatienten anbieten darf, egal ob sie zweckmäßig oder notwenig sind.
       
       Das ist nicht das Bild, das ich mir von einem Arzt mache. Ich will nicht,
       dass der Arzt meines Vertrauens sich vorschreiben lässt, was und wie viel
       er mir als Kassenpatient verordnen darf, und dass sich die Medizin nach
       Vorgaben zu richten hat, statt selbst zu bestimmen, wie die Behandlung sein
       muss. Die WANZ-Medizin gehört verfassungsmäßig schon längst auf den
       Prüfstand!
       
       Sie wirkt sich besonders schädlich ausgerechnet auf diejenigen aus, die die
       Schwächsten sind. Auf die Behinderten. Sie werden für den Arzt zum Problem,
       bedrohen sein Budget, seine Existenz. Es gibt zahllose Behinderte, die
       monatelang um die Bewilligung notwendiger Hilfsmittel kämpfen müssen, oder
       sich, weil nur das Billigste verordnet wird, zum Beispiel mit unbrauchbaren
       Inkontinenzvorlagen behelfen müssen, die zum Wundsein führen, zu
       Verunreinigungen von Wäsche und Bett usf. Es gibt massenhaft Beispiele über
       die Auswirkungen auf die Betroffenen. Ich kann Ihnen später noch
       Geschichten dazu erzählen.
       
       ## Unbrauchbare Hilfsmittel
       
       Also, je mehr ich erfahren habe, umso mehr hatte ich das Gefühl, das kann
       doch nicht wahr sein, ich platze, mein Hirn platzt! Ich musste das
       aufschreiben, und so ist das erste Buch ’Der verkaufte Patient‘ entstanden.
       Ich wollte nur eins: der ganze Skandal muss unter die Leute! Da dachte ich
       immer noch, die armen Ärzte, wir müssen was für die tun, damit sie wieder
       richtige Ärzte sein können.
       
       Dann hab ich zu meinem Mann gesagt, okay, wir mieten das Olympiastadion,
       ich will eine große Aufklärungsveranstaltung machen. 30.000 Plätze haben
       wir gemietet und gehofft, dass so viel Karten dann auch weggehen. Es war
       eine gigantische Summe zu zahlen, wenn es in die Hose gegangen wäre, dann
       hätte es geknallt bei uns! Ich hab mir dann die Unterstützung der
       bayerischen Hausärzte gesichert. Sie haben’s in ihren Praxen bekannt
       gemacht, und am Ende war es so, dass jeder einen Bus mit seinen Patienten
       vollgemacht hat, so dass am 7. Juni 2008 dann tatsächlich 28.000 Menschen
       ins Olympiastadion gekommen sind!
       
       Es war sogar berittene Polizei da, ich fühlte mich wie in den 70ern. Aber
       es war eine großartige Veranstaltung mit vielen Reden und viel Applaus. Es
       waren auch Medien da, der Bayerische Rundfunk hat gefilmt, aber sie werden
       es nicht glauben, nichts wurde berichtet hinterher! Kein Sterbenswörtlein.
       Auch nicht von der Presse.
       
       Als Einzige hat eine Zeitung aus Südtirol darüber berichtet. Und ich hab am
       13. September 2009 noch mal so eine Veranstaltung im Olympiastadion
       gemacht, wieder mit den Ärzten, und darüber wurde dann für eine Minute in
       der „Tagesschau“ berichtet. Na, da war’s mir klar, da hab ich dann
       endgültig gewusst, ich bin hier irgendwo, wo niemand will, dass das
       durchsickert und dass die breite Öffentlichkeit erfährt, wie man sie
       verarscht.
       
       ## Ein Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten
       
       Damals ist auch die Bürgerinitiative Schulterschluss e. V entstanden –
       inzwischen sind es fast 700 Bürgertreffs bundesweit – es sollte ein
       Schulterschluss zwischen Ärzten und Patienten sein. Und dann ruft mich ein
       Funktionär an und sagt: ’Es hat geklappt! Das haben wir erreicht durchs
       Olympiastadion.‘ Was geklappt hatte, war Folgendes: Sie bekamen ihren
       ’Hausarztvertrag‘, sprich, mehr Geld. Statt circa 40 Euro
       ’Regelleistungsvolumen‘, bekamen sie jetzt 84 Euro für jeden Patienten, der
       sich in den Hausarztvertrag einschreibt.
       
       Lockmittel war der Erlass der Praxisgebühr durch die Kasse – das war
       übrigens auch noch so eine Schweinerei der AOK, die quasi mit diesem
       Versprechen massenhaft neue, übergewechselte Mitglieder in ihre Kasse
       gezogen hatte. Und ein Jahr später hat sie alles wieder rückgängig gemacht!
       Jedenfalls, es kam dann sofort eine Flut von Ärzten zu unseren
       Bürgerstammtischen in Bayern, die haben Zettel verteilt und gesagt:
       EINSCHREIBEN, EINSCHREIBEN!
       
       Und als sich dann wahnsinnig viele Patienten eingeschrieben hatten, war
       plötzlich die Ärzteschaft nicht mehr zu sehen, nicht mehr interessiert an
       Aufklärung, an Vorträgen, Bürgerstammtisch und Schulterschluss. Sie waren
       die Profiteure und damit genug! Sie haben unsere Plakate abgehängt in ihrer
       Praxis und waren lammfromm.
       
       Ich konnte das anfangs gar nicht glauben, dass die Ärztefunktionäre mich
       und die Patienten nur für ihre Zwecke benutzt haben. Sie haben mich vorn
       hingestellt als Patientenvertreterin und gesagt, mach mal. Und ich habe
       gemacht. In meiner idealistischen Verblendung konnte ich leider nicht
       erkennen, dass sie die Sache einfach umgedreht hatten, damit für sie eine
       Geldquelle daraus wird. Die Ärzte klammern sich völlig abartig ans Geld!
       Aber sie haben mich nicht umsonst reingelegt, das zahl ich denen heim!
       
       ## Sechs Jahre in der Schlangengrube
       
       Ich sag Ihnen, ich habe in eine Schlangengrube geblickt. Ich konnte erst
       die Schlangen überhaupt nicht erkennen. Dann bin ich reingestiegen in die
       Grube, und was ich da gesehen habe, ist mir vollkommen fremd gewesen.
       Inzwischen bin ich sechs Jahre in der Schlangengrube, ich kann genau die
       Formen und Muster der einzelnen Schlangen erkennen.
       
       Es gibt kleinkarierte, das sind die ’Niedergelassenen‘, die verziehen sich
       gleich in ihre Ecke. Und dann gibt’s ein paar dicke, und dann gibt’s eine
       ganz fette, das ist die Würgeschlange. Und alle warten sie auf Beute. Aber
       ich lasse mich nicht erschrecken!“ Sie lacht. „Ich gehe gern mit Metaphern
       um. Die Beute, das sind immer wir Beitragszahler, wir Patienten. Ein
       schönes Beispiel ist auch die Gesundheitskarte.“
       
       Die Spitzenverbände des Gesundheitswesens beschlossen 2002 ein gemeinsames
       Vorgehen zur Einführung einer Chipkarte, ’Gesundheitskarte‘ genannt. 2003
       von der rot-grünen Regierung beschlossen. Es wurde sogar eigens das
       Unternehmen Gematik gegründet zur Realisierung. Die Kosten werden
       größtenteils aus Versichertengeldern bezahlt und sollten ursprünglich mal
       1,6 Milliarden Euro betragen. Die Einführung der Karte sollte ursprünglich
       2006 sein, verschob sich aber laufend. Inzwischen weiß keiner, wie hoch die
       Kosten sind. Der abgelöste Gematik-Sprecher vermutet Gesamtkosten von 14,1
       Milliarden Euro oder mehr.
       
       ## Wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus!
       
       „Ich sag Ihnen, an der elektronischen Gesundheitskarte habe ich drei Jahre
       lang gearbeitet, hab recherchiert und rumgefragt. Da werden Milliarden
       verbraten! Und diese Milliarden, die helfen der IT-Industrie, uns zum
       ’gläsernen Patienten‘ zu machen. Wir werden ausgeliefert und verkauft,
       denjenigen, die an uns Geld verdienen wollen. Besonders der
       Pharmaindustrie. Die Politik lässt sich willig vorschreiben, was sie machen
       soll.
       
       Und dann heißt es plötzlich, wir brauchen diese Karte, Punkt, Ende, aus!
       Sie dient nur eurem Wohl und vermeidet Fehlbehandlungen. Es geht aber nicht
       um unser Wohl, sondern um das der mächtigen Interessenten. Man muss sich
       nur mal angucken, wer in dieser Gematik neben der IT-Industrie noch so
       alles drinsitzt.
       
       Da sitzen die ganzen Spitzenverbände drin, die Kassenärztliche
       Bundesvereinigung, die Bundes-Ärztekammer, die gesetzlichen Krankenkassen
       und die privaten, die deutsche Krankenhausgesellschaft, der deutsche
       Apothekerverband, hab ich alle … Ach, und es gibt auch noch einen Beirat,
       in dem ein verlorenes Häufchen von Patienteninteressenvertretern sitzt. Das
       sagt wohl alles. Klar, wem diese elektronische Gesundheitskarte nutzt. Uns
       Patienten jedenfalls nicht.
       
       Und die ziehen es in die Länge, damit es für uns noch teurer wird, auch
       weil sie ein totales technisches Chaos haben. Und obwohl oder auch weil es
       eine breite Bewegung gegen die Einführung der Gesundheitskarte gibt – der
       Großteil der Bevölkerung ist dagegen –, macht die Politik jetzt Druck. Sie
       sagt, Freunde, wir haben nächstes Jahr Wahl, die Gesundheitskarte und die
       Kosten dafür könnten uns auf die Füße fallen, wir müssen gucken, wie wir
       das so schnell wie möglich abschließen.
       
       ## Erpressermethoden wie bei der Mafia
       
       Also, wenn ihr Kassen nicht bis Jahresende 70 Prozent eurer Versicherten
       mit dieser Gesundheitskarte ausgerüstet habt, also mit dieser neuen
       Technik, mit Bild und allem Drum und Dran, dann gibt’s Sanktionen!
       Finanzielle Kürzungen! Man arbeitet nämlich hier in diesem System mit
       Erpressermethoden wie bei der Mafia. Und die Patienten werden dann wiederum
       von ihrer Kasse erpresst.
       
       Die sagt ihnen: Wenn ihr die Karte ablehnt und kein Bild schickt, dann seid
       ihr demnächst nicht mehr versichert, auch nicht, wenn auf eurer alten Karte
       bis 2017 steht, die ist nämlich ungültig. Oder sie versuchen die Leute zu
       ködern, mit einem Scheißgutschein über 8 Euro, für die Bilder. Und es ist
       zum Heulen, ein Teil der Kassenpatientengesellschaft lässt sich durch
       solche Schnäppchen gängeln.
       
       Dabei gibt es viele Möglichkeiten der Verweigerung bis hin zum
       Widerspruchsverfahren, mit Klage vor dem Sozialgericht, oder zum Beispiel
       auch die Absicherung durch unsere Schutzerklärung, die wir vom
       Bürger-Schulterschluss zusammen mit unseren Anwälten entwickelt haben – die
       ist auch auf unserer Website. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen!
       
       ## Man kann sich verweigern
       
       Und darum geht es mir! Ich wollte und ich will, dass Transparenz in das
       ganze Gesundheitssystem kommt. In solche Großprojekte wie das der
       Gesundheitskarte und in die geheimen Umbaupläne. Denn ich will nicht, dass
       die ganzen Privaten mit ihren Aktiengesellschaften unser gesamtes
       Gesundheitssystem aufkaufen, Rhön AG, Helios, Vivantes und wie sie alle
       heißen.
       
       Ich will nicht, dass es nur noch medizinische Versorgungszentren gibt,
       durch die wir alle durchgeschleust werden, damit wir denen gewinnbringend
       die Betten füllen. Ich will, dass jeder bestmöglich versorgt wird, der
       krank ist in dieser Republik, und dass damit ein Vertrauensverhältnis
       zwischen Patient und Arzt endlich wieder möglich wird. Das alles ist für
       mich ein elementares Grundrecht, und das wird gerade ausgehebelt.“
       
       ## Im November erscheint der zweite Teil von Frau Hartwigs Bericht über das
       Gesundheitswesen.
       
       31 Oct 2012
       
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