# taz.de -- UN-Resettlement-Programm: Flüchtling erster Klasse
       
       > Emanuel Sebatutsi Gatoni saß nach dem Libyenkrieg mit Tausenden
       > Afrikanern in einem Lager in Tunesien fest. Nun darf er ein neues Leben
       > beginnen – in Europa.
       
 (IMG) Bild: „Ich muss auch die neue Kultur lernen.“ Emanuel Sebatutsi Gatoni im Speisesaal des Übergangslagers Friedland.
       
       RAS AJDIR/FRIEDLAND/BERLIN taz | Die Hitze duldet nichts neben sich, sie
       vertreibt jeden Gedanken an etwas anderes. Es ist acht Uhr früh an diesem
       Julimorgen, und der Körper klebt. Ein Plastiktisch, ein Teppich, eine
       Matratze; seit 494 Tagen lebt Emanuel Sebatutsi Gatoni im UN-Wüstenlager
       Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze.
       
       Gatoni ist 40 Jahre alt, ausgebildeter Ökonom und stammt aus dem Ostkongo.
       Im Juni 2012 hatte er das erste Mal Besuch aus Deutschland. Drei Beamte des
       Nürnberger Bundesamtes für Flucht und Migration (BAMF) riefen den schmalen,
       hochgewachsenen Mann in ein Zelt. „Wo kommst du her? Was hast du gelernt?“,
       fragen sie. Gatoni berichtet: Dass er 2007 aus dem Kongo geflohen ist. Dass
       seine Frau im Krieg starb. Dass er seine Kinder in Ruanda lassen musste.
       Stationen einer Flucht, die über Darfur nach Libyen führte, wo er als
       Englischlehrer arbeitete, bis auch dort der Krieg ausbrach.
       
       Am Ende des Interviews geben ihm die Deutschen eine Liste, auf der 150
       internationale Terrorgruppen stehen. „Ich sollte ankreuzen, ob ich schon
       mal mit einer von ihnen zu tun hatte.“ Gatoni macht 150 Kreuze bei „Nein“.
       
       Rund 700.000 Menschen sind in den ersten Wochen des Aufstands gegen
       Exdiktator Gaddafi über den Grenzübergang Ras Ajdir nach Tunesien geflohen,
       Hilfsorganisationen hatten dort das Lager Choucha errichtet. Verwundete
       wurden dort behandelt, viele Flüchtlinge in ihre Heimatländer ausgeflogen.
       
       ## Bodensatz des Arabischen Frühlings
       
       Übrig blieben die Menschen aus Krisenregionen wie Darfur, Somalia oder
       Kongo. Ihre Länder gelten als zu gefährlich für eine Rückkehr. Tunesien
       will sie nicht, nach Libyen können sie nicht: „Die Lage für Schwarze ist
       dort sehr gefährlich“, sagt Gatoni. Sie gelten entweder als Exsöldner
       Gaddafis oder als „Illegale“. Und so blieben über 4.000 von ihnen in
       Choucha zurück, wie ein Bodensatz des Arabischen Frühlings.
       
       „Aber hier gibt es nichts für uns, wir müssen weg von hier“, sagt Gatoni.
       Per Interview prüft der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten
       Nationen, ob es sich bei den Flüchtlingen um „Persons of Concern“, um
       menschenrechtliche Sorgenfälle gemäß der Genfer Konvention, handelt.
       Hunderte werden abgelehnt, Menschen aus Ländern wie Tschad, Sudan, Mali
       oder Liberia.
       
       Die übrigen versucht der UNHCR über sein Resettlement genanntes
       Umsiedlungsprogramm in Europa, den USA oder Kanada unterzubringen. Die
       Zusagen kommen schleppend. Im Herbst 2011 hatten die deutschen
       Innenminister entschieden, 195 Menschen aus Choucha aufzunehmen. Der UNHCR
       schickt eine Liste mit doppelt so vielen Namen nach Nürnberg. Die Deutschen
       sollen die Wahl haben.
       
       An der Straße fahren Autos vorbei, Insassen imitieren Affengeräusche und
       gestikulieren durch die offenen Fenster. Vor einem Jahr hat ein Mob von
       Tunesiern das Lager angegriffen. Sie brannten 400 Zelte nieder, acht
       Flüchtlinge starben. Unter den wenigen Eukalyptusbäumen am Straßenrand
       sitzt eine Gruppe junger Eritreer. Die Entsalzungsanlage ist ausgefallen,
       es gibt nur noch rationiertes Trinkwasser, klagen sie. Einer der Männer
       steckt sich einige Blätter Khat in den Mund, eine Kaudroge. „Anfangs gab es
       ein richtiges Krankenhaus“, sagt er. „Jetzt kriegen wir nur noch
       Tabletten.“ Eine Gruppe somalischer Frauen kommt hinzu, ihre Haut ist mit
       Henna bemalt. „Die Hitze ist sehr gefährlich“, erklärt eine Frau. „Es gibt
       Schlangen, die Menschen kippen um. Wir wollen an einen Ort, der nicht wie
       Somalia ist.“
       
       Die angereisten Beamten der Aufnahmeländer interviewen Hunderte
       Flüchtlinge. „Niemand weiß, wie sie entscheiden, wer von uns rausdarf“,
       sagt Gatoni. Nur eins ist klar: Am Ende werden nicht alle das Ticket in ein
       sicheres Leben erhalten.
       
       ## Currywurst mit Reis
       
       Grenzdurchgangslager Friedland, Niedersachsen, Anfang September. In der
       Kantine gibt es Currywurst mit Reis und Gurkensalat. Die Flüchtlinge sitzen
       an langen Tischen, ein Somali will wissen, ob die Wurst vom Schwein ist.
       Der Wachmann winkt ab. Nur Geflügel. „Choucha war die Hölle“, sagt Gatoni.
       „Deutschland hatte ich mir wie das Paradies vorgestellt, auch wenn ich
       nicht genau wusste, wie das Paradies aussieht.“
       
       Im August hatten die UN-Mitarbeiter in Choucha die Flüchtlinge
       zusammengerufen, die von den deutschen BAMF-Beamten befragt worden waren.
       „Wir saßen vor ihrem Zelt, dann haben sie uns vorgelesen, wer ausgewählt
       ist.“ Gatoni ist dabei, es ist das große Los. Denn Resettelte sind
       Flüchtlinge erster Klasse: Im Gegensatz zu regulären Asylbewebern genießen
       sie in Deutschland sofortige Reisefreiheit ohne Residenzpflicht, haben
       keinen verminderten Sozialleistungssatz, dürfen arbeiten, studieren, ihre
       Familie nachholen und müssen nicht im Lager leben.
       
       Die UN bucht einen Sonderflug, der deutsche Botschafter in Tunis kommt zum
       Flughafen von Djerba und überreicht die Einreisepapiere. In Hannover
       begrüßt sie Niedersachsens CDU-Innenminister Uwe Schünemann.
       
       In Friedland bekommen sie 20 Euro Willkommensgeld, einen Beutel mit Seife
       und Zahnbürste und einen Platz in einem Zweibettzimmer. Die anderen bleiben
       in der Wüste zurück.
       
       ## Straßen sind gefährliche Räume
       
       Am Morgen hatte Gatoni Deutschunterricht, nach dem Essen beginnt in
       Friedland der „Wegweiser für Deutschland“-Kurs. Ein junger Araber
       übersetzt, der evangelische Lagerpastor spricht vor elf Flüchtlingen aus
       Choucha über „Mobilität“: „Wir können nicht einfach auf eine große Straße
       laufen“, sagt er, „Straßen sind gefährliche Räume.“ Die Flüchtlinge nicken,
       Gatoni schreibt mit. Einer der Flüchtlinge hat vom Wochenendticket gehört
       und fragt, was das ist, Gatoni notiert auch dies. Bald werden sie über
       Deutschland verteilt: Aachen, Salzwedel, Bremen, Berlin. Der Pastor zeigt
       ihnen die Städte auf einer Karte. „In den Bahnhöfen werden Sie Polizisten
       sehen. Haben Sie keine Angst. In manchen Ländern sind Uniformierte korrupt,
       hier sind sie dazu da, uns zu helfen.“
       
       Später beklagt Gatoni, dass es kein Internet gibt und er nicht weiß, wie er
       an eine deutsche SIM-Karte kommt. Sonst ist er zufrieden. Bis auf das
       schlechte Gewissen. „Wir hatten so viel Glück“, sagt er. „Für die anderen,
       die noch in Choucha sind, ist es schlimm.“ Doch er weiß nicht, wie er ihnen
       helfen könnte.
       
       Gatoni schaut aus dem Fenster, draußen ist das Weserbergland zu sehen.
       „Hier ist alles anders. Die Hügel, die Bäume, die Äcker, die sind so
       sauber. Nur der Wald sieht irgendwie so aus wie in Ruanda.“ Er fühle sich
       hier sicher. „Ich darf mit jedem reden, ich kann tun, was ich will.“ Er
       möchte seine Kinder nach Deutschland holen.
       
       ## Alles hat ein Gesetz, das Leben besteht aus Gesetzen
       
       Flüchtlingsheim Marienfelde, Berlin, im November. Die blaue Mappe fasst die
       Papiere kaum. Die Meldebescheinigung vom Amt für Bürgerdienste, der
       ALG-II-Antrag vom Jobcenter Schöneberg, die „Eingliederungsvereinbarung“
       für den Arbeitsmarkt, die Bestätigung der Bestellung des elektronischen
       Aufenthaltstitels, die Erklärung zum Abzug der Energiepauschale, die
       Steueridentifikationsnummer, das Begrüßungsschreiben der AOK.
       
       „Alles hat ein Gesetz. Hier besteht das Leben aus Gesetzen“, sagt Gatoni,
       während er die Papiere herausholt und auf dem Tisch ausbreitet. Das gefällt
       ihm. „Sie sagen: Das dauert zwei Tage, und es dauert zwei Tage. Sie sagen,
       es dauert einen Monat, und es dauert einen Monat.“
       
       Weil Gatoni Bekannte in Berlin hat, hat er das BAMF gebeten,
       hierhergeschickt zu werden. Gatoni geht zu seinem Kleiderschrank und holt
       eine blaue Winterjacke hervor. Ein Sozialarbeiter ist mit ihm zu einem
       Secondhandladen gefahren. Den Rest seines Kleidergeldes hat er nach Ruanda
       geschickt. „Ich bin seit sechs Jahren ohne meine Familie. Jetzt wollen sie
       Geld.“ Fürs Erste ist es das Einzige, was er für seine Familie tun kann:
       Seine beiden volljährigen Kinder darf er nicht nach Deutschland holen, und
       die minderjährigen nur dann, wenn sein Einkommen für alle reicht. Das wird
       dauern.
       
       ## Die neue Kultur lernen
       
       Im November ist Gatoni nach Nürnberg gereist, wo der UNHCR eine Konferenz
       über Resettlement abhielt. „Ich habe gesagt, dass sie auch die anderen
       Flüchtlinge aus Choucha rausholen müssen.“ Genutzt hat es nichts: Der UNHCR
       wird das Lager bald schließen.
       
       Die nächsten Monate wird Gatoni in dem Heim in Marienfelde leben, er teilt
       sich ein Zimmer mit einem Eritreer. „Wir müssen uns selbst eine Wohnung
       suchen, aber wir können ja noch kein Deutsch.“ Überhaupt die Sprache. „Es
       gibt hier alles, aber das Einkaufen ist schwierig“, sagt er. „Salz und
       Zucker“, seine weiche Stimme wird hart, wenn er Deutsch spricht. Die
       Sprache allein ist es nicht: „Ich muss auch die neue Kultur lernen. Bei uns
       redet man auf der Straße einfach so miteinander, man fragt jeden nach allem
       Möglichen. Hier sind die Leute sehr für sich.“
       
       Ganz angekommen in seinem neuen Leben ist er noch nicht. „Das sind zwei
       Welten“, sagt Gatoni, und die Bilder aus der anderen Welt lassen ihn nicht
       los. „Kongo, Darfur, Libyen, Choucha, wie sie kamen und die Menschen wie
       Tiere getötet haben, ich fühle das die ganze Zeit.“ In den Kriegen, durch
       die er gezogen ist, „hat man kein Morgen gesehen“, sagt Gatoni. „Hier gibt
       es wieder eine Zukunft.“
       
       17 Jan 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
 (DIR) UN
 (DIR) UNHCR
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Libyen
 (DIR) Kongo
 (DIR) Migration
 (DIR) Somalia
 (DIR) Somalia
 (DIR) Tunesien
 (DIR) Asyl
 (DIR) Australien
 (DIR) Flüchtlinge
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Regisseurin über Migration aus Afrika: „In der Warteschleife vor Europa“
       
       Regisseurin Miriam Faßbender begleitete zwei Männer aus Mali auf dem Weg
       nach Europa. Ihr Dokumentarfilm „Fremd“ läuft nun im Kino.
       
 (DIR) Flüchtlinge in Somalia: Misshandlung statt Zuflucht
       
       Flüchtlinge werden in Mogadischu häufig misshandelt und vergewaltigt, heißt
       es in einem Bericht von Human Rights Watch. Die Lagerleiter missbrauchten
       ihre Macht.
       
 (DIR) EU trainiert somalische Armee: Häuserkampf im Busch
       
       „Vormachen ist wichtiger als lange erklären“, sagt Andreas Dell. Der
       Bundeswehroffizier bildet in Uganda somalische Rekruten aus.
       
 (DIR) Protestaktion in Tunesien: Flüchtlinge belagern UN-Büro in Tunis
       
       Seit dem Libyen-Krieg sitzen hunderte Afrikaner in der Wüste fest. Der
       UNHCR will sie nicht als Flüchtlinge anerkennen. In Tunesien sollen sie
       nicht bleiben.
       
 (DIR) Neue EU-Richtlinie zu Asylsuchenden: Flüchtlinge landen hinter Gittern
       
       Eine geplante Aufnahmerichtlinie der EU erleichtert es, Asylbewerber zu
       inhaftieren. Auch Deutschland will sie in Brüssel jetzt durchwinken.
       
 (DIR) Flüchtlingspolitik in Australien: Einwanderer zweiter Klasse
       
       Australien gilt als Einwanderungsland. Doch wer mit dem Boot den fünften
       Kontinent ansteuert, landet im Flüchtlingslager – auf unbestimmte Zeit.
       
 (DIR) Syrische Flüchtlinge im Libanon: Die Kinder bleiben unter sich
       
       80 Prozent der syrischen Flüchtlingskinder gehen nicht zur Schule. Oft
       fehlt das Geld für Schulbücher oder Platz an der Schule. Manchmal werden
       sie gemobbt.
       
 (DIR) Residenzpflicht: Wegezoll ohne Rechtsgrundlage
       
       Zum ersten Mal hat ein Flüchtling protestiert, das Innenministerium gab ihm
       nun Recht. Dass Niedersachsens Ausländerbehörden Gebühren für
       "Reiseerlaubnisse" verlangen, war demnach nicht zulässig.