# taz.de -- Regisseur über Schweizer Volksentscheid: „Zu 80 Prozent gegen die Deutschen“
       
       > Theatermacher Milo Rau erklärt, die Linken haben den „Opferdiskurs“
       > abgegeben. Davon profitieren die Rechten und ihr identitäres Projekt.
       
 (IMG) Bild: Volkssport Schwingen: „In der Schweiz fürchten sehr viele, die kulturelle Hegemonie zu verlieren.“
       
       taz: Herr Rau, nach dem Votum „Gegen die Masseneinwanderung“ ist jetzt viel
       davon die Rede, die Schweizer hätten Angst, sie fühlten sich bedroht. Ist
       dieser gefühlige Zugang richtig beim Thema Fremdenfeindlichkeit und
       Rassismus? 
       
       Milo Rau: Es geht nicht um Rassismus; Biologismus spielte bei der Debatte
       nur eine marginale Rolle. Es geht um Besitzstandswahrung. Das Votum richtet
       sich zu 80 Prozent gegen die hoch qualifizierten Deutschen, die im Land
       sind. In der Schweiz fürchten sehr viele, die kulturelle Hegemonie zu
       verlieren.
       
       Aber wie kann man angesichts des gesicherten Schweizer Wohlstands und eines
       exzellenten Bildungssystems denn Angst haben vor kultureller Überfremdung? 
       
       Ein Grund dafür liegt in der Schweizer Geschichte. Über bilaterale Verträge
       hinaus hat dieses Land es nie in Betracht gezogen, zu Europa zu gehören.
       Als man 1992 versuchte, die Schweizer davon zu überzeugen, dem Europäischen
       Wirtschaftsraum beizutreten, begann der Aufstieg der SVP. Der Beitritt
       wurde mit einer knappen Mehrheit abgelehnt. Die Situationen damals und
       heute ähneln sich sehr: Die Schweiz ist jetzt wieder am selben Punkt wie
       vor zwanzig Jahren.
       
       Wie erklären Sie sich diesen Rückschritt oder Stillstand? 
       
       Das hat auch damit zu tun, mit welchen Argumenten die Liberalen oder Linken
       für die Freizügigkeit und gegen Fremdenfeindlichkeit werben. Die Linken
       haben sich in weiten Teilen auf einen technokratisch-juristischen Diskurs
       zurückgezogen. Sie reden von Menschenrechten und verweisen auf Den Haag und
       natürlich auf wirtschaftliche Vorteile. Das Feld der Emotionen und der
       Symbole aber überlassen sie den Rechten.
       
       Was ist schlimm daran? 
       
       Es führt dazu, dass diese sich als Underdogs fühlen und inszenieren können:
       „Man wird ja wenigstens noch mal sagen dürfen …!“ Da die Linken sich den
       Opferdiskurs haben entwenden lassen, ist eine verzerrte Darstellung von
       realen Machtverhältnissen relativ einfach geworden.
       
       Was wäre die Alternative gewesen? 
       
       Im jetzigen Fall: zum Beispiel der Hinweis auf die extreme Offenheit der
       Schweiz in der Vergangenheit. Die Schweizer Fremdenfeindlichkeit ist eine
       junge Entwicklung, sie begann nach Ende des Kalten Krieges und mit Beginn
       des Neoliberalismus. Die Geschichte des liberalen Humanismus ist viel
       älter. Auf diese Ideen hätte man viel stärker Bezug nehmen können. Auch
       1992 wurde das versäumt. Auch damals argumentierte man nur, dass es der
       Schweiz schlechter gehen würde, träte sie nicht der EU bei. Das Gegenteil
       war der Fall: Seit den 1990er Jahren geht es der Schweiz immer besser.
       
       Auch jetzt argumentieren Wirtschaftsvertreter so. 
       
       Sehen Sie sich nur TV-Clips an, die von einigen Unternehmen geschaltet
       wurden. Da werden Ausländer, die gut tanzen können, in einer Disco gezeigt,
       und dann heißt es: Wenn die nicht mehr da sind, haben wir weniger Spaß und
       weniger Geld. Ich wurde in letzter Zeit oft von Unternehmern eingeladen, um
       ein Statement für Einwanderung abzugeben. In gewisser Weise wurde ich zum
       porte-parole des internationalen Kapitalismus, also auch von zum Teil
       antidemokratischen Kräften. Das war mir natürlich unangenehm, und das ging
       vielen so.
       
       Die Ablehnung von Europa und einer seiner Kernideen, der Freizügigkeit, ist
       kein Schweizer Problem, sondern ein europäisches. 
       
       Ja, die Schweiz ist zu einer Art Meinungsforschungsinstitut der
       europäischen Rechten geworden. Ich arbeite viel in Frankreich und Belgien.
       Dort können die Rechten mehr oder weniger an die Mitte der Gesellschaft
       andocken, siehe die Bewegung gegen die Homo-Ehe. Zivilisation war schon
       immer ein Kampf gegen den gesunden Menschenverstand, und auch
       Fremdenfeindlichkeit ist ein Ausfluss des ganz normalen Geisteszustands.
       Leider. Die Nationalisten heute sind nicht mehr diese irren Antisemiten und
       Islamhysteriker, die man noch vor 15 Jahren gekannt hat.
       
       Warum ist das linke Milieu auf diese Entwicklung so wenig vorbereitet? 
       
       Weil es so schwierig ist, ein positives Wertesystem in Bezug auf Europa zu
       entwickeln. Die Rechte hat den identitären Diskurs besetzt. Das ist klar.
       Den Linken bleibt nur die Kritik daran. Aber was wären die positiven
       Schlagworte des „großen linken europäischen Experiments“? Darauf müssen wir
       Antworten finden. Wir müssen emotionale Begriffe dafür finden, dass es
       sinnvoll ist, Konflikte kollektiv lösen zu wollen, immer wieder und immer
       wieder von vorne.
       
       14 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ines Kappert
       
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