# taz.de -- Lordes neues Album „Virgin“: Röntgenstrahlen der Liebe
> „Virgin“ heißt das neue Album von Lorde. In dessen 1.000 Mal hörbaren
> Songs hat sich der neuseeländische Popstar den Frust von der Seele
> geschrieben.
(IMG) Bild: Bei ihr ist Pop pure Kunstform: die neuseeländische Musikerin Lorde
Das Cover des neuen Albums „Virgin“ des Popstars Lorde, es ist wirklich
ungewöhnlich. Zu sehen gibt es ein blau getöntes Röntgenbild, es zeigt den
Unterleib der 29-Jährigen inklusive ihrer Spirale sowie ihres Knochenbaus.
Hat diese Durchleuchtung etwa einen medizinischen Grund? Falls nicht, was
ist der Symbolcharakter des Coverfotos?
Die Antwort liefert die in New York lebende neuseeländische Künstlerin in
Form ihrer neuen Songs, die gehen nämlich unter die Haut. Lorde
interpretiert Popmusik als Kunstform ohne Netz und doppelten Boden. Mit
jedem Lied lässt sie scheinbar noch tiefer in ihr Inneres blicken, Schicht
für Schicht schält sie aus den Texten ein glaubwürdiges Wesen heraus.
Bereits im Auftaktsong „Hammer“ spricht Lorde eine Art Gleichnis aus: „Some
days, I’m a woman, some days, I’m a man, oh / I might have been born again
/ I’m ready to feel like I don’t have the answers“. Eine Art
Entdeckungsmoment für die Musikerin, geboren im neuseeländischen Takapuna.
Wie eine Sokratikerin gesteht sie sich ein, dass sie im Grunde nichts
Genaues weiß, aber Songs schreiben, das kann sie: Dafür schickt Lorde
metallisch scheppernden Synthesizer ihrem suchenden Ich auf die Spur. Und
so beginnt eine reizvolle Sinnsuche.
Obwohl Lorde sich bisher als weiblich definiert, scheint sie eine
eindeutige Geschlechtszuordnung nicht mehr unbedingt zeitgemäß zu finden.
Sonst hätte sie sich wohl nicht mit getapter Brust bei [1][der diesjährigen
Ausgabe der Met Gala in New York] gezeigt – wie ein trans* Mann.
## Das Maskuline bahnt seinen Weg aus ihr heraus
Obendrein gibt es auf dem neuen Album den aussagestarken Song „Man of The
Year“. „My babe, can’t believe I’ve become someone else / Someone more like
myself“, staunt die Künstlerin im Songtext, als sich das Maskuline zum
ersten Mal seinen Weg aus ihr heraus bahnt. Sie resümiert: „Now I’m broken
open“. Der Songtext wird musikalisch dementsprechend feierlich inszeniert.
Was,wie eine Ballade beginnt, wird schließlich von Synthie-Pop abgelöst.
Die pompöse Musik unterstreicht, dass die Synthese von elektronischen
Klangerzeugern und akustischen Instrumenten bestens funktioniert. Der
kohärente Sound ist Alleinstellungsmerkmal von „Virgin“, er passt perfekt
zu den fast schon intimen Songtexten. Natürlich darf auch ein
Schwangerschaftstest nicht fehlen: In „Clearblue“ heißt es: „After the
ecstasy / Testing for pregnancy“.
Den vielleicht tiefsten [2][Einblick in die Künstlerinnenseele liefert der
Shapeshifter]. Wenn Lorde sich mit ihrer eigenen Sexualität und
irgendwelchen One-Night-Stands beschäftigt, erschreckt man regelrecht, wie
nah sie die Hörer:innen an das Text-Ich heranlässt.
Wer in ihren Song „Favourite Daughter“ eintaucht, kann sich ein Bild davon
machen, dass Lordes Verhältnis zu ihrer Mutter nicht völlig unkompliziert
zu sein scheint. Mit der für sie typischen Direktheit bekennt die Sängerin:
„'Cause I’m an actress, all of the medals I won for ya / Panic attack just
to be your favourite daughter“. Während Lorde ihre seelischen Wunden
offenlegt, galoppieren peitschende Beats in die entgegengesetzte Richtung.
Aus dieser Verschmelzung entsteht ein spannender Kontrast.
## Eine große Portion Schmerz im Finale
Im Finale, „David“, steckt eine große Portion Herzschmerz. „Am I ever gon’
in love again?“, fragt Lorde. Sie erzählt, wie sie von einer anderen Person
dominiert und geformt wurde. Das Ganze kulminiert in der Aussage: „I don’t
belong to anyone, ooh“. In diesen Worten flackert Melancholie, vielleicht
sogar Einsamkeit auf. Genauso könnten sie jedoch als ein Akt der
Selbstermächtigung gelesen werden – nach dem Motto: Ich gehöre niemandem
außer mir selbst.
Auf jeden Fall ist „Virgin“ ein kathartisches Popalbum. In ihren neuen
Liedern hat sich Lorde anscheinend den Frust von der Seele geschrieben. Das
hat ihr bestimmt gut getan und macht möglicherweise auch solchen Fans Mut,
die gerade selbst in einem Transformationsprozess stecken.
Aber auch beim oberflächlichen Hören wirken diese eingängigen Songs wie
eine kalte Brause, die einen erfrischt aus diversen Wechselbädern
herausholt. Lorde landet Wirkungstreffer, indem sie pointierte Texte über
private Krisen liefert. „Virgin“ macht klar, dass sich Lorde künstlerisch
mehr zutraut als zu Beginn ihrer Karriere.
Ihr Debütalbum „Heroine“ (2013) war das Ausrufezeichen einer Teenagerin auf
dem Weg zum Erwachsensein. Nun ist Lorde eine junge Frau mit
Erfahrungsschatz, aus dem sie kreativ schöpft. Ihre Songs klingen berührend
und intensiv. Mit anderen Worten: Pop, den man immer wieder hören kann.
6 Dec 2025
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## AUTOREN
(DIR) Dagmar Leischow
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