# taz.de -- Belarussische Oppositionelle im Porträt: Weiß-rot-weiß ist die Hoffnung
       
       > Swetlana Tichanowskaja kämpft für ein demokratisches Belarus – und
       > fordert, das Land als sicherheitspolitischen Faktor ernst zu nehmen
       
 (IMG) Bild: Immer wieder Belarus ins Gedächtnis rufen: Swetlana Tichanowskaja am Brandenburger Tor im November 2023
       
       Am Handgelenk von Swetlana Tichanowskaja, dort wo der dunkelblaue, förmlich
       anmutende Blazer endet, baumelt ein Plastikbändchen in Weiß-rot-weiß. Also
       in den Farben, die für die Freiheit ihres Heimatlandes, für den Weg von
       Belarus in die EU stehen sollten. Weiß-rot-weiß war die Hoffnung während
       der Proteste der Opposition gegen Dauerdiktator Alexander Lukaschenko im
       Jahr 2020. Die Farbkombination zierte die erste Flagge der unabhängigen
       belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918, ebenso die nach der neuerlichen
       Unabhängigkeit 1991, ehe Lukaschenko die Fahne abschaffte. Trägt man die
       Oppositionsfarben heute in Belarus, drohen Verfolgung und Verhaftung.
       
       Swetlana Tichanowskaja will mit dem Signum am Arm daran erinnern, dass auch
       Belaruss:innen weiter um die Unabhängigkeit von Russland kämpfen, dass
       in den [1][Ukraine-Friedensverhandlungen] auch über die Zukunft ihres
       Landes mitentschieden wird. „Vom Ausgang des Ukrainekriegs hängt das
       Schicksal vieler Nachbarländer Russlands ab, die nach Veränderungen
       streben, sowohl jenes von Belarus als auch das von Staaten wie Moldau,
       Georgien oder Armenien“, sagt sie beim Gespräch in der Lobby eines Hotels
       am Potsdamer Platz in Berlin. [2][Tichanowskaja, belarussische
       Oppositionsführerin], ist gekommen, um unter anderem mit Außenminister
       Johann Wadephul (CDU) über die Ukraine-Verhandlungen zu sprechen. „Ein
       Friedensplan muss die Bedingungen und Forderungen der Ukraine beinhalten,
       andernfalls könnte das auch bedeuten, dass eine Chance auf Demokratisierung
       in Belarus vertan ist“, sagt sie.
       
       Tichanowskaja war die Oppositionskandidatin bei den manipulierten
       Präsidentschaftswahlen in Belarus 2020. Sie hatte sich aufstellen lassen,
       nachdem ihr Mann, Blogger Sergei Tichanowski, vor seiner Kandidatur vom
       Lukaschenko-Regime inhaftiert wurde. Wäre ordnungsgemäß ausgezählt worden,
       hätte Tichanowskaja die Wahlen wohl gewonnen, wäre Präsidentin geworden.
       Die anschließenden Massenproteste wurden niedergeschlagen, Tichanowskaja
       ging ins Exil nach Litauen, [3][kämpft bis heute von dort gegen
       Lukaschenko]. Mit ihrem Team setzt sie sich für die Verfolgten des Regimes
       ein, arbeitet an einer Verfassung für ein künftiges demokratisches Belarus.
       Sie trifft sich mit EU-Vertreter:innen, mit dem parlamentarischen
       Arbeitskreis Demokratisches Belarus im Deutschen Bundestag.
       
       Im Rahmen des European Political Community Summit hat sie im Mai auch mit
       Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) gesprochen. „Er weiß um die strategische
       Bedeutung von Belarus“, sagt sie über den deutschen Regierungschef, „denn
       [4][die hybriden Angriffe auf die Europäische Union] werden auch von
       belarussischem Staatsgebiet aus ausgeführt.“ Im Oktober hatten Ballons, die
       von Belarus aus nach Litauen kamen, den Luftverkehr gestört, Lukaschenko
       setzt zudem immer wieder Migrant:innen an den EU-Außengrenzen als Waffen
       ein. Litauen hatte deshalb die Grenzübergänge zeitweise gänzlich
       geschlossen. Belarus gehöre entsprechend nicht nur aus humanitärer Sicht,
       sondern auch aus Sicherheitsgründen auf die EU-Agenda, so Tichanowskaja:
       „Wir müssen das Land aus der russischen Kontrolle befreien.“
       
       ## In Belarus kriselt es überall
       
       Swetlana Tichanowskaja hat während des Gesprächs eine Mappe vor sich, mit
       Papieren, in denen die Verbrechen des belarussischen Regimes dokumentiert
       sind. Immer wieder an Belarus zu erinnern heißt für sie auch, nicht zu
       vergessen, [5][dass immer noch über 1.200 politische Gefangene] unter oft
       schrecklichen Bedingungen inhaftiert sind. Friedensnobelpreisträger Ales
       Bialiatski sitzt weiter in Haft, „soweit wir wissen, in schlechtem
       gesundheitlichem Zustand, weil ihm Medikamente versagt werden“, wie
       Tichanowskaja erklärt. Auch Maria Kolesnikowa, die mit ihr zusammen die
       Opposition 2020 anführte, sitzt weiterhin in Haft.
       
       Das Signal, das Lukaschenko zuletzt in die Welt senden wollte, war aber ein
       anderes: Lockerung des repressiven Systems. Er ließ politische Gefangene
       frei: im Juni 14, im September 52, vergangene Woche 31 ukrainische
       Häftlinge. Zu all diesen Entlassungen kam es auch wegen eines Deals mit
       US-Präsident Donald Trump. Der hatte im Gegenzug US-Sanktionen gegen die
       belarussische Fluggesellschaft Belavia aufgehoben und angekündigt, dass die
       USA ihre Botschaft in Minsk wiedereröffnen wollen. Einer Normalisierung der
       Beziehungen zu Lukaschenko käme das nicht gleich, meint Tichanowskaja.
       „Trump und die USA müssen diese Zugeständnisse machen, wenn sie humanitäre
       Interessen verfolgen wollen“, sagt sie. Vielleicht spekuliert Trump sogar
       darauf, den Ukrainekrieg mithilfe Lukaschenkos schneller beenden zu können.
       Es sei einfacher, so Tichanowskaja, Druck auf den derzeit verwundbaren
       Lukaschenko auszuüben als auf Putin.
       
       In Belarus kriselt es überall: Mehr als eine halbe Million Menschen sind
       seit 2020 aus dem Land geflohen, es fehlen Arbeitskräfte, die
       Lebensmittelpreise sind hoch, selbst an Kartoffeln mangelte es im Sommer –
       jenem Gut, auf das das Land eigentlich so stolz ist.
       
       Die Freilassungen betrafen auch Swetlana Tichanowskaja persönlich. Ihr Mann
       Sergei kam im Juni nach mehr als fünf Jahren Haft frei. In Haft war er
       abgemagert, er sagt, der Umgang mit politischen Gefangenen sei [6][„ein
       System, das darauf ausgelegt ist, die Würde zu zerstören“]. Erst kurz vor
       seiner Freilassung sei er „gemästet“ worden. Nun kämpft das Paar wieder
       gemeinsam für ein freies Belarus – aber nicht immer zusammen. Gerade sei
       ihr Mann in den USA, um sich dort für die weitere Unterstützung politischer
       Gefangener einzusetzen. Dabei gab es durchaus auch Probleme nach seiner
       Freilassung: Seine Frau war während seiner Haftzeit zur Oppositionsführerin
       geworden, „er muss nun erst mal wieder seine Rolle in der Politik finden“,
       sagt sie. In den USA kam es sogar zum offenen Streit zwischen beiden, als
       Tichanowski verhinderte, dass seine Frau ein Treffen mit Exilbelarussen für
       ein Interview mit CNN früher verließ. Wenn, dann müsse sie beim
       Trump-Sender Fox News auftreten, sagte er. Am Ende gab sie weder hier noch
       dort ein Interview.
       
       ## Wo sind Russlands Grenzen?
       
       Wohin sich Machthaber Lukaschenko bewegt, ob er versucht, sich aus Putins
       Würgegriff zu lösen, scheint unklar; einige Beobachter:innen deuten es
       so. Tichanowskaja sieht den belarussischen Diktator als so angeschlagen wie
       lange nicht an. Informanten aus dessen Kreis bestätigten ihr dies, sagt
       sie. Sie will sich für Gerechtigkeit in einem Post-Lukaschenko-Belarus
       einsetzen. Mit ihrem Team hat die 43-Jährige die [7][International
       Accountability Platform for Belarus] gegründet, die Beweise für die
       Verbrechen des Regimes sammelt.
       
       36.198 Dokumente, mehr als 2 Millionen Beweisstücke und mehr als 3.000
       Interviews mit Opfern und Zeugen habe man zusammengetragen, sagt sie mit
       einem Blick auf die Mappe vor ihr. „Wir haben so viele schreckliche
       Geschichten über sexuelle Gewalt, Isolationshaft und den Entzug von
       Nahrung, frischer Luft und Wasser gehört“, sagt sie. Diese Verbrechen
       müssten geahndet werden. Den deutschen Außenminister Wadephul will sie auch
       davon überzeugen, einen in [8][Zusammenarbeit mit Norwegen gegründeten
       internationalen Hilfsfonds für die politischen Gefangenen] von Belarus zu
       unterstützen.
       
       Derzeit erinnert Tichanowskaja auch an die belarussischen Interessen im
       Zuge des Ukraine-Friedensplans. Die langfristigen Ziele müssten ein Abzug
       russischer Truppen nicht nur aus dem ukrainischen, sondern auch aus dem
       belarussischen Staatsgebiet sein – und ein atomwaffenfreies Belarus. „Das
       Problem Russlands ist, dass es nicht weiß, wo seine Grenzen sind“, sagt
       Tichanowskaja. Fast genau an dem Ort, an dem einst die Berliner Mauer
       verlief, weist sie darauf hin, dass viele Länder, die früher der
       Sowjetunion angehörten, inzwischen in der EU sind. Putins Ziel aber ist
       bekanntermaßen ein neues russisches Reich, das an die Sowjet-Ära
       heranreicht. „Wenn wir Russland also nicht in seine Schranken weisen, wird
       es immer weiter voranschreiten“, sagt sie.
       
       Tichanowskaja geht kurz darauf zum Meeting im Bundestag. Sie hofft, dass
       man ihr dort zuhören wird.
       
       30 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Verhandlungen-zur-Ukraine/!6132155
 (DIR) [2] /Swetlana-Tichanowskaja-ueber-Belarus/!5979605
 (DIR) [3] https://tsikhanouskaya.org/en/
 (DIR) [4] /Stoerungen-durch-Ballons/!6124783/
 (DIR) [5] https://prisoners.spring96.org/en#list
 (DIR) [6] /Politische-Gefangene-in-Belarus/!6092885
 (DIR) [7] https://iapbelarus.org/
 (DIR) [8] https://tsikhanouskaya.org/en/news/international-humanitarian-fund-to-support-political-prisoners-and-their-families-from-belarus-was-established-in-norway.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Belarus
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Opposition
 (DIR) Swetlana Tichanowskaja 
 (DIR) Social-Auswahl
 (DIR) Schwerpunkt Pressefreiheit
 (DIR) Litauen
 (DIR) Schwerpunkt Pressefreiheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Porträt der Journalistin Ksenia Lutskina: Gnade vor Recht
       
       Ksenia Lutskina wurde in Belarus zu acht Jahren Gefängnis verurteilt – weil
       sie ihrem Beruf nachging. Was sie zu erzählen hat, geht uns alle an.
       
 (DIR) An der Nato-Ostflanke: Grenzerfahrungen
       
       Am Suwałki-Korridor kommen Belarus und das russische Kaliningrad bedrohlich
       nah. Eine Reise zu Europas verteidigungspolitischer Achillesferse.
       
 (DIR) Kollege von Sacharow-Preisträger: „Lukaschenko weiß, dass diese Menschen seine ‚Währung‘ sind“
       
       Der Journalist und Sacharow-Preisträger Andrzej Poczobut sitzt in Belarus
       im Gefängnis. Doch er bleibe unbeugsam, sagt sein Kollege Bartosz
       Wieliński.