# taz.de -- Helenenstraße spaltet Politik: Sexverkauf in der Sackgasse
       
       > Auch das vergleichsweise behütete Bremen hat eine Bordellstraße. Die
       > Verhältnisse, unter denen sich junge Frauen dort prostituieren, sind
       > fragwürdig.
       
 (IMG) Bild: Die Helenenstraße in Bremen ist eine Sackgasse
       
       Die Helenenstraße hat alles, was Liebhaber*innen urbanen Wohnens
       begeistert. Sie liegt mitten in Bremens buntem „Viertel“ in Wesernähe mit
       seinen Geschäften, Kneipen, Restaurants und schmucken Wohnhäusern aus der
       vorletzten Jahrhundertwende. Eine Bleibe dort zu ergattern ist allerdings
       fast unmöglich, denn die ruhige Seitenstraße dient als Bordell. Diese
       Nutzung ist [1][allerdings heftig umstritten]. Anwohner*innen
       protestieren dagegen, und im Senat gibt es sehr verschiedene Auffassungen
       darüber, wie mit dieser Straße umzugehen ist.
       
       Jenseits der Sichtblende am Eingang zur Helenenstraße stehen links
       kastenförmige, farbig gestrichene Verschläge mit Tür und Fenster. Früher
       war dort eine Häuserzeile, im Krieg wurde sie zerstört. Gegenüber neuere,
       mehrstöckige Gebäude, dazwischen Ruinenreste. Die Helenenstraße hat 27
       Hausnummern, am Ende eine Mauer. Bremens kurze Bordellmeile ist eine
       Sackgasse.
       
       Per Fahrrad bin ich unterwegs auf der Hauptverkehrsader durchs Viertel.
       Kopfsteinpflaster, Straßenbahnschienen, schmaler Radweg. Ein Auto überholt
       und biegt dicht vor mir in eine Seitenstraße, ich muss scharf bremsen.
       
       Der Wagen hält an, eine schmale junge Frau steigt aus. Weißes T-Shirt,
       schwarze Leggings, keine Jacke, obwohl es recht frisch ist, die dunklen
       Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden. In der Hand hält sie eine prall
       gefüllte Plastiktüte. Sie verabschiedet sich vom Fahrer, geht vorbei an
       Friseur, Dönergrill, Kiosk und wendet sich in die Helenenstraße. Das Auto
       hat ein bulgarisches Kennzeichen.
       
       „Bei den Frauen, die die Autos mit bulgarischem Kennzeichen ausladen, denkt
       man oft: Sind die schon 18?“, sagt Matthias Holthaus. Der Lokaljournalist
       wohnt um die Ecke. Was ihm noch auffällt: „Manche Männer sitzen den ganzen
       Tag auf der anderen Straßenseite im Café mit Blick auf den Eingang der
       Straße.“
       
       Von rund 50 „Nutzerinnen“ der Helenenstraße in häufig wechselnder Besetzung
       geht die Bremer Polizei aus, erklärt Stephanie Schneider. Sie leitet bei
       der Polizei in Bremen die Abteilung Strukturdelikte, die sich um
       organisierte Kriminalität kümmert. Je 40 Prozent der Frauen kämen aus
       Bulgarien und aus Rumänien, die übrigen aus anderen Ländern. „Die
       Nutzerinnen mieten ihre Prostitutionsstätten selber an, sie sind frei in
       ihrem Handeln“, sagt Schneider. Alle Frauen seien angemeldet, so wie es das
       Prostituiertenschutzgesetz von 2017 vorschreibt.
       
       ## Naturgegeben sexbedürftig
       
       Die Helenenstraße wurde 1878 als Bordellstraße eingerichtet, für
       Prostitution unter staatlicher Kontrolle. [2][Damals galt die Straße als
       Vorbild], weil die Frauen ihren Verdienst für sich behalten konnten. Die
       Frauenbewegung sorgte 1926 für ein Ende des überwachten Sexkaufs, acht
       Jahre später stellten die Nazis den alten Zustand wieder her. Prostitution
       war „sittenwidrig“, wurde aber nicht verfolgt. Die Frauen waren geächtet.
       Männer galten als naturgegeben ständig sexbedürftig, in der Ehe oder gegen
       Geld.
       
       Ende der 1990er-Jahre arbeitete Beate Augustin ein halbes Jahr in der
       Helenenstraße. Als medizinische Fachangestellte hatte sie genug von
       Arztpraxen und bestritt ihren Lebensunterhalt fortan mit Sexarbeit. Sie war
       28, die Helenenstraße ihr erster Arbeitsplatz. „Damals haben in der
       Helenenstraße größtenteils deutsche Frauen gearbeitet. Es war ein
       entspanntes Arbeiten, es wurde anders gearbeitet als heute.“ Mehr will sie
       nicht sagen. Heute ist Augustin Teilzeitberaterin bei Nitribitt, der Bremer
       Interessenvertretung für Sexarbeiterinnen.
       
       Als Gewerbe fällt Prostitution in die Zuständigkeit von
       Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt (Linke). In deren Behörde sind rund 500
       Prostituierte registriert, die Anmeldung gilt bundesweit. Es ist unklar,
       wie viele Frauen sich in Bremen unangemeldet prostituieren.
       
       Nach der Liberalisierung von 2002 kann die Polizei nur noch tätig werden,
       wenn zum Beispiel eine Frau Anzeige erstattet. „Wir brauchen eine
       Erkenntnislage, die lautet, da findet gerade eine Straftat statt“, erklärt
       Petra van Anken, Leiterin von Kripo und Landeskriminalamt in Bremen.
       Kontrollen ohne Anlass seien nicht mehr möglich. Ob diese Rechtslage die
       Polizeiarbeit behindert, will van Anken nicht bewerten.
       
       Ihre Untergebene Stephanie Schneider sieht durchaus Widersprüche. „Die
       Armutsverhältnisse in Ländern wie Rumänien und Bulgarien können wir nicht
       wegdiskutieren.“ Aber Fälle von Zwangsprostitution und Menschenhandel
       liegen in Bremen im einstelligen Bereich. „Nach meiner Meinung haben sich
       die Frauen dafür entschieden, der Sexarbeit nachzugehen, also dass sie den
       Beruf freiwillig ausüben.“
       
       Nun reihen sich Polizistinnen in der Helenenstraße ein in die Schlange
       derjenigen öffentlich finanzierten Fachkräfte, die aufsuchende Arbeit
       leisten und den Frauen Hilfe anbieten. Zusammen mit den Mitarbeiterinnen
       von Wirtschaftsressort und Nitribitt, von Ordnungsamt und Gesundheitsamt.
       
       Ende 2024 informierte das Gesundheitsressort, geführt von der linken
       Senatorin Claudia Bernhard, [3][über ein Umstiegsprojekt für
       Sexarbeiterinnen], das Mitte 2021 anlief. Seitdem hätten 13 Frauen die
       Tätigkeit gewechselt, zwei eine Ausbildung begonnen. Das Projekt läuft bis
       Ende 2025, Gesamtkosten 1,4 Millionen Euro.
       
       In Bernhards Behörde arbeitet Juliane Wiechmann als Ärztin für sexuelle
       Gesundheit, zuständig auch für die Helenenstraße. Sie ist sicher, „die
       Frauen sind alle über 18, allein schon wegen der Anmeldung, da müssen sie
       Dokumente vorlegen“. Im Übrigen interessiere sie das Alter nicht, „wir
       arbeiten anonym“.
       
       Da kann Manfred Paulus nur mit dem Kopf schütteln. Seit Jahrzehnten
       beschäftigt sich der pensionierte Kriminalkommissar aus Ulm mit der Lage
       ausländischer Frauen, die in Deutschland mit Prostitution Geld verdienen.
       Früher beruflich, mittlerweile als Berater für Hilfsorganisationen. „Ein
       hoher Anteil der Frauen, die wir als Bulgarinnen oder Rumäninnen
       wahrnehmen, sind Roma“, erklärt Paulus.
       
       ## Geächtet und an den Rand gedrängt
       
       In ihren Herkunftsländern geächtet und an den Rand gedrängt, lebten viele
       in Ghettos, die Kinder gingen nicht zur Schule, erhielten keine Ausbildung.
       Prostitution ist eine der wenigen Geldquellen. Auf seine Frage an eine
       Neunjährige in einer Roma-Siedlung, was sie später werden wolle, habe das
       Mädchen geantwortet: „Rechtsanwältin, niemals Prostituierte.“ Kleine Jungen
       nennen als Berufswunsch „Zuhälter“. Die Mitarbeiterin einer
       Hilfsorganisation habe Paulus erklärt, Zuhälter sei für Männer eine der
       wenigen Möglichkeiten, das Ghetto zu verlassen.
       
       Viele Roma-Kinder kommen zu Hause auf die Welt. Weil sie nicht zur Schule
       gehen, haben sie ihren ersten Behördenkontakt womöglich erst beim Antrag
       auf einen Ausweis. Deshalb falle gar nicht auf, dass die vermeintlich
       18-Jährige erst 15 ist, sagt Paulus: „Dann hat sie dieses Papier, kommt
       nach Deutschland und kann sich hier registrieren lassen.“
       
       Eine Mitarbeiterin der [4][Bremer Beratungsstelle für Menschenhandel und
       Zwangsprostitution], die aus Moldau stammt und nicht namentlich genannt
       werden möchte, bestätigt die Aussage des pensionierten Kommissars. „Das ist
       leider so, unsere Statistiken sind nach behördlichen Angaben. Die laufen
       als volljährig, aber in Wirklichkeit waren sie unter 18.“
       
       Eigentlich müsste an dieser Stelle eine Frau aus Rumänien oder Bulgarien
       über ihren Weg nach Deutschland und über Sexarbeit hierzulande berichten.
       Aber trotz bundesweiter Recherche und Unterstützung von Organisationen, die
       Aussteigerinnen helfen, finde ich keine. Eine Frau, die zum Gespräch bereit
       schien, macht einen Rückzieher. Sie möchte keine Schwierigkeiten bekommen.
       
       Über all das hätte ich gerne mit Kristina Vogt gesprochen. Die
       Wirtschaftssenatorin hat im Bremer Senat [5][die Federführung bei Fragen
       zur Prostitution]. Vogt ist nicht bereit zu einem Interview.
       
       Vogts Hauptkontrahent in der rot-grün-roten Bremer Landesregierung beim
       Thema Prostitution ist [6][Innensenator Ulrich Mäurer]. Beim letzten Streit
       ging es um zwei Bauanträge für die Helenenstraße und eine mögliche Erhöhung
       der Anzahl der Sexarbeitsplätze, bis zu 130 Sexarbeiterinnen waren im
       Gespräch. „Ich würde morgen die Helenenstraße dicht machen“, erklärt der
       Sozialdemokrat. Das sei ganz einfach. Die Sperrbezirksverordnung, die in
       dem ganzen Bereich mit Ausnahme der Bordellmeile gelte, müsse nur auf die
       Helenenstraße ausgeweitet werden.
       
       Das Argument, dort habe man die Prostitution besser im Blick, leuchtet dem
       seit 2008 amtierenden Innensenator nicht ein. „Was ist dann mit den anderen
       500, die sich nicht unter diesem Schutzschirm befinden?“ Mäurer befürwortet
       das Nordische Modell, das Sexkauf verbietet, aber darüber entscheidet nicht
       er, sondern die Bundespolitik. Im Bremer Senat wurde beschlossen, dass sich
       weiterhin nicht mehr als 50 Frauen in der Helenenstraße prostituieren
       dürfen.
       
       Die CDU-Opposition übt sich derweil im Schulterschluss mit der
       Linken-Senatorin. Am Rande einer Veranstaltung zur Helenenstraße
       bekräftigte Bürgerschaftsabgeordnete Kerstin Eckardt, dass die CDU in
       Bremen, anders als auf Bundesebene, gegen das Nordische Modell sei. Ein
       Bremer Parteifreund sieht darin den Versuch, sich bei der
       städtisch-liberalen Wählerschaft anzubiedern. Auf derselben Veranstaltung
       berichtete eine langjährige Anwohnerin von dramatischen, teils
       gewalttätigen Szenen in der Helenenstraße.
       
       Die Baubehörde schlägt vor, die Bordellmeile zu kürzen, um auf dem frei
       werdenden Ende der Sackgasse zusammen mit dem dahinter liegenden Garagenhof
       Wohnungen zu errichten. Im vorderen Teil soll teilweise neu gebaut und
       verdichtet werden, für insgesamt 50 Prostitutierte.
       
       Doch mit wem verhandelt die Baubehörde? Wem gehört die Bordellmeile? Wer
       hat die beiden Bauanträge gestellt, die im Senat zum Eklat führten?
       
       Das Grundbuchamt lehnt die Bitte um Einsicht in das Verzeichnis der
       Eigentümer*innen ab, das „Persönlichkeitsinteresse“ der Eigentümer
       gehe vor. Erst das Hanseatische Oberlandesgericht stellt nach einer
       Beschwerde klar, dass der Presse Einsicht zu gewähren ist.
       
       Die Eigentümer*innen der Helenenstraße sind nach Alter und Geschlecht
       recht gemischt, die jüngste Eigentümerin ist Mitte 20, sie hat 2023 geerbt.
       Ein Jahr später ein weiterer Erbfall bei Hausnummer 4, vom Vater, der ein
       Baugeschäft besaß, auf die Tochter. Dort werden mittlerweile Zimmer über
       bremen.de an junge Männer vermietet, berichtete das Regionalfernsehen.
       
       Ein Haus gehört einer Kioskbesitzerin um die Ecke. Meine Bitten um ein
       Gespräch stoßen auf taube Ohren.
       
       Ein Drittel der Grundstücke sind in der Hand von familiär miteinander
       verbundenen Personen. Ein Schwager ist Meister vom Stuhl, also
       Vorsitzender, einer englischsprachigen Freimaurerloge. Ich telefoniere mit
       dem Sekretär. Es gehe wohl um eine Rotlichtrecherche, mutmaßt der, aber
       auch sein Chef möchte nicht reden.
       
       Bereitwilliger sind schließlich die beiden Bauantragsteller. Firat Aktas
       investiert seit über 20 Jahren in Immobilien im Viertel. Das Quartier liege
       ihm am Herzen, sagt er, er ist dort kein ganz Kleiner. In der Nähe der
       Helenenstraße gehören Aktas mindestens sieben Häuser, ein paar Querstraßen
       weiter ist sein Apartment-Logo an drei Häusern angebracht.
       
       Das Viertel macht ihm Sorgen, zu viel Gewalt, zu viele Drogen, Leerstände.
       Darüber möchte er sprechen, über die Helenenstraße eher nicht. Wir treffen
       uns in seinem Büro im Gewerbegebiet. Seine Eltern hatten einen
       Gemüsehandel, die beiden Töchter haben studiert, Wirtschaft und
       Journalismus.
       
       „No risk, no fun“, sei seine Philosophie beim Kaufen, erzählt Aktas. Vor
       fünf Jahren erwarb der Endvierziger zusammen mit einem Kollegen das
       Ruinengrundstück Helenenstraße 2. „Final kauft man als Geschäftsmann aber
       ein Objekt, um damit Gewinne zu erzielen.“ Das Heruntergekommene am Viertel
       missfällt Aktas. Er ist bereit zu investieren, für Bordellbetrieb oder für
       andere Nutzungen. Aber es müsse sich etwas ändern im Viertel, auch in
       puncto Sicherheit.
       
       ## Großgrundbesitzer der Helenenstraße
       
       Noch weniger auf Bordell festgelegt sind die Großgrundbesitzer der
       Helenenstraße, Thorsten und Tobias Seeseke. Ihnen gehören 13 der 27
       Hausnummern. Die Brüder haben den zweiten Bauantrag gestellt.
       
       Thorsten Seeseke ist Mitte 50. Der Diplomingenieur besaß früher
       Spielhallen, für die Handelskammer war er vereidigter Sachverständiger für
       die Überprüfung von Geldspielgeräten. Das ist vorbei, sagt Seeseke am
       Telefon. Mit Immobilien angefangen hätten er und sein Bruder als
       Absicherung fürs Alter, weil sie selbstständig sind. Damals waren
       Immobilien relativ günstig, „da wollte an den Rotlicht keiner bei.“
       
       In der Helenenstraße möchten die Seesekes bauen, deshalb nahmen sie Kontakt
       zur Behörde auf. „Die Stadt will auf jeden Fall den Rotlichtteil behalten,
       das haben die uns immer wieder gesagt.“ Die Brüder sind dagegen flexibel,
       „wir sind Investoren.“ Bei ihren Planungen hätten sie auch an andere
       Nutzungen als Prostitution gedacht, sagen sie. Einzelhandel, Hotel,
       Wohnraum sowieso. „Und wenn’s nicht mehr erlaubt wäre, dann wären wir nicht
       am traurigsten, dann ist das so. Wir passen uns an das an, was der Staat
       will.“
       
       Das also ist das Ergebnis der Recherche: Zwei maßgebliche
       Immobilieneigentümer der Helenenstraße und ihrer Umgebung sagen, dass sie
       dem Bordellbetrieb keine Träne nachweinen würden, wenn etwa das Nordische
       Modell eingeführt würde. Und zwei linke Senatorinnen sowie Mitarbeitende
       öffentlich finanzierter Einrichtungen zur Begleitung von Sexarbeit setzen
       sich ein für den Erhalt von Prostitution in der Helenenstraße.
       
       Es wird langsam dunkel. Drei junge Männer, vielleicht Anfang 20, schlendern
       über die verkehrsreiche Hauptstraße des Viertels. Sie lachen, sind gut
       drauf. Bei der Helenenstraße biegen sie ab, ohne zu zögern, es scheint
       völlig klar.
       
       Effi Blekker wohnt im Viertel, sie macht demnächst Abitur und kennt die
       Helenenstraße seit ihrer Kindheit. „Das ist wie so ein unausgesprochenes
       Gesetz, dass ich da als Frau nichts zu suchen habe, und die Männer gehen da
       mit einem unfassbaren Selbstbewusstsein rein“, sagt sie. „Das ekelt mich
       wirklich doll an.“
       
       Eine Freundin von Effi hat ihrem großen Bruder von ihrem Unbehagen erzählt,
       als sie neulich an der Helenenstraße vorbeigingen. Der reagierte
       überrascht: „Oh, wirklich?“
       
       Dieser Text entstand aus der Recherche zu einem [7][Radiofeature über die
       Helenenstraße].
       
       29 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
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