# taz.de -- Auf dem Straßenstrich in Berlin: Selbstbestimmt und ausgebeutet
       
       > Der Verkauf von Sex ist in Deutschland legal. Zuhälter müssen kaum mit
       > strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Kann ein Sexkaufverbot helfen?
       
 (IMG) Bild: Arbeitsgerät: Schuhe einer Prostituierten auf der Kurfürstenstraße in Berlin
       
       Die Abendsonne brennt auf den Asphalt der Kurfürstenstraße in Berlin-Mitte,
       als Daria durch die Tür des Vereins Neustart kommt. Sie trägt eine
       Jogginghose und Cap, ihre Haare sehen zerzaust, ihr Gesicht müde aus. Daria
       geht schnurstracks auf die „Zum Mitnehmen“-Kiste zu, holt eine bunte Kette
       heraus und wirft sie einer Frau auf der Couch zu. Sie wirkt aufgedreht,
       ihre Augen blicken nervös durch den Raum, bevor sie sich hinsetzt, um ein
       belegtes Brötchen zu essen. Der Verein ist eine gemütliche, kleine
       Erdgeschosswohnung mit mehreren Sofas sowie einer Einbauküche. Hier
       bekommen Sexarbeiter:innen dreimal die Woche kostenlos Essen und
       Getränke.
       
       Daria lebt seit etwa 15 Jahren in Berlin, so ganz weiß sie das aber selbst
       nicht mehr. Ihren Weg in die Hauptstadt findet sie über einen Bekannten,
       der ihr einen Job als Prostituierte in Berlin verspricht. In Bulgarien hat
       sie zuvor auch als Prostituierte gearbeitet. Daria spricht kaum Deutsch,
       eine Sozialarbeiterin hilft bei der Übersetzung. Mehr als ihr halbes Leben
       ist sie schon in diesem Beruf, doch es fällt ihr noch immer schwer, ihren
       Körper zu verkaufen. „Ich würde lieber als Putzfrau arbeiten“, sagt sie.
       
       Daria ist wohl der Typ Prostituierte, den man meint, wenn [1][in
       Deutschland über Armutsprostitution gesprochen] wird. Wie viele andere
       Frauen aus Osteuropa kam Daria nach Deutschland, um hier Geld zu verdienen.
       Der Verkauf von Sex ist in Deutschland legal, er ist geregelt über das
       Prostitutionsschutzgesetz. Kritiker:innen des Gesetzes behaupten,
       Deutschland habe sich seit der Legalisierung vor mehr als 20 Jahren zum
       „größten Bordell Europas“ entwickelt; Frauen würden Opfer von sexueller
       Ausbeutung. Sie fordern deshalb ein sogenanntes Nordisches Modell, bei dem
       sich Freier mit dem Kauf von Sex strafbar machen. Die Sexabeiter:innen
       selbst werden dabei nicht kriminalisiert. In Schweden und Frankreich gibt
       es bereits ein solches Modell.
       
       In Deutschland fordern Teile der SPD schon länger [2][ein Sexkaufverbot],
       die Grünen und die FDP stehen dem Modell eher skeptisch gegenüber. Andere
       fordern im Gegenteil eine Entkriminalisierung der bisherigen Regelungen, um
       so Sexarbeiter:innen weniger zu stigmatisieren. Derzeit wird das
       Gesetz evaluiert. Doch was sagen eigentlich Frauen wie Daria dazu? Und gibt
       es womöglich andere politische Lösungen, um die Situation von
       Sexarbeiter:innen in Deutschland zu verbessern?
       
       Daria lebt wie ein Phantom in der Stadt, kämpft sich permanent durch. Ohne
       Papiere und ohne eine offizielle Anmeldung hat die 47-Jährige keinen
       Anspruch auf Sozialleistungen, sie will deshalb auch anonym bleiben.
       Anfangs arbeitete sie noch in einer Bar in der Kantstraße im Bezirk
       Charlottenburg-Wilmersdorf. Sie hatte eine Wohnung, musste dort aber ihrem
       Zuhälter die Hälfte ihres Gehalts abgeben. Seit einigen Jahren ist sie
       obdachlos und verdient ihr Geld weiterhin in der Prostitution. Sich von
       ihrem Zuhälter zu lösen, war ihre eigene Entscheidung. Sie kennt aber auch
       Frauen, die nicht von ihrem Zuhälter loskommen.
       
       Das kann verschiedene Gründe haben. Manche Prostituierte sind von ihrem
       Zuhälter emotional abhängig. Sie denken beispielsweise, dass sie ohne ihren
       Zuhälter in Deutschland nicht klarkommen. Andere werden psychisch unter
       Druck gesetzt. Wirklich gewaltsam in die Prostitution gezwungen werden
       wenige, die Beziehung und das Abhängigkeitsverhältnis sind meist komplex,
       was auch die Strafverfolgung erschwert.
       
       Daria muss zweimal am Tag einen Kunden treffen, um zu überleben. Nicht weil
       es ein Job ist, der ihr Spaß macht. Deshalb wird sie in diesem Text auch
       Prostituierte genannt und nicht Sexarbeiterin, denn mit Selbstbestimmung
       hat ihre Geschichte wenig zu tun. Fragt man Daria, was ihr helfen würde,
       sagt sie sofort: eine Wohnung.
       
       Der Verein Neustart bietet seit März 2022 eine sogenannte Ausstiegswohnung
       an, hier können Frauen ein paar Monate kostenlos wohnen. Doch für soziale
       Angebote wie diese kommt Daria nicht infrage: Die Frauen müssen clean sein,
       um dort leben zu können, da der Verein keine 24-Stunden-Betreuung anbieten
       kann. Daria konsumiert aber seit einigen Jahren Crystal Meth.
       
       Darias Geschichte zeigt, wie komplex die Probleme sind, denen vor allem
       Sexarbeiter:innen, die unter prekären Bedingungen arbeiten, ausgesetzt
       sind. Denn oft gehen Sexarbeit, Armut und Wohnungslosigkeit an der
       Kurfürstenstraße Hand in Hand. „Wir haben schon mal versucht, Daria über
       einen Drogenentzug zu helfen, von der Straße zu kommen“, erzählt Gerhard
       Schönborn vom Verein Neustart. Doch sie hatte einen Rückfall. Laut dem
       Streetworker gibt es auf dem Straßenstrich einen immensen Anstieg beim
       Konsum von Crystal Meth. „Die Verelendung hat hier in den letzten Jahren
       zugenommen“, sagt der 61-Jährige, der seit 19 Jahren als Streetworker auf
       der Kurfürstenstraße unterwegs ist.
       
       In Deutschland müssen Sexarbeiter:innen nach dem
       Prostituiertenschutzgesetz registriert sein. Die Bundesregierung schätzt,
       dass es bis zu 400.000 Sexarbeiter:innen in Deutschland gibt. Nur etwa
       23.700 sind offiziell gemeldet, vier Fünftel davon haben keine deutsche
       Staatsbürgerschaft. Um sich als Sexarbeiter:in zu registrieren, muss
       man sich einer jährlichen Gesundheitsberatung unterziehen. Einige
       Sexarbeiter:innen halten die Registrierung für überflüssig, weil ihnen
       der sogenannte Hurenausweis keinen Vorteil bringt. Andere haben Angst, dass
       ihre Daten weitergegeben werden. Prostituierte wie Daria, die ganz ohne
       Papiere im Land sind, gehören zu all jenen Prostituierten, die im großen
       statistischen Dunkelfeld arbeiten.
       
       Etwa 100 Frauen kommen pro Woche in den Verein Neustart. Die meisten Frauen
       kommen aus Bulgarien, Rumänien, ein paar Deutsche sind auch dabei. In der
       Ausstiegswohnung des Vereins wohnen derzeit drei Frauen kostenlos. Sofern
       sie keine Sozialleistungen bekommen, erhalten sie von dem Verein ein
       monatliches Taschengeld von 400 Euro, angelehnt an das Bürgergeld. Einige
       sind trotzdem noch weiter in der Sexarbeit tätig, weil sie beispielsweise
       Geld an ihre Familien in den Herkunftsländern schicken müssen.
       
       In den Wohnungen sollen sie zur Ruhe kommen. Sie sollen Zeit haben, sich
       anzumelden, Sozialleistungen zu beantragen sowie eine Krankenversicherung.
       Eigentlich war die Idee, dass die Frauen dort nur für drei Monate bleiben.
       Doch es zeigte sich schnell: Die Frauen brauchen mehr Zeit. Eine der Frauen
       wohnt mittlerweile seit mehr als einem Jahr dort. „Wenn die Frauen erst mal
       aus diesem Modus des Funktionierens raus sind, dann kommen körperliche
       Beschwerden und psychische Probleme auf“, sagt eine der Sozialarbeiterinnen
       von Neustart.
       
       Auch Elena ist an diesem Montag in den Verein gekommen. „Stell mir auch
       Fragen, ich will berühmt werden“, ruft sie der Journalistin lachend zu.
       Auch sie möchte anonym bleiben. Elena trägt ein pinkes Kleid, mit silbernen
       Glitzerelementen entlang des Kragens. Sie ist eine trans-Frau und nach
       Deutschland gekommen, weil sie die Stigmatisierung in ihrem Heimatland
       nicht mehr ausgehalten hat. Dort wurde sie aufgrund ihrer sexuellen
       Identität teils auf der Straße verfolgt und zusammengeschlagen. Ihre
       Familie will sie nicht als Frau akzeptieren. Deshalb ist sie nach Berlin
       gekommen.
       
       Elena arbeitet seit über zehn Jahren in der Sexarbeit. Mit ihren Kunden
       verabredet sie sich meist privat, auf der Kurfürstenstraße ist sie nur
       unterwegs, wenn sie etwas mehr Geld dazuverdienen will. „Die Kunden haben
       sich verändert, früher waren alle nett, mittlerweile sind viele aggressiv
       und nehmen Drogen“, sagt sie.
       
       Anders als Daria ist sie nicht obdachlos, sie lebt in einem Frauenwohnheim
       in Wedding. Die 35-Jährige ist offiziell als Prostituierte registriert und
       macht einen Deutschkurs, den sie aus eigener Tasche bezahlt. Gerade ist sie
       auf der Suche nach einer Wohnung. Am liebsten würde sie eine Ausbildung zur
       Maskenbildnerin machen, aber mit der Sexarbeit will sie nicht aufhören.
       „Ich liebe meinen Beruf, er macht mir Spaß“, sagt sie. „Und ich liebe
       Männer“, fügt sie hinzu.
       
       Elena mag es, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, der Sex spielt dabei
       nur eine Nebenrolle. Aber auch sie berichtet von schlimmen Erfahrungen:
       Kunden hätten sie ausgeraubt oder geschlagen – auch deshalb sei es für sie
       sicherer, sich mit einem Kundenstamm von ihr bereits bekannten Männern zu
       treffen. Mit ihrer Familie hat sie wenig Kontakt und wenn, dann wollen sie
       meistens, dass sie ihnen Geld aus Deutschland schickt, erzählt Elena.
       
       Dass Sexarbeiter:innen an der Kurfürstenstraße Geld an ihre Verwandten
       in die Heimat schicken, kommt häufig vor, sagt Gerhard Schönborn. „Man
       würde da jetzt nicht von Menschenhandel sprechen, aber das ist auch eine
       Form der Nötigung oder des sozialen Zwangs.“ Die Bedingungen, unter denen
       die Frauen auf der Kurfürstenstraße anschaffen, sind prekär. Laut dem
       Verein fragen Männer regelmäßig nach Sex ohne Kondom. Einige Prostituierte
       stehen den ganzen Tag an der Straße, bieten sexuelle Dienstleistungen zu
       Dumpingpreisen an. Sex im Auto gibt es teils schon für 20 Euro.
       
       Das Prostituiertenschutzgesetz sieht man im Verein Neustart kritisch, es
       biete den Betroffenen keinen Schutz. Langfristig wünscht man sich hier das
       Nordische Modell, das Freier bestraft, während Sexarbeiter:innen
       ungestraft bleiben. „Es ist die teuerste Lösung und es würde nur
       funktionieren, wenn man genug Ausstiegsprogramme anbietet“, sagt der
       Vereinsvorsitzende. Es wären Zehntausende Frauen, die man langfristig
       begleiten müsste, mit Wohnungen, Jobs und psychologischer Betreuung. Frauen
       müsste dabei vor allem der Zugang zu Sozialleistungen ermöglicht werden,
       denn viele sind seit Jahren in Deutschland, aber ohne Anmeldung.
       
       Doch könnte man nicht auch soziale Programme anbieten, ohne den Verkauf von
       Sex zu verbieten? Das sieht man bei Neustart kritisch, weil so das Problem
       der Zwangsprostitution nicht gelöst werde. Auch sieht Schönborn ein
       moralisches Argument für das Nordische Modell: „Es sollte nicht normal
       sein, dass wenn Männer ein sexuelles Bedürfnis haben, sie das einfach an
       einer Frau ausleben können.“
       
       Zwei Hausnummern weiter sieht man das anders. „Indirekt werden die Frauen
       dann doch kriminalisiert“, sagt Lonneke Schmidt-Bink, die Leiterin des
       Frauentreffs Olga in der Kurfürstenstraße. In Schweden berichten
       beispielsweise Sexarbeiter:innen, dass sie ihr Einkommen mit ihren
       Partner:innen nicht mehr teilen könnten. Denn diese machen sich
       strafbar, wenn sie Geld, das mit Sexarbeit verdient wurde, ausgeben – weil
       sie so indirekt von einer kriminellen Tätigkeit profitieren.
       
       Auch das moralische Argument überzeugt sie nicht: „Wer bin ich denn, Frauen
       meine Sexualmoral aufzudrängen?“ Auch der Frauentreff Olga ist eine
       umfunktionierte Altbauwohnung, die Räumlichkeiten sind hier etwas größer.
       Neben einem Aufenthaltsraum gibt es noch eine große Küche, einen Raum mit
       Ruhebetten, ein Bad sowie ein Behandlungszimmer. Neben einem
       Frauenarztstuhl gibt es ein Ultraschallgerät. Spricht man mit der Leiterin
       des Frauentrefffs, dann fällt immer wieder ein Wort: „zieloffen“. Sie
       wollen die Frauen selbst entscheiden lassen, welche Hilfe sie brauchen.
       
       Zweimal im Monat können Sexarbeiter:innen hier eine Frauenärztin oder
       einen Allgemeinarzt aufsuchen. „Wenn wir die Frauen hier nicht versorgen
       würden, hätten viele von ihnen überhaupt keine medizinischen Leistungen“,
       sagt Lonneke Schmidt-Bink. Tests für sexuell übertragbare Krankheiten (STI)
       wie zum Beispiel HIV oder Chlamydien, Schwangerschaftstests, Krebsvorsorge,
       Wundheilung – all das sind Leistungen, die das Team vom Frauentreff Olga
       anbieten kann. Doch auch ihre Kapazitäten sind begrenzt: „Wir haben in den
       letzten Jahren insgesamt weniger Frauen auf der Straße angetroffen. Aber
       die, die hier sind, haben einen sehr hohen Bedarf an Betreuung.“
       
       Auch bei Olga beobachtet man einen erhöhten Drogenkonsum, immer mehr
       Sexarbeiter:innen rutschten in die Sucht ab. Insgesamt sei die Zahl
       der Sexarbeiter:innen in den letzten Jahren auf der Straße
       zurückgegangen, haben die Sozialarbeiter:innen beobachtet. Das heißt
       aber nicht, dass sie nicht stattfindet. Sie findet eher im Verborgenen
       statt, etwa in Bordellen in Wohnhäusern. Das geht auch aus der
       Bundeskriminalstatistik hervor und ist ein weiteres Argument gegen das
       Nordische Modell: Durch die Kriminalisierung könnte Sexarbeit womöglich
       mehr im Verborgenen stattfinden und so weniger reguliert werden.
       
       Davor hätten auch Daria und Elena Angst: Sie wären den Freiern so noch mehr
       ausgeliefert. Sie sind besorgt, dass es durch eine Kriminalisierung weniger
       Nachfrage geben würde und sie so Kunden annehmen müssten, die sie nicht
       annehmen wollen. Daria fände es gut, wenn es mehr sichere Räume gebe, wohin
       sie mit ihren Kunden gehen kann. Auch das ist ein Problem an der
       Kurfürstenstraße: Gentrifizierung. Säumten vor einigen Jahren noch viele
       leerstehende Häuser die Straße, reihen sich jetzt Neubauten aneinander.
       Damit gehen Räume verloren, zu denen die Sexarbeiter:innen mit ihren
       Kund:innen gehen können. „Drogen und Wohnungslosigkeit sind das größte
       Problem hier“, bilanziert auch Elena über die Kurfürstenstraße. Sie würde
       sich wünschen, dass es mehr Therapie- und Wohnungsangebote gibt, um den
       Frauen zu helfen.
       
       Es ist auch eine feministische Frage, was man von dem Nordischen Modell
       hält. Findet man es feministisch, dass Frauen sexuelle Dienstleistungen
       anbieten? Will man eine Gesellschaft, in der Männer sich Sex kaufen können?
       Der eigene Standpunkt fängt dabei schon mit der Formulierung an. Spricht
       man von Prostitution, schwingt gleich eine negative Komponente mit, es hebt
       den Unterschied zu anderen Formen der Arbeit hervor. Sagt man Sexarbeit,
       betont man, dass Prostitution eben auch Arbeit sei. Beim Frauentreff Olga
       spricht man von „Umstieg“ statt „Ausstieg“, man sagt
       Sexarbeiter:innen, nicht „Prostituierte“ – denn es sind ja nicht nur
       Frauen auf der Straße, sondern auch Männer und nicht-binäre Personen.
       
       Schmidt-Bink, die Leiterin von Olga, ist insgesamt genervt von der Art und
       Weise, wie über Sexarbeit in den Medien und in der Öffentlichkeit
       diskutiert wird. Sie findet es problematisch, dass nicht klar zwischen
       Sexarbeit und Zwangsprostitution unterschieden wird. Denn es gibt eben auch
       einige Sexarbeiter:innen, die selbstbestimmt im Beruf arbeiten. „Das würde
       auch eine bessere Diskussion über politische Maßnahmen ermöglichen“, sagt
       sie. Sie hält es für völlig unrealistisch, dass ein Nordisches Modell den
       Menschenhandel in Deutschland bekämpfen würde. „Vieles von dem, was
       passiert, ist bereits illegal, eine weitere Kriminalisierung würde die
       Zuhälter nicht abschrecken.“
       
       Laut Bundeskriminalamt haben etwa 90 Prozent des Menschenhandels in
       Deutschland sexuelle Ausbeutung zum Ziel. Die Ursachen von Menschenhandel
       sind komplex. Sie hängen viel mit Migration und Armut zusammen. In
       Deutschland gab es im Jahr 2022 291 Ermittlungsverfahren wegen sexueller
       Ausbeutung sowie 220 wegen kommerzieller sexueller Ausbeutung von
       Minderjährigen. Fachleute und das Bundeskriminalamt gehen von einem großen
       Dunkelfeld aus.
       
       An der Emotionalität der Debatte stört sich auch die Grünen-Abgeordnete
       Denise Loop. „Ich finde, wir entfernen uns bei dem Thema zu sehr von einer
       sachlichen Debatte“, sagt sie. „Man kann auch entkriminalisieren und
       gleichzeitig gegen Menschenhandel vorgehen.“ In etwa 50 Prozent der Fälle
       kommt es durch die Opfer selbst zu einem Verfahren, diese Zahl ist jedoch
       rückläufig. Im Jahr 2020 gingen die Anzeigen noch zu 55,4 Prozent von den
       Opfern aus, 2021 nur noch zu 47,1 Prozent. Der Rest der Verfahren wird
       durch die Polizei eigeninitiativ, über einen Hinweis oder über eine Anzeige
       durch Dritte, eingeleitet.
       
       Würde ein Nordisches Modell helfen, die Strafverfolgung von
       Zwangsprostitution zu verbessern? Loop ist da skeptisch. Sie sieht das
       Potenzial eher in anderen politischen Instrumenten, den Menschenhandel zu
       stoppen. Dabei hakt es derzeit aber noch an der Umsetzung. So gibt es bei
       der Staatsanwaltschaft keine gesonderte Stelle für Menschenhandel zwecks
       sexueller Ausbeutung, außer in einzelnen Bundesländern. Auch sei die
       Polizei nicht ausreichend spezialisiert im Umgang mit Opfern. Das sei aber
       essenziell, um gegen Menschenhändler vorzugehen. Eine Forderung aus dem
       Ampel-Koalitionsvertrag sei es, die Aussagebereitschaft vom
       Aufenthaltstitel zu entkoppeln, so Loop. Wenn den Opfern keine Abschiebung
       droht, wenn sie eine Aussage machen, sind sie womöglich eher bereit, mit
       der Polizei zu sprechen.
       
       „Da warte ich seit 20 Jahren drauf und es passiert nichts“, sagt hingegen
       Leni Breymaier von der SPD. Sie setzt sich schon seit Jahren für das
       Nordische Modell ein. Die Politikerin sieht es nicht als die ultimative
       politische Lösung – aber als die beste zur Verfügung stehende. Deutschland
       habe sich laut Breymaier zum Zielland von Menschenhandel zur sexuellen
       Ausbeutung entwickelt, deshalb sei es wichtig, die Nachfrage zu regulieren.
       Ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Legalisierung von
       Prostitution und einer Zunahme des Menschenhandels in Deutschland gibt, ist
       jedoch umstritten.
       
       Laut Neustart-Leiter Schönborn begünstigt eine liberale Gesetzgebung das
       System: „Zuhälter können sich bedenkenlos auf die Straße stellen und den
       Frauen zusehen, wie sie für sie Geld verdienen“, sagt er.
       
       Es gibt jedoch noch andere Faktoren, die zu der Zunahme des Menschenhandels
       beigetragen haben. Denn das Problem hängt direkt mit der Armutsbekämpfung
       in ganz Europa zusammen. Seit der EU-Osterweiterung ist es einfacher für
       Menschen wie Daria und Elena, nach Deutschland zu kommen und hier zu
       arbeiten. Diese Liberalisierung hat auch dazu beigetragen, dass sich solche
       Netzwerke bilden konnten. Aus Mangel an Perspektiven im Heimatland kommen
       die Frauen in reichere Länder in Europa. Gleichzeitig ist es für
       Menschenhändler lukrativer, in Deutschland Sex zu verkaufen.
       
       Genau wie Schönborn findet die SPD-Politikerin Breymaier trotzdem, dass das
       Nordische Modell der richtige Weg ist: Ein solches Modell funktioniere aber
       nur, wenn man ausreichend Ausstiegshilfen, Wohnraum und gesundheitliche
       Versorgung anbiete. Allein solche Maßnahmen zu ergreifen, hält sie für
       sinnlos. „Für jede Frau, der wir helfen, kommen im Zweifel zehn nach“, sagt
       sie. Dass es auch Sexarbeiter:innen gibt, die selbstbestimmt und
       freiwillig in der Branche tätig sind, streitet sie nicht ab. „Aber das
       Recht dieser vielleicht 5 Prozent Frauen legitimiert doch nicht das Leid
       der anderen 95 Prozent.“
       
       Die 5 Prozent kann man an einem heißen Tag in Juni an der Kurfürstenstraße
       beobachten. Etwa 200 Sexarbeiter:innen und Prostituierte protestieren
       anlässlich des Internationalen Hurentags für weniger Stigmatisierung und
       mehr Mitspracherecht bei der Evaluation des Prostitutionsschutzgesetzes.
       Rote Schirme säumen die Menge, die Schirme sind ein weltweites
       Solidaritätssymbol unter Sexarbeiter:innen. Viele leicht bekleidete Frauen
       sind zu sehen, aber auch viele Unterstützer. Auf Protestbannern stehen
       Sprüche wie „Sex work is work“, „Stigma kills“ oder „Redet mit uns statt
       über uns“.
       
       Als der Protestzug vor den Beratungsstellen des Frauentreffs Olga und des
       Vereins Neustart hält, kommt eine Anwohnerin auf den Balkon. Sie zeigt den
       Mittelfinger und schüttet Wasser auf die Protestierenden. „Wir bleiben
       hier“, brüllt die Menge ihr entgegen. Sichtlich unberührt von dem ganzen
       Trubel stehen Sexarbeiter:innen am Rand der Straße, die auf einen
       nächsten Kunden warten. Auch Daria und Elena sind nicht zu sehen. Für ihre
       Rechte kämpfen, das kommt ihnen wohl bisher noch nicht in den Sinn. Das
       fällt in dem Gespräch mit ihnen auf: Als man sie fragt, wie man ihre
       Situation verbessern kann, hat man das Gefühl, sie äußern sich dazu zum
       ersten Mal.
       
       Dabei ist es wichtig, Menschen wie Elena und Daria zuzuhören. Denn ihre
       Stimmen gehen in dem Diskurs über Sexarbeit oft verloren. Und ihre
       Geschichten zeigen, wie vielschichtig die Probleme der
       Sexarbeiter:innen sind. Sie zeigen auch, dass man differenzieren muss.
       Beide Frauen arbeiten unter ähnlich prekären Bedingungen, trotzdem sind
       ihre Geschichten ganz unterschiedlich: Die eine sieht sich dazu gezwungen,
       ihren Körper zu verkaufen. Für die andere ist es eine selbstbestimmte
       Entscheidung. Das wird die Herausforderung für die Zukunft sein: einen
       gesetzlichen Rahmen zu finden, der das Leben aller Sexarbeiter:innen
       beziehungsweise Prostituierten verbessert. Niedrigschwellige
       Unterstützungsangebote sind dabei zentral. Damit Menschen wie Daria nicht
       länger durchs System fallen.
       
       11 Jul 2023
       
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       und für Sexarbeiter*innen hat sich schon jetzt viel verschlechtert.
       
 (DIR) Serie über Sexarbeit: Die Dialektik des Online-Sex
       
       Die ZDF-Serie „WatchMe – Sex sells“ über Erotik-Plattformen zeigt:
       Paid-Content wie von OnlyFans führt nicht automatisch zu Selbstbestimmung.
       
 (DIR) Debatte um Prostitutionsgesetz: Sexarbeit oder Menschenhandel?
       
       Die Unionsfraktion stellt eine Anfrage zu Menschenhandel und
       Zwangsprostitution. Die Grüne Denise Loop kritisiert, dass die Union nicht
       differenziere.