# taz.de -- Zehn Jahre nach Terror in Paris: Kein abgeschlossenes Kapitel
> Für Überlebende des terroristischen Angriffs auf den Konzertsaal Bataclan
> hat sich das Leben für immer verändert. Das gilt auch für ganz
> Frankreich.
(IMG) Bild: Der Anschlag auf das Bataclan wirkt bis heute nach, ob bei Einzelpersonen oder der gesamten Nation
Von denen, die vor zehn Jahren in Paris waren, [1][hat niemand diesen Abend
vergessen]. Die Stunden der Ungewissheit, die schleichende Angst. Weil
niemand weiß, was vielleicht noch passieren kann. Dann der Schock der
Bilder im Fernseher: Überall Sirenen und Blaulicht, in Panik Flüchtende in
den Straßen des 11. und 10. Stadtbezirks, Verletzte vor dem Bataclan,
völlig verstört wirkende Menschen. Die in großer Besorgnis verschickten SMS
an Angehörige und Bekannte: „Bist du in Sicherheit?“
Noch zehn Jahre später ist die Erinnerung an diese Stunden hellwach. Vor
zehn Jahren erlebte die französische Hauptstadt den schwersten
Terrorangriff ihrer Gegenwartsgeschichte. Im Pariser Konzertsaal Bataclan,
auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor dem Sportstadion in Saint-Denis
tötete eine Dschihadistengruppe bei einer Welle von Anschlägen 130
Menschen. Mehr als 400 wurden verletzt.
Wie für die USA der [2][September 2001 mit dem Attentat auf die Türme des
World Trade Center] ist für Frankreich das terroristische Massaker im
Bataclan ein Markstein. Der 13. November 2015 wird im Nachhinein als eine
Art Höhepunkt einer Welle von terroristischen Attentaten betrachtet. Der
damalige Staatspräsident François Hollande sprach von einem „Krieg“,
verhängte den Ausnahmezustand und reagierte mit
Antiterror-Notstandsgesetzen, von denen ein Teil bis heute in Kraft ist.
## Nicht mehr ganz dasselbe
Die Attacke hat in Frankreich offene Wunden hinterlassen, bis heute. Die
Angst vor dem dschihadistischen Terror bleibt aktuell. Manche Leute wollen
sich nicht auf die Terrasse eines Restaurants oder an einen Fensterplatz
setzen, schauen ängstlich unter die Sitzbänke in der Metro oder meiden jede
Ansammlung. Viele erzählen immer noch, dass ihnen Nahestehende mehr oder
weniger direkt zu den Opfern gehörten oder bloß durch Zufall nicht an den
Orten waren, wo die Terroristen ihren mörderischen Schrecken verbreiteten.
Noch immer laufen in den Straßen die Militärpatrouillen des
[3][Sicherheitsdispositivs] [4][Vigipirate]. Am Eingang von Warenhäusern
werden noch gelegentlich Rucksäcke und Handtaschen inspiziert. Auf das
symbolträchtige Datum des Jahrestags hin hat die Regierung wegen akuter
Risiken die Überwachung zusätzlich verschärft.
Frankreich ist seitdem nicht mehr ganz dasselbe. Die individuelle und die
kollektive Erinnerung ist selektiv. Nicht alle schrecklichen Ereignisse
prägen gleichermaßen. Warum spricht man mehr vom Bataclan als von den
Opfern auf den Caféterrassen, warum ist beim 11. September 2001 fast nur
vom World Trade Center die Rede, weniger aber vom Angriff auf das Pentagon?
Dieser Frage widmet sich die wissenschaftliche Studienserie „Remember“, für
die ein Neuropsychologe und ein Historiker, [5][Francis Eustache und Denis
Peschanski], Hunderte von Gesprächen mit Attentatsopfern und
Opfervereinigungen geführt haben. Die Studie versucht, besser zu verstehen,
wie das Gedächtnis der Individuen und die kollektive Erinnerung der
Gesellschaft funktioniert und mit der Verdrängung umgeht.
## Angriff auf die Jugend, die Freiheit, die Musik
Alle fühlen sich angegriffen, aber nicht in derselben Weise, und nicht alle
ziehen dieselben Schlussfolgerungen. Mehr noch als beim Attentat auf die
Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo und bei der terroristischen
Attacke auf den Laden Hyper Cacher im Januar 2015 erscheint bis heute in
der gemeinsamen Wahrnehmung die Serie der Anschläge des 13. November wie
ein pauschaler Angriff, der gegen alle hier gerichtet war. Das heißt: nicht
spezifisch gegen eine andere Religion, Politik oder Institution, sondern
gegen die Art, wie hier gelebt wird.
Frankreich war bereits zuvor Schauplatz von terroristischen Anschlägen
gewesen. Die Attentäter griffen dabei ihrer Ideologie entsprechende Ziele
oder Personen an. Am 13. November dagegen die Jugend, die Freiheit, die
Musik, die Freude am geselligen Zusammensein und Feiern. Das
Durchschnittsalter der Opfer betrug 35 Jahre.
Auf mindestens 1.500 wird die Zahl der Menschen geschätzt, die nach dem 13.
November an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. Zu
ihnen zählen nicht nur die unmittelbaren Überlebenden der Anschläge,
sondern auch die Angehörigen der Polizei und der Rettungsdienste, die mit
dem Horror konfrontiert wurden. Für viele ist das Trauma eine Geschichte
ohne absehbares Ende, obschon zwei Drittel von ihnen in den Monaten und
Jahren danach mit Fachleuten Therapiegespräche führen konnten.
Mit Mitteln aus einem staatlichen Fonds wurden die meisten von ihnen
finanziell entschädigt. Dass es auch Schwindler gab, die als angeblich
Traumatisierte Ansprüche anmeldeten, ist eine unschöne Nebenerscheinung.
Bis 2019 wurden 15 solche Betrüger gerichtlich verurteilt.
## Schrecken an Leib und Seele
Der Fotograf [6][David-Fritz Goeppinger,] ein französisch-chilenischer
Doppelbürger, der im Bataclan zu den von den Terroristen festgehaltenen
Geiseln gehörte, hat zwei Bücher über seine schwierige Zeit danach und
seine PTBS geschrieben. Er spricht darüber, wie von einer „chronischen
Krankheit“. Es sei für ihn, als müsse er „mit einem toxischen Ding
zusammenleben“, das regelmäßig das Unterbewusstsein und den Albtraum
reaktiviere.
Ähnliches sagt Arthur Dénouveaux, der die Opfervereinigung Life for Paris
gegründet und ebenfalls ein Buch veröffentlicht hat. Er ärgert sich über
Kommentare wie „Das wird schon wieder gut!“ oder die
Besserwissergesellschaft, die von den Opfern etwas drängend eine Art
Resilienz erwarte, die am ehesten Nietzsches Motto „Was mich nicht
umbringt, macht mich stärker“ gleichkomme.
Zwei Filme („[7][Revoir Paris]“ und „[8][Novembre]“) und eine gegenwärtig
in Frankreich ausgestrahlte 8-teilige Fernsehserie, „[9][Des Vivants]“,
möchten ebenfalls die Probleme der traumatisierten Überlebenden
verständlicher machen. In der Studie „Remember“ wird unterstrichen, wie
wichtig es für diese sei, dass sie nicht vergessen, sondern als Opfer
anerkannt werden. Wie Kriegsversehrte. Mehr als alle anderen fürchten die
bei den Attentaten Traumatisierten, dass sich der Horror des Terrors im
Bataclan anderswo wiederholen könnte. Seither gab es weitere islamistisch
motivierte Attentate. Jedes Jahr werden Pläne für Anschläge gerade noch
rechtzeitig vereitelt.
Der 13. November 2015 ist kein abgeschlossenes Kapitel. [10][„Plus jamais“]
(„Nie wieder!“) hieß es in Europa auch nach dem Ersten Weltkrieg. Und wie
für die Veteranen und Opfer der Kriege ändern die Bücher, Filme, Beiträge
von Historikern oder auch die Gedenkanlässe am Donnerstag nichts an dem
Schrecken, den diese Menschen mit Leib und Seele erlebt haben.
13 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Ein-Jahr-nach-den-Anschlaegen-von-Paris/!5353739
(DIR) [2] /Schwerpunkt-9/11/!t5112232
(DIR) [3] https://soztheo.de/glossar/sicherheitsdispositive/
(DIR) [4] https://www.sgdsn.gouv.fr/vigipirate
(DIR) [5] https://stm.cairn.info/revue-de-neuropsychologie-2016-3-page-155?tab=texte-integral
(DIR) [6] https://english.elpais.com/international/2025-11-11/david-fritz-victim-of-2015-mass-shooting-at-bataclan-in-paris-the-worst-wound-for-a-survivor-is-guilt.html
(DIR) [7] https://www.imdb.com/de/title/tt15329224/
(DIR) [8] https://www.imdb.com/de/title/tt14542254/
(DIR) [9] https://www.imdb.com/de/title/tt35363719/
(DIR) [10] https://fr.wikipedia.org/wiki/Plus_jamais_la_guerre
## AUTOREN
(DIR) Rudolf Balmer
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