# taz.de -- Akten im Fall Lorenz A.: Ein Lehrstück der Täter-Opfer-Umkehr
> Lange bevor die Ermittlungen im Fall Lorenz A. beendet waren, verfestigte
> sich das Narrativ vom gefährlichen Kriminellen. Die Polizei trug dazu
> bei.
(IMG) Bild: Durch Polizeischüsse tödlich verletzt: Am Tatort in der Oldenburger Innenstadt erinnert ein stilisiertes Foto an Lorenz A
Die Staatsanwaltschaft Oldenburg erhebt [1][Anklage wegen fahrlässiger
Tötung] gegen den Polizisten, der den 21-jährigen Lorenz A. am Ostersonntag
mit mehreren Schüssen von hinten tötete. Die Rechtsbeistände kritisieren
die Ermittlungen und fordern Anklage wegen Totschlags. Jetzt liegt die
Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bei dem Landgericht
Oldenburg. So weit die juristische Beurteilung des Falls.
Schon lange bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren, hatte sich jedoch
in vielen Teilen der Öffentlichkeit das Narrativ eines angeblich
gefährlichen Kriminellen verfestigt, gegen den sich der Polizist schlicht
hätte wehren müssen. In den sozialen Medien, und auch in Zuschriften an die
taz, wurde die Tötung damit nicht nur gerechtfertigt, sondern regelrecht
gefeiert.
Einen nicht unerheblichen Beitrag zu dieser Täter-Opfer-Umkehr hat die
Polizei geleistet. In der Öffentlichkeit, aber auch in den Ermittlungen.
Denn nachdem ihr Kollege den 21-Jährigen erschossen hatte, [2][ermittelte
die Polizei Oldenburg – gegen den getöteten Lorenz A.]
Ermittlungen gegen Tote sind eigentlich verboten. Die Staatsanwaltschaft
sprach gegenüber der taz von einer automatisch eingeleiteten Formalie wegen
der Auseinandersetzung vor der Bar, bei der A. Pfefferspray versprüht haben
soll. Das Verfahren sei nach seinem Tod zügig eingestellt worden.
## Ermittlungen gegen Lorenz A. eingeleitet
Dieser Darstellung widerspricht die Anwältin von A.s Mutter, Lea Voigt.
Mehrere Wochen habe die Polizei gegen den Toten ermittelt, sogar Zeugen
befragt: „Das Signal, das damit gegenüber den Angehörigen gesendet wurde,
ist nicht gerade vertrauensfördernd: Lorenz wird vom Opfer zum
Beschuldigten gemacht – und zwar von der Polizei Oldenburg“.
Die Ermittlungen gegen den Schützen scheinen, anders als gegen den
Erschossenen, auf Sparflamme gelaufen zu sein. Hier haben die Ermittler,
bis auf den Streifenpartner des Polizisten, keine der beteiligten Beamten
und Rettungskräfte vernommen, kritisiert Voigt. Das Handy des Schützen
wurde erst nach fast drei Tagen beschlagnahmt, das seines Kollegen gar
nicht.
Was sich die Beamten dagegen genau angeschaut haben: das Handy von A.
Entgegen der Anordnung der Staatsanwaltschaft habe die Polizei „sämtliche
Daten grob gesichtet“, nicht nur die für den Tatzeitpunkt relevanten, so
Voigt. Gegen den Polizisten können sich diese Ermittlungen nicht gerichtet
haben. In den Akten werde A. laut Voigt teilweise als „Täter“ bezeichnet.
## Ermittlungsverfahren sind noch lange keine Vorstrafen
Dieses intern offenbar vorherrschende Bild hat dann schnell seinen Weg an
die Öffentlichkeit gefunden. Nur wenige Tage nach A.s Tod meldete [3][das
Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass er „für die Polizei kein Unbekannter“]
gewesen sei. Mehrere Ermittlungsverfahren habe es gegeben.
Ein besonders gefährlicher „krimineller“ „Straftäter“ sei er gewesen,
rechtfertigen nun viele die Schüsse. Aber nicht nur sind
Ermittlungsverfahren noch lange keine Vorstrafen. Die eingesetzten
Polizist:innen wussten, laut den niedersächsischen Behörden, in der
Tatnacht gar nicht, wen sie suchten. Trotzdem verschob sich jetzt der Fokus
vom Polizisten zu A.
Die Informationen samt genauen Tatvorwürfen sind so detailliert, dass sie
nur aus Polizeikreisen stammen können. Der Verdacht liegt nah, dass hier
ein Kollege Dienstgeheimnisse durchgestochen hat, um den Erschossenen zu
diskreditieren.
Die Polizei Oldenburg wollte auf Anfrage nicht ausschließen, dass die
Informationen aus Polizeikreisen stammen, und konnte nicht erklären, wie
Dritte an sie gelangt sein könnten. Ein „hinreichender Anfangsverdacht“ für
interne Ermittlungen liege aber nicht vor. Auch die Staatsanwaltschaft
sieht keinen Anlass zu ermitteln, wie sie auf Anfrage mitteilte. Gegen A.
ermittelten die Behörden trotz strikten Verbots.
## Debatte über Rassismus und Polizeigewalt
Die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt in Reaktion auf die Tötung
brachten das Bild des „Täters“ A. ins Wanken. Schnell gingen die medial
omnipräsenten Polizeigewerkschaften dagegen in die Offensive. Sie warnten
vor „Vorverurteilungen“, sahen in Forderungen nach unabhängigen
Ermittlungen einen Angriff auf die Gewaltenteilung und wiesen
„Rassismusvorwürfe“ weit von sich.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen, [4][Kevin
Komolka, argumentierte im Interview mit dem NDR], dass der Polizist in der
Stresssituation gar nicht hätte erkennen können: „Handelt es sich um eine
Person of Colour? Oder handelt es sich um einen jungen Deutschen?“ Deutsche
PoC, wie Lorenz A., existieren in seinem Weltbild wohl nicht.
Die Hinterbliebenen von Lorenz A. erzählen, dass sie keinerlei Vertrauen in
die Polizei haben. Verübeln kann man es ihnen nicht. Die Ermittlungen gegen
den Schützen liefen offenbar zögerlich, stattdessen nahmen die Behörden A.
ins Visier. Angefeuert von dieser Täter-Opfer-Umkehr sind die Angehörigen
seit Monaten übelster rassistischer Hetze ausgeliefert.
Es ist wie so oft in Fällen von tödlicher Polizeigewalt, besonders gegen
PoC: Die Polizei schützt sich selbst, anstatt aufzuklären. Ohne unabhängige
Kontrolle wird sich das nicht ändern.
6 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Fall-Lorenz-A/!6127100
(DIR) [2] /Todesschuesse-auf-Lorenz-A-in-Oldenburg/!6123969
(DIR) [3] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/oldenburg-nach-toedlichem-polizeieinsatz-videoaufnahme-zeigt-was-vor-den-schuessen-geschah-a-81cb440a-bfb9-4331-92c1-94bb58f6bc2d
(DIR) [4] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/oldenburg_ostfriesland/Nach-toedlichen-Polizeischuessen-Gewerkschaft-warnt-vor-Vorverurteilung,komolka102.html
## AUTOREN
(DIR) Aljoscha Hoepfner
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