# taz.de -- Buch über US-Verfassung: Zerrieben zwischen den Fronten
       
       > In „We the People“ zeichnet die Historikerin Jill Lepore die Aushöhlung
       > der US-Verfassung nach. Diese sei nur noch ein „humpelnder Schatten“.
       
 (IMG) Bild: Intended to be amended: Besucher*innen bestaunen die originalen vier Seiten der amerikanischen Verfassung und ihre 27 Zusätze
       
       Wenn man einst im Rückblick rekonstruieren wird, wie Donald Trump in den
       USA die Macht auf seine Person konzentriert hat, dann wird der 1. Juli 2024
       ein zentrales Datum sein. An diesem Tag beschloss der Oberste Gerichtshof
       der USA, der Supreme Court, dass Trump für Straftaten, die er im Amt
       begeht, nicht belangt werden kann. Zur Diskussion standen seine Versuche,
       im Nachhinein das Ergebnis der Wahl von 2020 zu manipulieren. Im Ergebnis
       bedeutet das Urteil, dass [1][Trump], so lange er im Amt ist, einem
       Monarchen gleich, tun kann, was er will.
       
       Das Urteil war ein neuer Tiefpunkt bei der Aushöhlung der US-Verfassung,
       welche die Historikerin Jill Lepore in ihrem neuen, gründlich
       recherchierten Buch „We the People“ nachzeichnet. „Die Verfassung ist nur
       noch ein humpelnder Schatten“, resümiert sie nach 700 dichten Seiten. Ein
       Verfallsprozess, der ihrer Argumentation zufolge, schon lange vor Trump
       angefangen hat. Trump versetzt laut Lepore der ohnehin am Boden liegenden
       Verfassung und ihrer Prinzipien nur den Gnadenstoß.
       
       Schuld am Niedergang der ältesten und einflussreichsten demokratischen
       Verfassung der Welt ist laut Lepore eine Rechtsphilosophie, die sich
       konservative Politiker und Juristen seit der Ära Ronald Reagans zu eigen
       gemacht haben. Sie nennt sich Originalismus und fordert, dass die
       Verfassung stets nur in dem Sinne gelesen und angewendet werden darf, in
       dem sie im Jahr 1787 aufgeschrieben wurde.
       
       ## Alle Macht in der Hand des Präsidenten
       
       So berief sich das Oberste Gericht, das seit Trumps erster Amtszeit eine
       Mehrheit von sechs zu drei konservativen Richtern besitzt, bei seinem
       Immunitätsurteil auf den umstrittenen Artikel II der Verfassung, der ihrer
       Meinung nach alle Macht der Exekutive in die Hand des Präsidenten legt. Der
       oberste Beamte des Landes, so die Richter, müsse in Ausübung seiner
       Funktion einen maximalen Handlungsspielraum haben.
       
       So sei Trump von der Verfassung gedeckt gewesen, als er den Staatssekretär
       von Georgia angerufen habe, um ihn unter Druck zu setzen, das Wahlergebnis
       zu korrigieren. Er habe dabei genauso in seiner Funktion als Präsident
       gehandelt, wie bei dem Gespräch, bei dem er Vizepräsident Pence dazu
       bringen wollte, Bidens Wahl nicht zu ratifizieren.
       
       Die liberale Minderheit im Gericht, die dem Präsidenten wesentlich weniger
       Macht zugesteht, war von dieser Argumentation freilich nicht überzeugt.
       „Die Konservativen legen sich die Geschichte gerade so zurecht, wie sie das
       brauchen“, kritisierte die liberale oberste Richterin Sonja Sotomayor in
       ihrem abweichenden Gutachten den Beschluss.
       
       Für Jill Lepore ist, wie für Sotomayor, diese Art und Weise, die Geschichte
       zu instrumentalisieren, der Feind des Rechtsstaats. Entgegen der
       Originalismus-These, welche die Verfassung zum Zeitpunkt ihrer
       Ratifizierung als Gott gegeben und unantastbar ansieht, beschreibt Lepore
       das amerikanische Grundrecht als unfertigen Entwurf, der zur ständigen
       Überarbeitung und Anpassung einlädt. „It was intended to be amended“ lautet
       das Epigraph des Werkes, ein Zitat aus einem Bugs-Bunny-Cartoon, der
       Kindern die Verfassung erklären soll. Entsprechende Belege findet sie in
       den Papieren der Gründerväter. Sie wussten, dass die Verfassung
       unvollkommen ist und wenn diese eine Chance haben sollte, die Zeiten zu
       überdauern, dann musste es die Möglichkeit geben, sie immer wieder den
       Gegebenheiten anzupassen. Die Verfassung, so Lepore, sei ein lebendes
       Dokument.
       
       Um zu zeigen, dass eine demokratische Verfassung flexibel und unfertig
       bleiben muss, hat Lepore eine umfassende Wirkungsgeschichte der Verfassung
       der Vereinigten Staaten vorgelegt, die sich trotz des trockenen Themas
       gerade vor dem Hintergrund unserer Gegenwart überaus spannend liest. Dabei
       bietet sie eine ebenso große Materialfülle, wie in ihrem voran gegangenen
       Buch, „These Truths“, das unter Konservativen und MAGA-Typen gleichermaßen
       unbeliebt war: Sie hatte damit die erste umfassende Geschichte der USA
       geschrieben, die diese als fortgesetzten Kampf um Inklusion erzählte.
       
       Es war nicht eben das Material, das Trump und seine Anhänger in Schulen und
       Colleges sehen möchten, wo nur noch Narrative geduldet werden, die den
       Glanz und die Größe Amerikas lobpreisen. Mit ihrem neuen Buch bekräftigt
       Lepore nun ihre Auffassung der US-Geschichte als endlosen, harten Kampf um
       die Verwirklichung der amerikanischen Ideale. Amerika ist für sie alles
       andere als „great“, darf aber gleichzeitig niemals aufhören, danach zu
       streben.
       
       Der Selbsterneuerungsprozess der US-Verfassung wurde im Artikel V der
       Verfassung vorgegeben, der die Verabschiedung von Verfassungszusätzen
       regelt. Doch der Artikel wurde in der Geschichte der USA erstaunlich selten
       genutzt. Noch vor Ende des 18. Jahrhunderts wurden 11 Verfassungszusätze
       verabschiedet, in den 225 Jahren seither gerade einmal 16. Darunter
       befanden sich allerdings so bahnbrechende Artikel wie die Garantie des
       Frauenwahlrechts und die Garantie des Wahlrechts ungeachtet der Rasse und
       Ethnizität.
       
       ## Abtreibung und Waffen
       
       Der letzte Verfassungszusatz, der das Alter für das Wahlrecht auf 18 Jahre
       senkte, wurde 1971 beschlossen. Kurz darauf begann, im Sog der kulturellen
       Umwälzungen der 1960er Jahre, die extreme Polarisierung der amerikanischen
       Politik. Supermehrheiten, wie sie im Kongress für die Verabschiedung von
       Verfassungszusätzen nötig sind, waren nicht mehr zu bekommen.
       
       So hatte die Geschichte des Originalismus, laut Lepore, „alles mit
       Abtreibung und alles andere mit Waffen zu tun“. Es waren die beiden Themen,
       zu denen in jener Ära alle Amerikaner eine leidenschaftliche Meinung hatten
       – jeder dritte Amerikaner hat eine Waffe, jede vierte Frau nimmt eine
       Abtreibung in Anspruch. Für die Konservativen, so Lepore, bedeutete
       Abtreibung Mord und Waffen Freiheit. Für die Liberalen war es genau
       umgekehrt. Die Kulturkämpfer auf beiden Seiten hatten sich seit Beginn der
       Siebzigerjahre in ihren Schützengräben eingebuddelt.
       
       Das frustrierte zu jener Zeit insbesondere die Konservativen, die gerne
       einen Verfassungszusatz zum Verbot der Abtreibung erlassen hätten. Im
       Angesicht dieser Unmöglichkeit, so argumentiert Lepore, wurde die
       Rechtsphilosophie des Originalismus erfunden. „Originalismus entstand aus
       dem Scheitern der Konservativen an der demokratischen Verfassungsänderung.“
       
       ## Wandel ohne Gewalt
       
       Die Doktrin wurde vom damaligen Rechtsgelehrten und späteren obersten
       Bundesrichter Antonin Scalia ausformuliert, den Lepore als charismatischen
       konservativen Gentleman der alten Schule beschreibt: Pfeifenraucher,
       Truthahnjäger und kultivierter Opernliebhaber. Für ihn sei die Verfassung
       dazu da gewesen, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Lepore setzt dem
       entgegen, dass die Verfassung dazu da sei, Wandel ohne Gewalt zu
       ermöglichen.
       
       Wenn schon keine Verfassungsänderungen mehr möglich sind, um traditionelle
       Werte zu schützen, so Scalias Hoffnung, dann sollte die Umsetzung der
       Philosophie des Originalismus wenigstens garantieren, dass die
       Entscheidungen im Supreme Court die für Konservative wünschenswerten
       Ergebnisse bringen. So vor allem die Revision des Urteils [2][Roe versus
       Wade], welches das Recht auf Abtreibung garantierte.
       
       Im Text der Verfassung, so das Argument der Originalisten, sei nichts von
       einem Recht auf Abtreibung zu lesen, deshalb sei das Roe-Urteil
       verfassungswidrig. Um das Urteil revidieren zu können, machte es Ronald
       Reagan, der die christlichen Wähler des Südens umgarnte, daraufhin zum
       Kriterium für eine Nominierung zum Supreme Court, dass der Richter
       Originalist ist. Gleichzeitig erklärte sein Justizminister Edwin Meese den
       Originalismus zur offiziellen Staatsdoktrin.
       
       Um die Oberhand für die konservative Fraktion zu gewinnen nominierte Reagan
       zwei Originalisten: Scalia und William Rehnquist. Doch es gelang nicht, das
       Recht auf Abtreibung zurück zu nehmen. Der erste ganz große Triumph für die
       Originalisten musste auf sich warten lassen. Erst nachdem die beiden
       Bush-Präsidenten insgesamt vier weitere Originalisten nominierten, konnte
       Scalia mit einem Urteil eine folgenschwere politische Wende in den USA
       herbeiführen. Im Jahr 2007 urteilte der Supreme Court aufgrund sorgsam
       ausgewählter historischer Dokumente, dass das Recht auf Waffenbesitz schon
       immer zur individuellen Selbstverteidigung gedacht war und nicht bloß im
       Zusammenhang einer wohl reglementierten Miliz. Der Markt für Schusswaffen
       wurde dereguliert, der Waffenbesitz in den USA explodierte. Wirkungsvolle
       Gesetzgebung zur Waffenregulierung ist seither praktisch nicht mehr
       möglich.
       
       Nachdem Trump in seiner ersten Amtszeit dann gleich drei Originalisten für
       den Supreme Court benennen konnte, ist das Gericht fest und auf lange Zeit
       in originalistischer Hand. Dabei sind bisher Urteile wie die lange ersehnte
       Revision von Roe versus Wade heraus gekommen, die Immunität für Trump oder
       etwa die Erlaubnis, den mehr als 200 Jahre alten Paragraphen zur
       Internierung „fremder Feinde“ ohne Rechtsschutz, eigentlich für den
       Kriegsfall gedacht, auf Einwanderer anzuwenden. In immer mehr Fällen macht
       sich der Supreme Court gar nicht mehr die Mühe, seine Entscheidungen
       zugunsten von Trump ausführlich zu begründen. Seine Exekutivbeschlüsse
       werden mit einem Absatz durchgewunken – so zuletzt das Recht, Menschen nur
       aufgrund ihrer [3][Hautfarbe] zu internieren.
       
       Lepore zieht in ihrem Buch das Fazit, dass die Verfassung aus dem letzten
       Loch pfeift. Um überleben zu können, braucht sie ihre Flexibilität zurück,
       und die Fähigkeit, sich den Zeiten anzupassen. Diese Kraft hat sie jedoch
       schon lange eingebüßt. Und Trump ist dabei, ihr den Rest zu geben.
       
       23 Nov 2025
       
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