# taz.de -- Sofi Oksanen über Kindesentführungen: Vor den Augen der Welt
       
       > Unzählige Satellitenaufnahmen zeigen, wie das russische Regime
       > ukrainische Kinder entführen lässt. Warum sind wir nicht in der Lage,
       > Verbrechen klar zu benennen?
       
 (IMG) Bild: Die Autorin Sofi Oksanen Sofi Oksanen auf der Konferenz der Schwedischen Akademie, Stockholm 2023
       
       Als ich klein war, begannen meine estnischen Cousins und Cousinen, die ein
       wenig älter waren als ich, sich Sorgen um ihre Größe zu machen. Ihr Vater
       war klein für einen Mann, und seine Kinder fragten sich, ob sie ebenfalls
       so klein bleiben würden. Doch so kam es nicht – ihr Vater war einen Kopf
       kleiner als ich, doch seine Nachkommen wurden groß, viel größer als ich.
       
       Dass ihr Vater von kleiner Statur war, hatte einen Grund. Im März
       deportierte 1949 die Sowjetunion 20.073 Menschen aus dem von den Sowjets
       besetzten Estland, und er war mit vierzehn Jahren einer davon. In Sibirien
       überlebte er, indem er Kartoffelschalen aß, und verlor so einige Zentimeter
       Wachstum, kehrte aber im Gegensatz zu vielen anderen lebend zurück. Die
       Kindersterblichkeit unter den Deportierten war hoch.
       
       Das [1][als Gulag bekannt gewordene Lagersystem] sollte eigentlich ewig
       bestehen, wurde aber in den Jahren nach Stalins Tod 1953 abgebaut, worauf
       die Insassen nach jahrelanger Lagerhaft wieder in die Gesellschaft
       entlassen wurden. Die Mehrheit hatte kein Zuhause, in das sie zurückkehren
       konnten. Was sie besessen hatten, war konfisziert worden. In Estland waren
       russische Siedler in ihre Häuser gezogen. Mein Onkel hatte in Sibirien wie
       die anderen Deportierten fließend Russisch zu sprechen gelernt, doch das
       half ihm bei den Problemen nicht weiter, vor denen er nach seiner Rückkehr
       in die Heimat stand: Weil sein Schulbesuch mit der Verschleppung geendet
       hatte, besaß er kein Zeugnis über irgendeinen Schulabschluss, was er aber
       für jede Art der Weiterbildung benötigte.
       
       So wie auch für die Jobsuche. Schließlich gelang es ihm, einen Platz in
       einer Fahrschule zu ergattern, deren Leiter Mitleid [2][mit ehemaligen
       Lagerinsassen] hatte. Nicht alle zeigten so viel Verständnis – viele mieden
       den Kontakt mit Menschen, die das Stigma ehemaliger Volksfeinde trugen.
       Doch mit einem Führerschein konnte er sich Arbeit in einem Holzfällerlager
       besorgen, wo er den Holzlaster fuhr.
       
       ## Herkunft als einziges Verbrechen
       
       Mein Onkel war nicht deportiert worden, weil er irgendetwas GETAN hatte.
       Als Teenager hatte er sich nicht an antisowjetischen Aktivitäten beteiligt;
       er war kein „Waldbruder“ gewesen, kein Widerstandskämpfer wie mein
       Großvater. Er war nicht wie die Brüder meiner Großmutter, die gegen die
       Besatzer zu den Waffen gegriffen hatten und, gejagt vom sowjetischen
       Geheimdienst NKWD, ums Leben gekommen waren. Und er war auch nicht wie der
       Bruder meines Großvaters, der ebenfalls verschleppt wurde – allerdings als
       Erwachsener – und in dessen Akten sich immerhin der Vermerk befindet, dass
       er wegen Verbrechen gegen die Sowjetunion verurteilt worden war, mit dem
       Datum des Urteils daneben. Mein Onkel hingegen wurde in den sowjetischen
       Schauprozessen nie wegen irgendetwas verurteilt.
       
       Er wurde als Kind nur aus einem einzigen Grund verschleppt: Er war Este –
       Sohn estnischer Eltern, Kind eines Mannes, der bereits Jahre zuvor wegen
       Widerstands gegen die sowjetische Besatzung ins Lager gekommen war.
       
       Das Stigma der Deportation folgte meinem Onkel sein ganzes Leben, so wie
       allen Deportierten. Während der Perestroika wurden viele von ihnen
       rehabilitiert, doch zu dem Zeitpunkt war mein Onkel bereits Rentner.
       Immerhin konnte der sowjetische Terror jetzt öffentlich angesprochen
       werden. Vorher redete man nur in vertrauenswürdiger Gesellschaft darüber.
       Doch selbst diesen Menschen gegenüber verwendeten wir Euphemismen wie „das
       kalte Land“ statt Wörtern wie „Verschleppungen“. Wir sprachen über
       Menschen, die „geholt wurden“, und niemand musste aussprechen, wohin sie
       gebracht wurden, das wussten wir alle.
       
       Als während des russischen Überfalls auf die Ukraine die Verschleppung
       ukrainischer Kinder ans Licht kam, erregte das weltweit Aufmerksamkeit. Ich
       war jedoch erstaunt, wie schnell das Thema wieder aus der medialen
       Öffentlichkeit und der politischen Diskussion verschwand. Kürzlich traf ich
       eine Journalistin, die nach meiner Rede über die Deportationen überrascht
       war, weil sie dachte, das Problem müsse doch schon gelöst worden sein, und
       als ich sie fragte, wie sie denn darauf komme, antwortete sie, wenn so
       etwas geschehe, dann erwarten wir von den zuständigen Regierungen und
       Behörden, dass sie das Problem lösen, und wenn nicht mehr darüber berichtet
       werde, nehmen wir an, dass genau das geschehen sei, denn sonst bekämen wir
       ja ständig weitere Berichte, oder?
       
       ## Nur wenige Kinder kehrten zurück
       
       Seit Russland nach der Besetzung der Krim 2014 mit den Deportationen
       begann, habe ich zu begreifen versucht, wieso diesem Verbrechen so wenig
       Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bisher sind etwa 35.000 ukrainische Kinder
       nach Russland verschleppt worden, und nur wenige von ihnen konnten
       zurückkehren.
       
       Während der sowjetischen Besatzung der baltischen Staaten versuchten wir,
       uns mit Hilfe von Euphemismen und dem Schreiben und Lesen zwischen den
       Zeilen zu schützen. Darin mag aber vielleicht auch einer der Gründe liegen,
       warum die Reaktion der westlichen Staaten auf die Deportationen so
       schwammig ausfällt. Wegen des Eisernen Vorhangs haben wir fünfzig Jahre
       verloren, um unsere Geschichte, unsere großen Ereignisse, unsere großen
       Erzählungen im Bewusstsein des Westens zu verankern.
       
       Nachdem die Est:innen ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, begannen sie
       sofort, sich auch von der Sprache der Sowjetunion zu dekolonisieren, doch
       inzwischen ist deutlich geworden, dass es nicht gereicht hat, und wie
       sollte es auch?
       
       Die westlichen Länder haben den kolonialen russischen Blick bereits während
       der Zarenzeit übernommen, und die Sowjet-Ära hat daran nichts geändert. In
       den baltischen Staaten gehören Deportationsgeschichten zu den wichtigsten
       Identitätserzählungen, doch für den Westen existieren sie nicht oder
       gehören bloß zur Lokalgeschichte. Der frühere Ostblock – der die Hälfte von
       Europa ausmacht – hat die Erfahrung zweier unterschiedlicher totalitärer
       Systeme gemacht, und trotzdem ist unsere Erfahrung immer noch nicht
       anerkannter Teil der gemeinsamen Erzählung des europäischen Kontinents
       geworden. Sie wurde nie zu einer historischen Erinnerung des gesamten
       Europas.
       
       ## Klare Wortwahl
       
       Die Ukrainer:innen bezeichneten die Deportationen, als sie begannen, zu
       Recht als Verschleppungen und Entführungen. Das sind klare, präzise und
       verständliche Wörter. Diese Wortwahl war klug, denn die Ukrainer:innen
       mussten die Information über das Geschehen in einer Weise verbreiten, die
       auch für Menschen verständlich war, die nichts über ukrainische Geschichte
       wussten oder über die vorherigen Deportationen, verständlich für Menschen,
       die den russischen Blick übernommen hatten, ohne sich darüber im Klaren zu
       sein, und hätte ich es besser gewusst, als ich vor über zwanzig Jahren über
       genau dieses Thema zu schreiben anfing, ich hätte genau diese Wörter
       gewählt.
       
       Aber das hätte ich gar nicht gekonnt, denn als meine ersten Bücher in den
       2000er Jahren veröffentlicht wurden, hatte Russland den Kampf gegen die
       Geschichte und die Fakten bereits begonnen. Ich verwendete die Wörter aus
       Geschichtswissenschaft und Forschung, damit deutlich wurde, dass ich über
       Ereignisse schrieb, die im echten Leben passiert waren, über Verbrechen,
       die von internationalen, unabhängigen Forscher:innen untersucht worden
       waren.
       
       Zum russischen Vorgehen, das wahre Wesen der Deportationen zu leugnen,
       gehört auch das Verhöhnen der Opfer. Als die Prozesse gegen die Menschen
       begannen, die an den Deportationen in Estland beteiligt waren, verwandelten
       die russischen Medien die Gerichtsverhandlungen in eine Zirkusschau, in der
       russische Kinder den Tätern Nelken brachten und sie als Helden verehrten.
       Sie können sich sicher vorstellen, wie sich das anfühlte, wenn ich Ihnen
       sage, dass wir das Leugnen der Verschleppungen so ernst nehmen wie das
       Leugnen des Holocausts.
       
       Doch ich habe den Eindruck, dass niemand sonst diese russischen
       Desinformationskampagnen ernst nahm. Der Kreml wertete das als schweigende
       Zustimmung, was ihn im Glauben bestärkte, bei den nächsten Deportationen
       würde die Reaktion genauso ausfallen, und als sie dann in der Ukraine
       losgingen, verwendete Russland sogar die gleichen Formulierungen wie die
       putinistischen Aktivist:innen damals, als ich über die Deportationen
       der 1940er zu schreiben begann. Sie nannten die Lager zu der Zeit
       „Sommerlager“ und die Verschleppung „Sommerferien“. Jetzt stiehlt Russland
       ukrainische Kinder unter dem Vorwand, sie in Ferien- und Sommerlager zu
       bringen, und das können sie tun, weil sich im internationalen Kontext
       niemand widersetzt hat, als sie historische Fakten verzerrten.
       
       ## Verfassungsänderungen von 2020
       
       Das Wesen früherer Deportationen abzustreiten, ist für die Russische
       Föderation so wichtig, dass die Verbreitung von Informationen über diese
       Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Russland inzwischen eine Straftat
       ist.
       
       Als Russland 2014 die Halbinsel Krim annektierte, wurde die Glorifizierung
       der Sowjetunion ins Strafgesetzbuch der Russischen Föderation aufgenommen:
       Es ist eine Straftat, „Falschinformationen“ über das Vorgehen der
       Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg zu verbreiten. Aus unserer Perspektive
       bedeutet das zum Beispiel, dass wir gehindert werden, Informationen über
       unsere Deportationserfahrungen zu verbreiten.
       
       Die Verfassungsänderungen von 2020 waren ein Schlachtruf und hätten früher
       oder später unweigerlich zu einer Eskalation der Kämpfe in der Ukraine
       geführt, denn sie bestreiten die Unabhängigkeit der Ukraine. Artikel 67.1
       gliederte die Verfassung der Russischen Föderation in die „tausendjährige
       Geschichte“ Russlands ein und nahm damit Bezug auf das Reich der Kiewer Rus
       (862-1242), das Vorläufer-Staatsgebilde des heutigen Russlands, von Belarus
       und der Ukraine.
       
       Nach der von Russland gefälschten Geschichte bedeutet diese Kiewer Rus,
       dass Russ:innen, Ukrainer:innen und Belaruss:innen zu einem
       vereinten Volk gehören. In dieser Geschichtsprojektion sind Russland, die
       Ukraine und Belarus keine eigenständigen Nationen, sondern eher
       Bevölkerungsgruppen der Kiewer Rus, die gemeinsam die Russische Föderation
       bilden.
       
       Artikel 67.3 der Verfassung der Russischen Föderation „ehrt die Erinnerung
       an die Verteidiger des Vaterlandes und sorgt für den Schutz der
       historischen Wahrheit.“
       
       Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu den Jahren der Perestroika, als die
       Deportationen zu rechtswidrigen, kriminellen Handlungen des stalinistischen
       Regimes erklärt wurden, zum ersten Mal 1956, dann wieder von 1989 bis 1991.
       
       ## Den Weg geebnet für zukünftige Deportationen
       
       Doch Russlands älteste Menschenrechtsorganisation, die das Gedenken an die
       Opfer sowjetischer Verbrechen wachhält und Daten dazu sammelt – Memorial –
       wurde 2015 als „ausländischer Agent“ eingestuft, und 2021 [3][ordnete das
       Oberste Gericht Russlands die Auflösung der Organisation an.] Die Anklage
       behauptete, Memorial „erzeuge ein falsches Bild der Sowjetunion als
       terroristischer Staat“.
       
       All das ebnete den Weg für die zukünftigen Deportationen und die
       Umerziehung ukrainischer Kinder. Die Aktualisierung traditioneller
       Deportationspolitik geschieht nicht über Nacht. So etwas erfordert
       langfristige Planung, und als Russland mit der Invasion begann, war der
       Plan zur Entführung ukrainischer Kinder bereits vorhanden.
       
       Solche Taten brechen zwar das Völkerrecht, aber innerhalb der Russischen
       Föderation sind sie legalisiert worden. In den letzten beiden Jahren hat
       Putin persönlich Gesetzesänderungen in die Wege geleitet, welche die rasche
       Einbürgerung ukrainischer Kinder erleichtert, und hat staatliche Mittel zur
       Finanzierung dieser Initiativen bereitgestellt. Unter präsidialer
       Verwaltung stehende Einrichtungen haben diese Kinder beherbergt, und das
       Präsidialamt hat Adoptions-Datenbanken finanziert. Die Mitwirkung von
       Sicherheitsdiensten war integraler Bestandteil der Operation.
       
       ## Drei Wellen von Deportationen
       
       Nicht zum ersten Mal leidet die Ukraine durch solche Verbrechen, verübt
       durch denselben Aggressor. Zwischen 1925 und 1941 sah sich die Ukraine drei
       Wellen von Deportationen ausgesetzt, die alle eine „Ent-Ukrainisierung“ zum
       Ziel hatten und in deren Verlauf 10-20 Prozent der Bevölkerung verschleppt
       wurden. In Estland kam es im Juni 1941 zu den ersten massenhaften
       Deportationen, wobei etwa ein Drittel der Entführten Kinder und Jugendliche
       waren. Bei den März-Deportationen, denen mein Onkel zum Opfer fiel, war das
       Verhältnis das gleiche. Ähnliche Operationen wurden zeitgleich in den
       anderen sowjetisch besetzten baltischen Staaten durchgeführt, und auch vor
       der Gründung der Sowjetunion hatte das Russische Reich seine imperialen
       Ziele bereits mithilfe umfassender Deportationen verfolgt.
       
       Auch aus Finnland wurden Kinder gestohlen. Unsere Nationalerzählung „Die
       Birke und der Nordstern“, verfasst von Zacharias Topelius und 1852
       veröffentlicht, beruht auf der wahren Geschichte von Kindern, die während
       der russischen Besatzung des Landes als Sklaven nach Russland verschleppt
       wurden. Doch damals gab es noch keine Eisenbahnen, die später für
       massenhafte Deportationen genutzt wurden. Und in den 1940er Jahren hatten
       sie nicht genug Flugzeuge, um Zehntausende Menschen zu deportieren, aber
       sie hatten Züge und Viehwaggons. Das System entwickelt sich weiter:
       Deportierte werden dorthin geschickt, wo sie gebraucht werden. In den
       1940ern brauchte man Arbeiter für die Bergwerke und den Eisenbahnbau. Heute
       konzentriert man sich wegen der demografischen Probleme auf Kinder, und
       statt die Deportierten wie früher in Lagern oder Exilgemeinden zu
       isolieren, werden sie jetzt in die russische Gesellschaft assimiliert. Doch
       beide Methoden haben das gleiche Ziel – die nationale Identität der
       betroffenen Gruppen auszulöschen – und sind daher genozidale Praktiken.
       
       Auch heute sind erzwungene Umsiedlungen ein fundamentaler Bestandteil der
       imperialen Leitlinien Russlands. Nach der Beseitigung von
       Bevölkerungsgruppen, die für die Besatzungstruppen unerwünscht sind, folgt
       die nächste Phase, nämlich die Russifizierung der Verbliebenen. Russische
       Siedler:innen werden herbeigeschafft, um die deportierten Gemeinschaften
       zu ersetzen. Diese Methode wurde bei der Besetzung der baltischen Staaten
       angewandt, und diese Methode setzt Russland nun in den Territorien ein, die
       es der Ukraine gestohlen hat.
       
       Als die Welt 1945 das Ende des Zweiten Weltkriegs feierte und Estlands
       zweite Besatzung durch die Sowjets begonnen hatte, bestand die Bevölkerung
       Estlands zu 97,3 Prozent aus Esten. 1989 war dieser Anteil auf 61,5 Prozent
       gesunken. Das zeigt, wie effektiv diese russische Kolonisierungsmethode
       ist, doch in meiner Schulzeit wurde überhaupt nicht darüber gesprochen. Als
       ich für meinen Debütroman recherchierte, fand ich bei meiner Google-Suche
       nichts über russischen Kolonialismus, von Dekolonisierung ganz zu
       schweigen. Während meines Studiums an der Universität Helsinki stand nichts
       über russischen Kolonialismus auf meinen Lektürelisten. Als ich mich mit
       Gender Studies beschäftigte, war Dekolonisierung der Begriff der Stunde,
       aber das bezog sich nicht auf Russland oder Osteuropa. Es ging nur um den
       westlichen Übersee-Imperialismus. Nicht um den östlichen
       Siedlerkolonialismus, der zu Pferd vorangetrieben wurde.
       
       ## Koloniale Assimilierungspolitik zeigt Wirkung
       
       Dank der Ukraine ist die Situation inzwischen besser, aber der russische
       Blick lässt sich nicht innerhalb weniger Jahre dekolonisieren. Als ich
       meine ukrainische Freundin fragte, warum ihrer Ansicht nach die westliche
       Reaktion auf die Deportationen so windelweich ausfällt, gab sie mir eine
       düstere Antwort: „Die halten uns immer noch für Russen.“ Wenn das stimmt,
       ist die koloniale Assimilierungspolitik Russlands wirksamer, als man
       glauben möchte, denn sie betrifft nicht nur die Menschen in den von
       Russland kontrollierten Gebieten, sondern auch Menschen, die außerhalb
       Russlands leben. Sie hat auch Ihr Denken, Ihre Weltsicht, Ihre Werte und
       moralischen Maßstäbe beeinflusst.
       
       Russlands Kolonialpolitik ist so effizient, dass das westliche Sprechen
       über den Krieg überhaupt nicht den zentralen Aspekt des Krieges betont,
       seine eigentliche Ursache, mit dem die Deportationen so unmittelbar
       verknüpft sind. Und genau darum kann die Friedensrhetorik, die sich nur auf
       Grenzverläufe fixiert, auch niemals zu einem nachhaltigen und gerechten
       Frieden führen. Im Herzen des Krieges liegt Identitätspolitik:
       Ukrainer:innen sind keine Russ:innen und wollen auch keine
       Russ:innen werden, während Russland die Ukrainer:innen um jeden Preis
       zwingen will, Russ:innen zu werden. Darum stehen diese Kindesentführungen
       auch im Zentrum des Konflikts: Russland stiehlt ukrainische Kinder, um sie
       zu Russ:innen umzuerziehen, und sie tun das ganz offen, ohne es zu
       verbergen.
       
       Das ist der Unterschied zu den Massendeportationen der 1940er. In der
       Sowjetunion ließen sich Deportationen leicht vor der Welt verbergen. Die
       Kommunikation mit er Außenwelt war unterbrochen, Briefe wurden zensiert,
       Deportationszügen durfte man sich weder zu Fuß noch auf dem Fahrrad nähern,
       es war unmöglich, an sie heranzutreten, geschweige denn Fotos von ihnen zu
       machen. Jetzt hingegen kann die ganze Welt Russlands Vorgehen beobachten;
       Satellitenaufnahmen zeigen Busse, die an Flughäfen auf die Kinder warten,
       die in Flugzeugen des Präsidenten hergebracht wurden. Das scheint Russland
       jedoch gar nichts auszumachen.
       
       Ganz im Gegenteil. Sie verdrehen die Sichtbarkeit ihrer Taten, indem sie
       die Deportationen als „Evakuierungen“ oder „Rettungsmaßnahmen“
       verschleiern. Diese Taktik, Kindesentführungen als wohltätige Akte zu
       verkleiden, passt zur umfassenderen Erzählung des Kremls, die Russland als
       Retter darstellt. Das Narrativ von der Errettung dieser Kinder dient also
       auch innenpolitischen Zwecken, es soll Unterstützung für das generieren,
       was „militärische Spezialoperation“ genannt wird.
       
       ## Am hellichten Tage
       
       Diese Öffentlichkeitsarbeit könnte auch ein Grund für die schwache Reaktion
       der westlichen Staaten sein. Vielleicht ist ein Präsidialflugzeug ein zu
       eigenartiges Transportmittel für die Entführung von Kindern? Oder
       vielleicht liegt es einfach daran, dass diese Verbrechen am helllichten
       Tage begangen werden? Denn wer begeht schon schamlos ein Verbrechen vor
       aller Augen im hellen Tageslicht?
       
       Oder vielleicht nutzt Russland mit dieser ganzen Sichtbarkeit, den
       Hunderten von sogenannten „Freizeitlagern“ und den Präsidentenflugzeugen
       auch nur die Legende der „Großen Lüge“: Laut Adolf Hitler lassen sich
       Menschen dazu bringen, eine kolossale Lüge zu glauben, einfach weil sie
       nicht glauben können, dass jemand „die Unverfrorenheit besitze, die
       Wahrheit so ungeheuerlich zu verdrehen“.
       
       Vielleicht rührt die schwache Reaktion aber auch nur daher, dass die
       Menschen des Westens einfach das Verbrechen nicht erkennen.
       
       Und wer nicht in der Lage ist, das Verbrechen zu IDENTIFIZIEREN, wird auch
       nicht darauf reagieren können.
       
       ## Breites Wissen über NS-Verbrechen
       
       Wir haben eine ungeheure Menge von öffentlichen Erzählungen über
       Nazi-Verbrechen.
       
       Jedes Jahr erscheinen unzählige Bücher dazu überall auf der Welt – denn,
       wie ein Verleger es einmal ausdrückte, Nazis verkaufen sich immer. Die
       Streamingdienste bringen fast jeden Monat neue Filme und Serien über
       Deutschland unter Hitler heraus. Forscher:innen graben immer neue Daten
       und Perspektiven zum Thema aus – und offenbar werden sie in dieser Arbeit
       auch gefördert und finanziert, was ganz richtig so ist.
       
       Dank dieser kulturellen Aufmerksamkeit können wir die Gefahren des
       Nationalismus erkennen – solange es nicht um Russland geht.
       
       Weil Nazis faszinieren, können wir die Anzeichen ethnischer Verfolgung
       erkennen – solange der Verfolger nicht Russland heißt.
       
       Unsere Faszination mit dem Nationalsozialismus erlaubt es uns,
       Antisemitismus zu entdecken, auf Rassismus zu reagieren, und das können wir
       nur, weil wir gelernt haben, diese Übel offen und laut zu benennen, und
       weil wir eine moralische Einschätzung dieser Übel teilen – jedenfalls in
       der westlichen Welt.
       
       ## Wenig Wissen über Verbrechen des sowjetischen Regimes
       
       Im Gegensatz dazu ist die Anzahl der Bücher, die sich mit den Verbrechen
       des Kommunismus, der Sowjetunion oder Russlands beschäftigen, ungleich
       geringer. Der Unterschied ist gewaltig. Wollten wir diesen Abstand
       verringern, würde das nicht Jahre dauern, sondern Generationen.
       
       Wer an diesem Ungleichgewicht zweifelt, kann ja selbst nachzählen:
       Durchsuchen Sie alle Datenbasen und Streamingdienste und sehen Sie selbst,
       wie viele Arbeiten Sie über die Menschenrechtsverbrechen kommunistischer
       Regime finden – und wie viele über die der Nazis.
       
       Jeder Mensch weiß, wer Mengele ist, aber könnten Sie einen einzigen Namen
       der Ärzte nennen, die in der UdSSR in Giftlabors oder an Menschenversuchen
       arbeiteten? Wie viele Bücher über die Strahlentests an Gulag-Insassen in
       der Sowjetunion haben Sie gelesen? Wie viele Filme zu dem Thema haben Sie
       gesehen? Zu Recht kennt jeder Mensch den Namen Anne Frank, aber könnte
       irgendjemand den Namen eines Mädchens nennen, das nach Sibirien deportiert
       wurde und dort ums Leben gekommen ist?
       
       Unser moralischer Kompass richtet sich an öffentlichen Narrativen aus – an
       Büchern, Filmen, Fernsehserien, Nachrichten und Reportagen. An Kunst.
       
       Wenn es über ein bestimmtes Verbrechen nicht genug öffentliche Erzählungen
       gibt, können sich Politiker:innen, Journalist:innen und
       Entscheidungsträger:innen keine klare Meinung bilden. Ihre
       Entscheidungen fallen schwammig, zögerlich, schwach aus. Jeder
       veröffentlichte Titel ist ein Beweis für die Bedeutung des Themas. Ist die
       Liste der Titel kürzer, wirkt auch das Thema kleiner. Weniger wichtig.
       
       ## In einer Blase der Wissenschaft
       
       Natürlich gibt es akademische Forschung zu den Deportationen, und im Lauf
       der Jahre habe ich an zahlreichen Konferenzen zu den Verbrechen der
       Kommunisten teilgenommen, doch erst bei den jüngsten Deportationen und der
       schwächlichen Reaktion darauf ist mir klar geworden, dass ich mich in einer
       Blase bewegt habe, indem ich mich nur mit Kolleg:innen traf, die über
       das gleiche Thema schrieben. Forschungen auf einem bestimmten Gebiet
       verwandeln sich nicht notwendig in allgemeines Bewusstsein. Informationen
       sind kein Wissen. Wissen ist nicht gleich allgemeines Verständnis.
       
       Ohne ein Bewusstsein dieser Verbrechen können wir die Warnsignale nicht
       erkennen, und das geht auch nicht, wenn wir die historische Verbindung
       zwischen den gegenwärtigen Deportationen und den früheren nicht sehen. Wenn
       Sie nicht wissen, dass dies schon einmal geschehen ist, können Sie das
       Muster nicht erkennen, den Kontext nicht sehen, die Tradition nicht
       wahrnehmen, die solche Praktiken ermöglichen, und wenn Sie das nicht sehen,
       dann verstehen Sie auch nicht, dass wir nicht bloß die verschleppten
       Menschen aus Russland zurückholen müssen, sondern auch diese Praxis
       stoppen, die einen 80 Jahre alten Schutzschild zerstört, der Kinder bisher
       geschützt hat.
       
       Die Genfer Konventionen wurden geschaffen, um dafür zu sorgen, dass Kinder
       nicht wie Kriegsgefangene oder Agenten behandelt werden. Namentlich das
       vierte Genfer Abkommen IV enthält Vorschriften zum besonderen Schutz von
       Kindern. Wenn Putins Regierung solche internationalen Vereinbarungen zum
       Kinderschutz ignoriert, will der Kreml damit demonstrieren, dass Regeln und
       Vereinbarungen keine Rolle spielen, und wenn wir diese Verbrechen
       ignorieren, wird Russlands Beispiel einen Präzedenzfall schaffen, dem
       andere Länder nacheifern können.
       
       Wir alle haben politische Führungskräfte gehört, die Donald Trumps Worte
       „#Stop killing / Stoppt das Töten“ nachbeten wie ein Mantra. Aber haben Sie
       irgendjemanden sagen hören: „Stoppt die Deportationen“? Ich nicht. Das hat
       niemand gesagt. Die Massenverschleppungen, die meinen Onkel aus seiner
       Heimat rissen, fanden in den baltischen Staaten im Jahr 1949 statt – Jahre,
       nachdem der Westen das Ende des Zweiten Weltkrieges gefeiert hatte. Auch
       sein Vater wurde nach Kriegsende deportiert. Ebenso der Bruder meines
       Großvaters. Ein Friedensschluss oder ein Waffenstillstand beendet nicht
       irgendwie automatisch die Verschleppung von Ukrainer:innen durch
       Russland. Die Besatzung ist eine Fortsetzung des Krieges, und auch wenn Sie
       glauben, eine Beendigung des „heißen“ Krieges könnte das Leiden beenden: So
       ist es nicht – es wird dadurch nur unsichtbar für Sie.
       
       ## Bevölkerungskontrolle
       
       Russland nutzt immer wieder dieses Instrument des „demographic
       engineering“, der Bevölkerungskontrolle und -manipulation, weil es das
       kann. Weil diese Verbrechen ungesühnt bleiben. Weil die demografische
       Situation Russlands sich nicht bessert und das Land Kinder braucht. Es
       braucht Kinder, die zu Männern heranwachsen, die Russlands Kriege führen,
       und zu Frauen, die zukünftige Soldaten gebären, und darum ist dies auch Ihr
       Problem.
       
       Selbst wenn Sie nicht in der Lage sind, das Verbrechen zu erkennen,
       bedeutet das nicht, dass es Sie nichts angeht, und genau das ist ein
       entscheidender Teil des Problems. Ihnen tun vielleicht die ukrainischen
       Eltern leid, die ihre Kinder verloren haben, aber Sie glauben nicht, dass
       es auch Ihnen passieren könnte. Sie sehen keine Masken tragenden russischen
       Soldaten, die Ihre Kinder mit vorgehaltener Waffe in einen Bus zwingen. Sie
       glauben, so etwas könne Ihnen in Mitteleuropa nicht zustoßen. Aber wenn Sie
       glauben, das ginge Sie nichts an, dann entgeht Ihnen Russlands Motivation
       für den Raub ukrainischer Kinder.
       
       Als der Winterkrieg im Jahr 1939 begann und die Sowjetunion in Finnland
       einzumarschieren versuchte, war die Mehrzahl der Soldaten der Roten Armee
       keine Russen. Oh nein, nein, sie kamen aus den Kolonien, viele waren
       Ukrainer, denn der Kreml schützt seine Zentralmacht, schützt seine Moskauer
       und will die Kolonien schwach halten, und darum schickt er die ethnischen
       Minderheiten des Reiches zum Kämpfen in seine Kriege.
       
       Sie benutzen die ukrainischen Kinder als Bauernopfer, sie wollen damit den
       Widerstand der Ukraine brechen, aber sie stehlen ukrainische Kinder auch,
       weil sie aus ihnen neue russische Soldaten formen wollen. Sie stehlen
       ukrainische Kinder, um eine neue Generation von Soldaten heranzuziehen, die
       gegen Sie, gegen euch kämpfen, gegen eure Kinder oder eure Enkel. Sie
       erziehen die entführten Kinder um, erziehen sie zum Hass auf den Westen.
       Zum Hass auf euch.
       
       Übersetzung: Ingo Herzke
       
       9 Dec 2025
       
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