# taz.de -- Frühe Liebesbriefe Anna Seghers: Übungen in Selbstständigkeit
       
       > Die frühen Liebesbriefe von Anna Seghers sind Zeugnisse aus einer Zeit,
       > bevor sie weltberühmt wurde. Nun erscheinen sie in einem Sammelband.
       
 (IMG) Bild: Mit ihren privaten Zeugnissen hatte niemand mehr gerechnet: Anna Seghers, vor 1929
       
       Als ich aufwuchs in der DDR, war Anna Seghers ein Denkmal zu Lebzeiten.
       Eine kleine alte Frau mit einem weißen Dutt, die als eine der wenigen im
       Land Weltliteratur geschrieben hatte und 26 Jahre Präsidentin des
       Schriftstellerverbandes war. Im Jahr meines Abschlusses der 10. Klasse war
       ihr Roman „Das Siebte Kreuz“ eines der Prüfungsthemen. Ich wählte es, aber
       der Roman berührte mich, wie alle verordnete Schullektüre, damals nicht
       besonders. Erst die Essays Christa Wolfs über Anna Seghers’ und Heiner
       Müllers Bearbeitungen ihrer Stoffe weckten mein Interesse für ihr Werk.
       
       Der Roman [1][„Transit“] und „Der Ausflug der toten Mädchen“ sind zwei
       Bücher, die ich immer wieder lese. Der Mensch Netty Radványi, der sich
       hinter dem Pseudonym Anna Seghers verbarg, blieb unsichtbar, denn es gab
       nur wenige öffentliche Selbstzeugnisse über Privates. Als ich im Herbst
       1989 das Anna-Seghers-Stipendium bekam, fuhr ich in ihr Museum, das bis
       heute in ihrer ehemaligen Wohnung in Berlin-Adlershof untergebracht ist.
       
       Mir wuchs das Leben als alleinerziehende Mutter eines Säuglings über den
       Kopf, ich brauchte Ermutigung und suchte nach Dokumenten darüber, wie es
       ihr als schreibender Mutter in viel existenzielleren Situationen als meiner
       gegangen war.
       
       ## Innige Familienfotos, aber distanziert
       
       Man zeigte mir ein paar Familienfotos. Es ging etwas sehr Inniges von ihnen
       aus und doch blieb etwas wie Distanz zwischen Seghers und ihren Kindern.
       Auf dem Rückweg gingen mir nacheinander zwei Räder des vom Sperrmüll
       stammenden Kinderwagens kaputt. Sie verloren ihre Speichen, eine nach der
       anderen. Ich balancierte den Wagen mit dem Säugling auf zwei Rädern nach
       Hause und nahm es als Zeichen, dass es nicht einfach werden würde, aber
       auch nicht aussichtslos war.
       
       Manchmal dauert es, ehe dann doch private Zeugnisse über ein Leben
       auftauchen, mit denen niemand mehr gerechnet hat. Als Anna Seghers’ Sohn
       Peter „Pierre“ Radvániy 2021 95-jährig in Paris starb, fand sich in seinem
       Nachlass ein Konvolut von 470 Briefen, Postkarten und Telegrammen,
       eingeschlagen in Zeitungspapier der frühen 1920er Jahre.
       
       Es waren Briefe Netty Reilings an ihren gleichaltrigen Freund, den
       Philosophiestudenten László Radványi, „Rodi“, den sie im Frühling 1921 als
       20-jährige Studentin der Kunstwissenschaft in Heidelberg kennengelernt
       hatte. Vier Jahre, von Beginn der Bekanntschaft bis zum 3. August 1925,
       kurz vor ihrer Hochzeit, wechseln sie Briefe, wenn sie räumlich getrennt
       sind. Und das sind sie oft.
       
       ## Briefe von überall an Rodi
       
       Netty schreibt aus der Kaiserstraße 34 in Mainz, wo ihre Familie wohnt, aus
       Untermietzimmern in Köln, Hotelzimmern im „Adlon“ in Berlin, aus Paris oder
       aus Kurorten wie Karlsbad oder Seebädern wie Norderney oder Scheveningen.
       Rodis Briefe sind nicht überliefert.
       
       Die beiden kommen aus sehr unterschiedlichen Welten. Während László in
       einer aufgeklärten Budapester Kaufmannsfamilie aufwächst, die einer
       liberalen Strömung des Judentums angehört, und als Mitglied des
       revolutionären Kreises um Georg Lukácz nach der gescheiterten ungarischen
       Räterepublik aus Ungarn fliehen muss, ist sie die behütete Tochter einer
       angesehenen jüdischen Familie von Kunsthändlern in Mainz, die ihre Religion
       konservativer auslegt, was aber nicht heißt, dass Isidor Reiling seiner
       einzigen Tochter Bildung vorenthalten würde. Im Gegenteil.
       
       Neben Recherchen für ihre Dissertation, die sie 1924 verteidigt, macht
       Netty in der Zeit ihres Briefwechsels ihre ersten literarischen Versuche,
       ihr Debüt erscheint 1924 in der Frankfurter Zeitung. 
       
       ## „Wunderschöne Dinge aus meinem Blute“
       
       Wie ernst es ihr mit dem Schreiben ist, zeigt sich schon in einem der
       ersten Briefe vom 17. März 1921: „Man hat eine Sache von mir […] sehr gut
       gefunden u will sie event. veröffentlichen. Mir ist es gleichgültig. Ich
       denke manchmal, ich kann ganz wunderschöne Dinge aus meinem Blute machen.
       Und weil ich die Dinge mache, verblute ich ganz langsam. Die Frage ist nur,
       soll ich im Stillen verbluten oder vor der Welt.“
       
       Aus den Briefen spricht eine große Zuneigung zwischen den beiden, anders
       hätte die Beziehung die viereinhalb Jahre, bis sie endlich heiraten dürfen,
       nicht überlebt.
       
       Netty Reiling ist zerrissen zwischen Rodi und ihren Eltern, mehrmals droht
       die Hochzeit zu scheitern. Rodi findet als linker ungarischer Geflüchteter
       keine Stellung und möchte eigentlich auch keine finden, dies aber ist die
       Voraussetzung einer Zustimmung ihrer Eltern zur Eheschließung. Schließlich
       wird er Angestellter der russischen Handelsvertretung in Berlin.
       
       Die Ablösung von ihrer Mutter Hedwig, die ihre einzige Tochter nicht
       loslassen kann, die Entfremdung von ihrem Vater, der Rodi, der sich dem
       Kommunismus zugewandt hat und ihm nicht deutsch genug ist, nicht für eine
       gute Partie hält und nach geeigneteren Schwiegersöhnen sucht, machen ihr
       schwer zu schaffen, während Lázló Radványi offenbar nicht gewillt ist,
       Kompromisse zu schließen.
       
       ## Annas Vater ist enttäuscht von ihr
       
       Selbst das Schreiben von Artikeln ist unter seinem Niveau. Noch kurz vor
       der Heirat weint Seghers’ Vater um seine Tochter. „Er war […] so
       schrecklich enttäuscht über Dich und ich kann nicht verhehlen, dass auch
       mir das sehr weh getan hat.“
       
       Etwas gewöhnungsbedürftig sind die Anreden und Selbstbezeichnungen. So
       beschließt sie öfters die Briefe mit „Dein Kind“ oder nennt Rodi Vater,
       aber offenbar ist es andersherum auch so. Am häufigsten nennen sie sich
       gegenseitig Tschibi, für ungarisch Czibe – Küken. Die Kosenamen verraten
       schon die Schriftstellerin. Lázló ist Gutaug, Zipfelgeistlein, Burkusch,
       Einhornapotheker, Hammelleben, gezipfeltes Gnu, Radybub, Gutaug, Armzipf.
       
       ## Zunehmender Antisemitismus
       
       Ganz nebenbei drängen die Bedrängnisse der Zeit zwischen den Zeilen hervor.
       Französische Besatzung in Mainz, englische in Köln, vergebliche
       Zimmersuche, um dann auf eine verrückte Wirtin zu treffen, die nachts
       pfeift, schwierige Passangelegenheiten und Aufenthaltsbewilligungen für
       Rodi, verschiedene Währungen, Inflation, Mäuse in der Unterkunft, der
       zunehmende Antisemitismus.
       
       Mainz wird Netty zu eng, nicht genug intellektueller Austausch im gehobenen
       Bürgertum, in ihrer Freizeit betreut sie Kinder in einer Mainzer Lesehalle,
       wo sie Verhältnisse kennenlernt, die in ihre späteren Erzählungen
       einfließen.
       
       Zwischen den Zeilen geht es immer auch um Familienplanung. Netty kann sich
       ein Leben ohne Kinder nicht vorstellen, Rodi offenbar schon. Am Ende, der
       Vater hat zähneknirschend der Ehe zugestimmt und Rodi sich den vom Vater
       geforderten Zylinder besorgt, sind es die auf die Flitterwochen fallenden
       fruchtbaren Tage, die Netty überlegen lassen, die Hochzeit noch einmal um
       ein paar Tage zu verschieben oder die Hochzeitsreise in getrennten
       Hotelzimmern zu verbringen.
       
       Was offensichtlich nichts nützte, die Hochzeit war Anfang August 1925, der
       Sohn Peter wurde am 29. April 1926 geboren. Zwei Jahre später folgt Tochter
       Ruth.
       
       ## Aus ihrer Wohlbehütetheit herausgeschleudert
       
       Was wir sehen, wenn wir die Briefe lesen, sind Übungen in
       Selbstständigkeit, die für ihr weiteres Leben von hoher Bedeutung sein
       sollten. Da lernt eine gegen alle Selbstzweifel und Unsicherheiten fürs
       Leben, das sie aus ihrer Wohlbehütetheit herausschleudern wird.
       
       Wir Nachgeborenen wissen, wie es weiterging nach der Heirat. Sie geht zu
       Rodi nach Berlin und wird Anna Seghers. 1928 erscheint ihr erstes Buch,
       „Der Aufstand der Fischer von St. Barbara“, wofür sie 1929 den Kleist-Preis
       erhält. Zur gleichen Zeit wird sie Mitglied der KPD. 1933 kurzzeitig
       verhaftet, kann sie mit der Familie [2][in die Schweiz fliehen,] von da
       nach Paris und schließlich nach Mexiko. Mit dem Roman „Das siebte Kreuz“
       erlangt sie Weltruhm.
       
       In Mainz werden die Spuren der Familie durch Holocaust und Bombardierungen
       fast vollständig getilgt. Das Haus in der Kaiserstraße, Absenderadresse
       vieler der Briefe, gibt es nicht mehr, auch nicht die Kunsthandlung am
       Flachsmarkt, die Isidor Reiling 1940 verliert, was er nicht überlebt. Anna
       Seghers kann ihre Mutter, trotz aller Bemühungen aus dem Exil, nicht
       retten, sie wird deportiert und stirbt in Piaski.
       
       Noch einmal werden sich Anna Seghers und Johann-Lorenz Schmidt, wie sich
       Radványi später nennt, lange Briefe schreiben, zwischen 1947 und 1952, als
       Rodi in Mexiko bleibt und mit einer anderen Frau lebt. Erst 1952
       entschließt er sich, seiner inzwischen weltberühmten Frau in die DDR zu
       folgen. Von diesen Briefen sind nur wenige überliefert, die von Rodi, in
       denen er seine Liebe zu Netty beteuert.
       
       22 Nov 2025
       
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