# taz.de -- Wettstreit ums Abpflastern: Wip Nederland Wip!
       
       > Über 200 Städte in den Niederlanden treten an, die eigenen Straßen am
       > schnellsten zu entsiegeln. Ein Besuch im Endspurt um die goldene
       > Betonplatte.
       
 (IMG) Bild: Bald schon sollen auf dem Streifen vor Christiaens' und Blooms Haustür Geranien, Verbenen und ein Apfelbaum wachsen
       
       Die Fanfare Accu spielt, als wollte sie mit ihren fröhlichen Bläsern und
       Trommlern den Nieselregen verjagen und das Grau dieses Oktobertages gleich
       dazu. Passend zum Vorhaben der gutgelaunten Prozession, die die Band unter
       den Klängen von La Bamba hinaus aus dem Nachbarschaftszentrum De Malburcht
       begleitet. Es geht zurück zu ihren Wohnhäusern. Vor sich rollt die Gruppe
       volle Schubkarren mit jungen Pflanzen und säckeweise Blumenerde durch die
       unscheinbaren Straßen von Malburgen, einem Viertel im Süden der
       niederländischen Stadt Arnheim.
       
       Da, wo bisher noch graue Bodenplatten aus Beton die Hauseingänge und
       Streifen an der Straße bedecken, wollen sie heute kleine Gärten anlegen.
       Als beschwingt die bekannte Melodie dem Refrain entgegentreibt, rufen sie:
       „Te-gel-wip-pen! Te-gel-wip-pen!“ Übersetzt heißt das in etwa: Platten
       schaukeln. So lässt sich das Vorhaben dieses Tages zusammenfassen.
       
       Es ist der Name einer lokalen Klimainitiative, die inzwischen fast überall
       in den Niederlanden Fuß gefasst hat. Sie hat das Ziel, große Flächen zu
       entsiegeln. Mehr Grün soll in die Städte, um sie klimaresistenter zu machen
       und damit beispielsweise [1][lokalen Hitzestress zu bekämpfen]. Aber das
       Ganze ist auch ein Wettbewerb, der in den vergangenen Jahren rasant an
       Popularität gewonnen hat. In der NK Tegelwippen – der niederländischen
       Meisterschaft im Plattenheben – treten 200 Städte gegeneinander an, und wer
       die größte Fläche entpflastert hat, gewinnt: den Gouden Tegel, die goldene
       Betonplatte.
       
       Der „Große Pflanztag“ im Süden Arnheims an diesem regnerischen Nachmittag
       reiht sich in den Endspurt der Wettkampfsaison ein. Morgens wurde der
       Pflanztag bereits im Norden der Stadt eröffnet, tags zuvor fand einer in
       Utrecht statt. Am letzten Oktobertag endet dann die diesjährige
       Wettkampfsaison, die im März begann.
       
       ## 105 Blumensets für Malburgen
       
       55 Haushalte hätten sich in Malburgen angemeldet und zu stark reduzierten
       Preisen etwa 105 Blumensets bestellt, sagt Remco Moen, der so etwas wie der
       Vater des Plattenhebens ist. „Jedes reicht für zwei bis vier Quadratmeter
       Garten.“ Zur Feier des Tages hat sich der 50-Jährige in einen pinkfarbenen
       Overall geworfen, auf dem „NK Tegelwippen“ steht, dazu trägt Moen grüne
       Gummistiefel und ein Basecap mit der Aufschrift „Frank Lee“. Letzteres ist
       der Name des Amsterdamer Büros, in dem er und seine Mitstreiter*innen
       Kampagnen für soziale und nachhaltige Themen entwerfen, etwa den nationalen
       Wettbewerb.
       
       Eben stand auch er noch im Hof des Nachbarschaftshauses, dessen
       blockförmiges Äußeres sonst einem Bunker nicht unähnlich sieht. Heute
       allerdings erinnert es an ein Gartenzentrum. Am Zaun lehnen Spaten und
       Besen, einsatzbereit und über den gepflasterten Hof erstreckten sich die
       Reihen junger Pflanzen, die bald schon in den Vorgärten verwurzeln sollen.
       
       Das Prinzip des Wett-Entpflasterns: „Grau raus, Grün rein.“ Wer wippen
       will, registriert das entsprechende Vorhaben und lädt Vorher- und
       Nachherfotos hoch, die entfernten Platten werden gezählt – ob vor der
       Haustür, der Einfahrt oder dem Stück Weg an der Straße. Das Standardformat
       misst 30 mal 30 Zentimeter, kleinere werden umgerechnet, so entsprechen
       etwa drei Backsteine einer Platte.
       
       Zu wippen gibt es einiges in den Niederlanden: 2023 war gut ein Drittel der
       Gärten mindestens zur Hälfte mit Platten bedeckt, in Amsterdam, Rotterdam
       und Den Haag sogar zwei Drittel. Dazu kommen die Auswirkungen des
       Klimawandels, der sich hierzulande vor allem in mehr und extremeren
       Regenfällen äußert. Die jährliche Niederschlagsmenge stieg von 1910 bis
       2022 um 26 Prozent an. Straßen stehen häufiger unter Wasser, das aufgrund
       des versiegelten Bodens nicht abfließen kann.
       
       „Auch hier hatten wir das schon“, sagt Wilma Christiaens, die nur wenige
       Hundert Meter vom Nachbarschaftszentrum wohnt. „Selbst jetzt steht das
       Wasser noch auf der Straße“, sagt sie und weist auf die Pfützen unweit
       ihres Eckhauses, Überbleibsel der jüngsten Schauer. Christiaens, die an der
       Arnheimer Hochschule arbeitet, und ihr Mann Bertus Blom wollen mit dem
       Pflanzen beginnen. Mehrere Reihen von Betonplatten haben sie bereits vor
       ihrem Haus aus dem Boden an der Straße gehoben. Lockere Blumenerde bedeckt
       die Fläche, die nun ein Vorgarten werden soll. An ihrem Rand stehen die
       bestellten Blumen, Spaten, Rechen und Besen.
       
       ## Fruchtbarer Boden will genutzt sein
       
       Unterdessen zieht auf der Straße die Fanfare Accu vorbei. Überall, wo
       Bewohner*innen des Viertels Steinplatten und Ziegel lösen, hält die
       Band inne und spielt ihnen ein persönliches Ständchen. „Das ist
       Bordstein-Unterhaltung“, sagt Remco Moen, der mit der Band umherzieht. „Bei
       so einer Veranstaltung muss auch etwas passieren.“ Hier und da packt er
       beim Tragen an und stemmt auch selbst ein paar Platten aus dem Belag. Dann
       schwingt er wieder das Tanzbein oder ein großes Pappschild, auf dem „Wip
       Holland Wip“ steht – eine Referenz an „Hup Holland Hup“, den bekannten
       Anfeuerungsruf für die orange gekleideten Kicker*innen.
       
       Als Tochter eines Pflanzenzüchters ist Christiaens „mit grünem Daumen
       aufgewachsen“ und gärtnert gerne, nun auch vor dem Haus: „Die Steine müssen
       sowieso raus, um die [2][Stadt im Sommer zu kühlen] und den Regen abfließen
       zu lassen. Wir müssen uns einfach ums Klima kümmern.“
       
       Gemeinsam mit ihrem Mann besuchte sie einen Workshop und entwarf ein Bild
       ihres künftigen Gartens, das nun als Zeichnung am Fenster im Erdgeschoss
       klebt. Wachsen werden darin Geranien, Verbenen, Seifenkraut, Silberhaargras
       und ein Apfelbaum. „Pflanzen, die Sonne abkönnen, denn dies ist die
       Südseite“, erklärt Wilma Christiaens. Ihr Mann Blom ergänzt: „Wir haben
       hier fruchtbaren Boden. Es wäre jammerschade, den ungenutzt zu lassen. Und
       dann kommen die Schmetterlinge, Bienen und Hummeln.“
       
       Inspiriert hat das Paar zunächst der Nachbar. Joël Albert de la Bruheze und
       seine Familie wippen schon seit zwei Jahren. „Wir haben Erdbeeren und
       Feigen und ein paar Kräuter gepflanzt und Blauen Regen, der ist richtig
       explodiert“, sagt der junge Geschichtslehrer. „Die Feigen schmecken
       fantastisch, mein anderthalbjähriger Sohn will jeden Tag eine essen.“
       
       Christiaens und Blom von nebenan sahen den Vorgarten und wollten auch
       mitmachen. Soeben kommt der Nachbar schauen, ob er helfen kann. Überzeugt
       hat ihn nicht zuletzt, das „Tegel-Taxi“: ein Auto, das die entfernten
       Platten abholen kommt und an diesem Nachmittag auch am Nachbarschaftshaus
       vorfahren wird. Einig sind sich alle drei darin, dass ihnen das Turnier
       eher gleichgültig ist.
       
       In der öffentlichen Wahrnehmung freilich ist genau dieses Element
       entscheidend – und zwar von Anfang an. Remco Moen erinnert sich: „Es war
       2020, zu Beginn der Covidpandemie.“ Sein Amsterdamer Büro beschäftigte sich
       damals mit ungenutzter Dachlandschaft in Amsterdam und Wasserrückhalt.
       
       „Wir planten ein Festival auf Dächern und eine Bar mit Bier, das mit
       Regenwasser gebraut wird. Aber all das ging nicht. Zugleich lagen auch alle
       Veranstaltungen wie Fußballspiele still. Weil es ein schönes, sonniges
       Frühjahr war, gab es einen Ansturm auf Gartenzentren. So entstand die Idee:
       Lass uns um die Wette plattenheben! Amsterdam gegen Rotterdam, das
       funktioniert immer!“
       
       ## Ein Wettbewerb mit mehr und mehr Teilnehmer*innen
       
       Und wie es funktionierte. Das Echo war so groß, dass das Thema bald schon
       in die Ratssitzungen beider Städte kam, wo die
       Nachhaltigkeits-Dezernent*innen jeweils Auskunft zum Zwischenstand geben
       sollten. Schlussendlich gewann Rotterdam, zusammen haben die
       Bewohner*innen 100.000 Platten entfernt. Aber damit sollte es nicht
       enden, „wegen der großen Resonanz machten wir ab 2021 einen offenen
       Wettbewerb daraus. Und direkt hatten wir 80 Städte, die sich anmeldeten“,
       sagt Remco Moen.
       
       Inzwischen sind es über 200 Städte, die in den Kategorien groß, mittel und
       klein teilnehmen. Über 1.000 verzeichnete Entpflasterungen gibt es pro
       Monat, 2025 wurden bislang mehr als 6 Millionen Platten entfernt. Das
       Ministerium für Infrastruktur und Wasserwesen unterstützt den Wettbewerb,
       Gartenzentren sind als Sponsoren eingestiegen, selbst in der
       niederländischen Donald-Duck-Ausgabe rückten die schnatternde Gans und ihre
       drei Neffen im Sommer den Platten zu Leibe.
       
       „Du sprichst damit Leute an, die vielleicht für eine Geschichte über
       Biodiversität oder Wasserrückhalt weniger empfänglich sind“, sagt Moen.
       Natürlich hat er schon Pläne für die Zukunft: Ein internationaler
       Wettbewerb namens „The Battle of the big cities“ schwebt ihm vor, an dem
       auch Berlin, Hamburg, Köln, Paris oder Antwerpen teilnehmen könnten. Aber
       [3][auch in Deutschland gibt es bereits ähnliche Wettkämpfe] um
       Entsiegelung.
       
       Zunächst erfreut sich Moen aber an der Ausbeute in Arnheim: Insgesamt 2.000
       Platten seien entfernt worden, bilanziert er zwei Tage nach dem Großen
       Pflanztag. Gewonnen hat die Stadt am Ende nicht, die goldene Platte geht
       dieses Jahr an Utrecht. Aber das ist egal, denn jede Fliese zählt „und jede
       davon liefert einen Beitrag, denn sie liefert 900 Quadratzentimeter grünes
       Glück“, sagt Moen.
       
       27 Nov 2025
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Müller
       
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