# taz.de -- Ein Problem der Wahrnehmung: Eben eine alte weiße Frau
> Sie sehe, meint unsere Kolumnistin, für ihr Alter noch ganz gut aus.
> Andere aber sehen das nicht. Weil man im Alter auf merkwürdige Weise
> unsichtbarer wird.
(IMG) Bild: Wenn die Konturen verwischen und das Sehen und Gesehen-Werden nicht mehr richtig klappt, kann das am Alter liegen
Es ist nicht leicht für mich, das zuzugeben, [1][aber seit ich 60 bin],
finde ich das Älterwerden ganz schön scheiße. Dabei lief es bis jetzt ganz
gut: Ich bin fit, auch gesund, soweit ich weiß, halte mich innerlich wie
äußerlich gerade und nach wie vor für neu- und wissbegierig und sehe für
mein Alter noch ganz gut aus, finde ich. Nur sieht das außer mir offenbar
fast keine:r mehr.
Genau das ist mein Problem mit dem Altern: Man wird auf merkwürdige Weise
unsichtbarer – nicht, indem man tatsächlich als physisch existente Person
nicht wahrgenommen wird. Aber man wird offenbar nicht mehr als Individuum
gesehen, als die eigenständige Persönlichkeit, die man ist oder zu sein
glaubt oder jedenfalls sein möchte. Insbesondere widerfährt mir dies von
Menschen, die so mindestens zwei Jahrzehnte jünger sind als ich. Sie
scheinen mich zwar zu sehen, dabei aber nur noch eines erkennen zu können:
eine alte weiße Frau.
Mich trifft das ins Herz, denn es reduziert mich: Ich werde nicht er-,
sondern verkannt. Etwa, wenn der Zugbegleiter das Handy ignoriert, das ich
ihm entgegenstrecke, und stattdessen darauf wartet, dass ich Papierenes aus
der Tasche krame, weil er mir offenbar nicht zutraut, digital gebucht und
eingecheckt zu haben. Oder wenn die neue US-amerikanische Nachbarin, die
bei mir ihr Paket abholen will, extra langsam und deutlich fragt: Do you
speak English? Was sie mir scheinbar nicht zutraut – warum nur? Weil sie
etwas sieht, von dem ihr offenbar nichts Gutes erzählt wurde: eine alte,
weiße und dazu auch noch deutsche Frau.
## Auch mal ’ne Fortbildung machen
Vor Kurzem war ich mit einigen Bekannten – alle mindestens zwei Jahrzehnte
jünger als ich – bei einer Diskussion über queerfeindliche Gewalt. Auf dem
Podium und im Publikum viele Fachleute und Betroffene, junge und ältere,
weiße und PoC – und ich, wie gesagt, ich bin neu- und wissbegierig. Weil
ich eine Abkürzung, die in der Debatte benutzt wurde, nicht kannte, fragte
ich einen der Freunde neben mir nach deren Bedeutung. Noch bevor ich seine
Antwort hören konnte, kam von einer anderen Person ein Kommentar zu meiner
Nachfrage. Er lautete: „Boah, du musst aber auch mal ’ne Fortbildung zum
Thema Queerfeindlichkeit machen!“
Mein erster Gedanke – ich will mich hier nicht besser machen, als ich bin –
war noch etwas bösartiger als „Bitch!“. Ich war schockiert: Diese Person
wusste nichts über mich, hatte keine Ahnung, wer ich bin, wie ich denke,
was ich getan, gesagt, geschrieben, wie ich mein Leben gelebt habe. Und es
interessierte sie ja offenbar auch nicht: Sie stellte keine Frage, sondern
zog ihre Schlussfolgerung allein aus dem, was sie zu sehen glaubte: eben
eine alte weiße Frau.
Mich macht das wütend. Denn ich mag sie ja grundsätzlich gern, diese jungen
Leute. Ich lerne viel durch sie und von ihnen und freue mich über ihre
selbstbewusste, kämpferische Art, sich die Welt anzueignen – wenn ich dabei
auch nicht alles toll finde, was sie so von sich geben.
„Mir ist das oft einfach zu schwarz-weiß, zu exklusiv“, beklage ich mich
bei einem ehemaligen taz-Kollegen, der mich manchmal besucht, auch er zwei
Jahrzehnte jünger als ich. „Wenn du mit mir essen gehst, werden die Leute
denken: Der Arme, er hat Besuch von seiner Mutter“, scherze ich. Er bringt
mir Blumen mit und sagt: „Es soll ja Leute geben, die sich freuen, wenn
ihre Mutter sie besucht.“
Geduldig hört er sich meine Erfahrungen des Unsichtbarwerdens und meine Wut
darüber an: „Verstehe ich die Welt nicht mehr? Verstehe ich sie plötzlich
richtig? Oder werde ich einfach nur alt?“ „Genau so wird es wohl sein“,
sagt er, und zum Abschied dann noch freundlich: „Nimm dich doch einfach
nicht mehr so wichtig.“ Hoppla, denke ich erst, was erlaubt der sich? Und
später: Was für eine gute Idee! Denn im Grunde kann Unsichtbarkeit ja auch
ganz schön befreiend sein.
19 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Wenn-man-Sechzig-wird/!6094323
## AUTOREN
(DIR) Alke Wierth
## TAGS
(DIR) Schwerpunkt Stadtland
(DIR) Kolumne Die Fußgängerin
(DIR) Altern
(DIR) Wahrnehmung
(DIR) Alltagsleben
(DIR) Social-Auswahl
(DIR) Schwerpunkt Stadtland
(DIR) Schwerpunkt Stadtland
(DIR) Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Über Abschiede und Trauer: Ein ganzes Haus voller Spuren von Leben
Unsere Kolumnistin schätzt gute Kleidung. Das Angebot eines Freundes, sich
die Sachen seiner verstorbenen Mutter anzuschauen, ist da eine Verlockung.
(DIR) Dauerthema Bahn: Im Geisterzug nach Feierabend
Alle reden vom Wetter? Nein, heute geht's doch meistens um die Bahn. Unser
Kolumnist kann es trotzdem nicht lassen. Es war aber auch wirklich schlimm.
(DIR) Endlich auch mal reich sein: Das hier fühlt sich doch gut an
Es macht was aus, wenn man plötzlich viel Geld in der Tasche hat. Was für
ein erhabenes, erhebendes, erhobenes Lebensgefühl, weiß unsere Kolumnistin.