# taz.de -- Abschied von den USA: Da, wo ich nie hinwollte
       
       > Zwischen Greyhound-Bus, Depression und Demokratieverfall: Zwei Jahre
       > lebte unsere Autorin in den USA. Sie haderte und fand doch Gründe für
       > Hoffnung.
       
 (IMG) Bild: Unterwegs mit dem Greyhound Bus durch ein weites Land
       
       Wir fahren und fahren. Gerade hat es geregnet, die Luft ist so feucht und
       warm wie in einem Gewächshaus. Um uns herum blauer Himmel und hohe, dichte
       Bäume: Eichen, Zedern, Ahorn, Efeuranken. Ein von einem achtspurigen
       Highway zerschnittenes Wäldermeer.
       
       Welcome to North Carolina! Welcome to America!
       
       Jetzt bin ich da, wo ich nie hinwollte. Noch dazu führerscheinlos in einer
       Stadt, in der man überall mit dem Auto hinfahren muss. Ein Neuanfang für
       mich: ein neues Abenteuer, neue Menschen, neue Wege. Im September 2023.
       
       Ich betrachte die Banner am Straßenrand: „Overdose can happen to everyone.“
       „Shackled by lust? Jesus sets you free!“ „It’s ok to Taco yourself.“
       
       Wenige Minuten später sitzen mein Freund und ich in einem stickigen
       winzigen Büro neben einer Tankstelle und füllen die Kaufunterlagen für
       unseren Volvo, Baujahr 2007, aus. Ein Riesenhund glotzt mich aus den
       Augenwinkeln an. Unser Autodealer Streak von „Streaks Auto Smart“
       telefoniert mit der Polizei. Er spricht eine Höllenmischung aus
       jamaikanischem Englisch und Südstaatendialekt. Ich verstehe vielleicht die
       Hälfte, vielleicht weniger. Streak sieht wie ein harter Typ aus. Schwarz,
       mit Megamuskeln und Tattoos am Oberarm. Er ist nicht nur Autodealer,
       sondern auch „Bounty Hunter“ – Kopfgeldjäger. Das hat er uns schon bei der
       Probefahrt vergangene Woche erzählt. Streak spürt Menschen auf, die man
       vorübergehend aus dem Gefängnis entlassen hat und die sich auf der Flucht
       befinden, und wird dafür bezahlt.
       
       Heute hat er eine gewisse Meredith eingefangen. Sie befindet sich in seiner
       Wohnung und ein Freund passt auf, dass sie nicht ausbüxt, während er
       unseren Autokauf abwickelt. Bald will er sie der Polizei übergeben, erzählt
       er nach dem Telefonat. Ich schiele unauffällig auf ihre Polizeiakte, die
       zwischen uns auf dem Tisch liegt. „Race“, Ethnie, „Schwarz“ steht da. Sie
       sitzt wegen Drogenhandels ein, entziffere ich, verheiratet und in meinem
       Alter, Mitte dreißig.
       
       „Darf ich mal bei einer deiner Jagden mitfahren und über dich schreiben?“,
       frage ich ihn zum Abschied, als er uns den Autoschlüssel übergibt. „Wenn du
       dich traust! Das kann gefährlich werden.“ „Ich ruf dich an!“ Plötzlich
       scheint ihm die Idee zu gefallen. „Wir beide kommen mit der Geschichte groß
       raus und machen richtig viel Kohle!“ Ich erkläre ihm, dass ich die Leute,
       über die ich schreibe, nicht bezahle. Dann verliert er das Interesse. Ich
       höre nie wieder von Streak. Manchmal denke ich immer noch an ihn und frage
       mich, wie es weiterging für Meredith.
       
       Einige Monate später wird eine Frau von hinten in unseren Volvo fahren und
       einen Totalschaden verursachen. Unser zweiter Autodealer Omar wird ein
       verurteilter Al-Qaida-Terrorist sein, der bis vor Kurzem 13 Jahre im
       Gefängnis saß. Aber von all dem ahne ich im September noch nichts. Ich
       lasse mich auf den Beifahrersitz fallen und freue mich über unsere neu
       gewonnene Freiheit.
       
       ## So ist Amerika
       
       Man hat kaum Zeit, zu begreifen, was da gerade um einen herum passiert.
       Zwei Jahre sind seit damals vergangen. Inzwischen habe ich die USA wieder
       verlassen. Auf eine eigenartige Weise ist mir dieses Land ans Herz
       gewachsen, wo sonst auf der Welt hätte ich schon so unverhofft einen
       Kopfgeldjäger beim Autokauf angetroffen?
       
       In meinem Freundeskreis liegt es im Trend, die USA als Klassenfeind erst
       einmal scheiße zu finden. Was soll auch gut sein an Armut, an krassen
       sozialen Unterschieden, Kriminalität, Drogen und einer Mittelschicht, die
       sich selbstgefällig im Konsum suhlt? Aber so simpel ist es nicht. Wären die
       USA und ihre Menschen ein Puzzle mit 300 Millionen Teilen, hätte ich
       während meiner Zeit hier nur ein paar Randstücke in meinem Kopf
       zusammengefügt.
       
       Durham in North Carolina im Südosten der USA liegt genau im Zentrum
       zwischen dem Appalachengebirge im Westen und den Sandinseln der Outer Banks
       am Atlantischen Ozean im Osten. Die Stadt ist ein Ort ohne Meer und ohne
       Berge, von dem außerhalb des Landes kaum einer eine Vorstellung hat. Mein
       Freund ist schuld, dass ich hier bin. Die Eliteuniversität Duke bot ihm als
       Wissenschaftler einen Zweijahresvertrag an. Natürlich ziehen wir dahin,
       sagte ich, was sonst.
       
       In den Wochen nach unserer Ankunft streiften er und ich zusammen über die
       gigantischen Parkplätze, aßen unsere ersten Buritos und staunten über die
       kübelgroßen Softdrinks, den riesigen Lucky-Strike-Turm, der an die
       vergangene Blütezeit Durhams als Tabakstadt erinnern soll. Die Leute hier
       lächelten alle breit und sagten „Have a good one!“, selbst dann, wenn sie
       „Verpiss dich!“ meinten. Die Gegend ist bekannt als „research triangle“ und
       gehört zu den am schnellsten wachsenden Regionen der USA. Nicht nur wegen
       der guten Universitäten und Techkonzerne, deren Mitarbeiter sich hier
       ansiedeln, sondern auch weil Mittelklassefamilien sich andere Bundesstaaten
       wie Florida oder New York immer weniger leisten können. Viele von ihnen
       stammen aus Mexiko, Indien, China und anderen Ländern.
       
       Durham ist eine demokratische Insel in einem mehrheitlich republikanischen
       Bundesstaat.
       
       „Trans Lives are Sacred“, (trans Leben sind heilig), hatte jemand an die
       Wände der Backsteinhäuser gesprüht, an den Eingängen der Wohnhäuser hingen
       Regenbogenfahnen und „Black Lives Matter“-Banner. Bei einer
       Vorstellungsrunde in der Synagoge stellten sich alle mit ihren Pronomen vor
       und das Yogastudio in unserem Viertel reflektierte auf der Webseite sein
       „white privilege“. Durham war eine Hochburg der wokeness. Ich war
       vorauseilend genervt und unterstellte dem Ganzen erst einmal sogenanntes
       virtue signaling: Zurschaustellung moralischer Tugendhaftigkeit.
       
       Blicke ich heute zurück, denke ich: Damals war die Welt in Ordnung. Man
       hatte noch den Luxus, von Regenbogenfahnen genervt zu sein.
       
       ## Heile Welt auf dem Campus
       
       Seit fast einem Jahr nun ist Donald Trump wieder an der Macht und Präsident
       der Vereinigten Staaten. Die US-Demokratie war schon vor seinem Wahlsieg
       brüchig. In den Monaten seit seinem Amtsantritt sieht die Welt jetzt in
       Echtzeit zu, wie das Land zu einem autoritären Staat umgebaut wird.
       
       Am heilsten fühlte unsere Welt sich damals auf dem Universitätscampus an.
       Wir liebten es, über Dukes wunderschönen Campus zu spazieren, mit Teichen,
       Rosengärten und Eichhörnchen, die über die gut gepflegten Rasenflächen
       hüpften und an Keksbröseln knabberten, wie um zu demonstrieren: Nicht nur
       die Menschen an diesem Ort, sondern selbst die Tiere stammen aus gutem
       Hause.
       
       Entworfen hat den Campus der Schwarze Architekt Julian Abele aus
       Philadelphia. Für den Auftrag seiner Architekturfirma war Abele in den
       1920er Jahren nach Durham gereist, durfte hier aber nie übernachten.
       Während der Jim-Crow-Gesetze von den 1870er Jahren bis 1965 hatten die
       Stadthotels eine strenge „white only“-Gesetzgebung. Jahrzehntelang lebten
       Schwarze und Weiße Menschen in den Südstaaten getrennt. Sie arbeiteten
       getrennt, sie aßen getrennt, spazierten in getrennten Parks und wurden in
       getrennten Krankenhäusern behandelt.
       
       Im Zentrum des Campus der Duke Universität erhebt sich eine opulent
       verzierte neogotische Kapelle mit Spitzbögen, erbaut nach dem Vorbild von
       Cambridge und Oxford. Drumherum irren Grüppchen Studierender mit hellblauen
       Duke-Käppis, Duke-Shorts und Duke-Pullis herum, die es für sehr viel Geld
       im Duke-Shop zu kaufen gibt, gleich neben Büchern über soziale
       Ungleichheiten und poststrukturalistischen Werken zum Foucault’schen
       Panoptikum.
       
       ## Es war wie verflucht
       
       Mit mehr als 94.000 Dollar jährlichen Studiengebühren, inklusive Unterkunft
       und Lebenshaltungskosten, gehört Duke zu den teuersten Universitäten der
       USA und steht für Reichtum und Prestige. Richard Nixon, Tim Cook – Apples
       CEO – und Stephen Miller, Trumps einflussreicher rechtsextremer Berater,
       alle studierten sie hier. Milieustudie, sprach ich mir gut zu, wenn ich
       mich in die Bibliothek setzte, meinen Iced Latte für acht Dollar trank und
       die emsigen Studierenden beim Glotzen auf ihre Laptops beobachtete.
       
       Nach ein paar Wochen Milieustudie streckte mich die Einsamkeit nieder.
       Meine zarten Versuche, Freundschaften zu schließen, endeten immer wieder in
       dem Versprechen, sich auf einen Kaffee zu sehen. Danach meldete sich nie
       jemand. Mein Leben lang hatte ich Freundschaften auf der ganzen Welt
       geschlossen, im buddhistischen Schweigekloster und im Covid-Lockdown. Nur
       hier war es wie verflucht. Im ersten Jahr waren unsere einzigen Kontakte
       der Mathematiker-Kollege meines Freundes aus Michigan und seine Freundin,
       die auf einer Farm mit Eseln arbeitete. Wir waren uns in unserer ersten
       Woche im Supermarkt Trader Joe’s über den Weg gelaufen und hingen seitdem
       wie eine bucklige Familie jedes Wochenende zusammen ab. Die beiden hatten
       auch niemanden außer uns und ihren Katzen und Hasen.
       
       Die USA waren niemals als Gemeinschaft angelegt, zu der alle dazugehören
       sollen, der Rückzug ins Individuelle ein klassisch amerikanisches Ideal.
       Soziale Medien haben die Realität zusätzlich fragmentiert. Was früher in
       Zeitungen und Fernsehen gemeinsam erlebt wurde, zerfällt heute in unzählige
       personalisierte Feeds. Im Sommer 2023 veröffentlichte Hillary Clinton einen
       Essay im Magazin Atlantic. Darin machte sie die Vereinsamung der
       US-Amerikaner:innen und den Zusammenhang mit dem erstarkenden
       Autoritarismus unter Trump zum Thema. Ohne diese soziale Isolation und
       schwindende Gemeinschaftsstrukturen wäre ein Trump vermutlich niemals so
       erfolgreich geworden. Die MAGA-Bewegung dient als eine Art Gemeinschaft
       bietende Ersatzreligion. Leider wollte der MAGA-Zauber einfach nicht auf
       mich wirken.
       
       Nach einer Weile fühlte ich mich unfähig, mich von der Stelle zu bewegen.
       Ich arbeitete kaum noch und konnte mich selbst nicht mehr ausstehen. Meine
       im Bett und auf dem Sofa verbrachten Stunden wurden mehr, aus Wochen
       Monate. Ich begann, mich halb ironisch, halb ernsthaft „Stay-In-Girlfriend“
       zu nennen. Statt die USA zu erleben, erlas ich sie mir bei James Baldwin,
       Octavia Butler und Chimamanda Ngozi Adichie. Kurz, Amerika entwickelte sich
       nicht so, wie ich mir das Ganze erhofft hatte. Das Land war zum Kampfplatz
       gegen mich selbst geworden. Je mehr ich versuchte, meine Depression
       beiseite zu fegen, desto mehr holte sie mich ein.
       
       Was mich vor mir selbst rettete, kann ich nicht mehr ganz genau sagen.
       Wahrscheinlich Donald Trump. Die anstehende Präsidentschaftswahl zwang mich
       zurück zu meinem Urinstinkt als Reporterin. Für eine Reportage beschloss
       ich im Sommer 2024, die USA von Durham bis Los Angeles mit dem
       Greyhound-Bus zu durchqueren: Über Atlanta, Memphis, Oklahoma, Texas und
       New Mexico, 4.000 Kilometer und 62 Stunden Busfahrt. Die Reise sollte mir
       helfen, die schwindelerregende Weite der USA besser zu begreifen. Kaum
       jemand aus meinem Umfeld hat jemals einen Greyhound von innen gesehen. Wer
       lange Busstrecken fährt, hat man mir gesagt, der hat entweder kein Geld für
       einen Flug, keine Kreditkarte oder keine Arbeitserlaubnis.
       
       ## Die Menschen und ihre Geschichten
       
       Am Bahnhof in Durham warteten wir zu dritt auf den Bus: ein Tätowierter mit
       faltigem Gesicht, ein Business-Student aus Bangladesch und ich. Als der
       Tätowierte kurz eine Runde drehte, raunte der Student: „Der Crackhead ist
       gerade aus dem Gefängnis raus. Er wollte mit meinem Handy telefonieren, ich
       hab’ nein gesagt.“ Auf der Bank neben uns saßen drei Busfahrerinnen der
       städtischen Verkehrsgesellschaft, erzählten sich Witze und lachten. Die
       Leute im Bus waren fast alle Schwarz oder Latino und schienen nur von Chips
       und Süßigkeiten zu leben. Manchmal hielten wir stundenlang nicht an oder
       nur kurz für einen Toilettengang. Ich mampfte den ganzen Tag meine von
       zuhause mitgebrachten Snacks. Aus Furcht vor der Bustoilette hörte ich auf
       zu trinken.
       
       Am Busbahnhof in Memphis, Tennessee, fragte mich Trevor, ein blonder Typ um
       die 40, nach Feuer. Er rauchte und wippte von einem Bein aufs andere, das
       riesige Kreuz auf seiner Brust pendelte hin und her. „Du willst nach Los
       Angeles? Ich hoffe, du hast genug Gras zum Rauchen dabei.“ Er sei ein
       Veteran aus dem Irak-Krieg und unterwegs zu einer Familienfeier in
       Arkansas. Er lebe auf einer Farm in South Carolina, zusammen mit einem
       Kameraden aus dem Krieg. „Ich würde jederzeit wieder kämpfen“, sagte er –
       obwohl er die Irak-Intervention für „bullshit“ hält. „Ich habe eine krasse
       posttraumatische Belastungsstörung. Aber für den Zusammenhalt, für die
       Jungs, würde ich alles tun.“ Trevor riss sein T-Shirt hoch und zeigte mir
       eine Narbe, die sich über seinen gesamten Oberkörper zog. Ein Sprengsatz
       hatte ihn am Straßenrand getroffen, erzählte er.
       
       In Amarillo, Texas stieg ein Mann zu, von dem ich sofort hoffte, dass er
       sich nicht neben mich setzt. Aber dann sackte James auf den Sitz rechts von
       mir. Er sei obdachlos und auf dem Weg nach Los Angeles. Er wollte einen
       Neuanfang versuchen. Nach einer Pause an einer Tankstelle hielt er mir
       strahlend eine Plastiktüte entgegen: „Für dich!“ In der Tüte waren Chips
       und ein Pink-Lemon-Softdrink. „Ich bin obdachlos, nicht pleite!“ Ob sich
       die Menschen da, wo ich herkomme, auch tätowieren lassen, fragte er. Ob wir
       das gleiche Alphabet hätten. Warum ich nicht verheiratet sei.
       
       Vor der Reise hatte ich befürchtet, kaum jemand würde mit mir reden wollen.
       Aber die meisten Menschen im Bus erzählten gerne aus ihrem Leben. Ihre
       Geschichten handelten von Kindern, zu denen der Kontakt abgebrochen ist.
       Vom Wiedersehen mit ihnen, von Drogen, von Krankheit, von ihren Hoffnungen
       und Wünschen. Je länger ich unterwegs war, desto weniger nahm ich die Armut
       wahr, die mich noch am Anfang der Reise so erschüttert hatte. Im Bus gab es
       keine Klassen, keine Berührungsängste. Solange wir auf diesen Polstern
       saßen, waren wir alle gleich.
       
       Nach meiner Reise bemerkte ich, wie etwas in mir sich gelöst hatte. Mein
       Blick auf die Menschen hatte sich verändert, ich urteilte weniger über sie,
       war weniger zynisch. Plötzlich war ich fürchterlich froh, im Süden der USA
       zu leben und nicht in New York oder Philadelphia. Hier in North Carolina
       trugen jeder Kieselstein und jeder Grashalm eine verschlüsselte Geschichte,
       die sich ohne Vorwissen nicht erschließt: über die indigenen Stämme, die
       Tabakindustrie, die britischen Kolonialherren, den zivilen Ungehorsam im
       Kampf gegen die „Rassentrennung“.
       
       1957 fand in Durham einer der ersten Sitzstreiks in den USA statt: Ein
       Pastor und sieben Jugendliche, die „Royal Seven“, betraten eine Eisdiele
       und setzten sich auf die Plätze von Weißen. Dafür nahm die Polizei sie
       wegen Hausfriedensbruchs fest. In Zeiten der politischen Dunkelheit wie
       jetzt geben mir solche Geschichten Halt und Hoffnung. Wenn Menschen sich
       gegen Jahrhunderte lange Unterdrückung wehren konnten, können sie auch MAGA
       überwinden. Dachte ich.
       
       ## Wie eine bestandene Probe
       
       Vor der Präsidentschaftswahl hing wochenlang Spannung in der Luft, es war
       kaum auszuhalten. Zuhause sprachen wir von nichts anderem. Mein Freund
       lebte in seiner Universitätskapsel und glaubte, [1][Kamala Harris würde
       Präsidentin werden]. Ich wettete auf Trump. Aus Atlanta, Georgia berichtete
       ich über die Wahl und ging alleine auf eine MAGA-Party mit viel Glitzer und
       rotblauen Kerzen mit Trumps Gesicht drauf. Auf der Toilette zogen Frauen
       ihre mit Botox aufgeplusterten Lippen mit Lippenstift nach. Ich beobachtete
       sie im Spiegel und ahnte, dass diese Nacht ein Wendepunkt ist. Nichts in
       diesem Land machte den Eindruck, als befinde es sich im Aufbruch. Sondern
       am Rand des Abgrunds. Wenn es stimmt, dass Entwicklungen aus den
       Vereinigten Staaten mit ein wenig Zeitverzögerung zu uns nach Europa
       kommen, kann man sich nur fürchten. [2][Am Morgen nach der Wahl wachte ich
       auf und heulte.]
       
       Aber das Leben kehrte nach der Wahl schnell zum alten Trott zurück. Wir
       feierten Thanksgiving, Hanukkah, Weihnachten. Atmeten weiter, tranken
       Kaffee, gingen ins Kino. Durham sah genauso aus wie vor der Wahl, die „All
       Gender“-Toiletten in den Restaurants waren immer noch da.
       
       [3][Demokratische Zersetzungsprozesse] schreiten erstaunlich beiläufig und
       gleichzeitig sehr schnell voran. Erst als die neue Regierung die Kürzungen
       von Forschungsgeldern bekanntgab und die [4][Abschieberazzien auch in North
       Carolina] begannen, drehte sich der Wind. Paradoxerweise passierte in
       dieser Zeit etwas Unerklärliches. Je weiter abwärts es mit Amerika ging,
       desto mehr kroch das Land in mein Herz.
       
       Ein Ort wie Durham braucht Zeit und Geduld. Ihm fehlt Glanz und Glamour,
       nichts hier erinnert an die Coolness von New York oder L.A. Vielleicht ist
       Durham gerade deshalb die amerikanischste aller Städte.
       
       ## Du bist nicht allein
       
       Durham war ein Zufluchtsort für queere und trans Menschen, die vor den
       Anfeindungen in ihren Familien und Heimatorten im Süden geflohen waren.
       Wenn ich heute „Trans Lives are Sacred“ lese, blicke ich ganz anders darauf
       als in meinen ersten Tagen: als Symbol für Solidarität: Du bist nicht
       allein! Freiheiten, die in New York seit Jahrzehnten als selbstverständlich
       gelten, müssen in den Südstaaten jeden Tag aufs Neue ausgefochten werden.
       Setzt man sich in Durham ins Auto und fährt fünfzehn Minuten, befindet man
       sich in kürzester Zeit im tiefsten transphoben MAGA-Dschungel.
       
       Aber hier ist man stolz auf Pauli Murray, eine nicht-binäre
       Bürgerrechtler:in und Freundin von Eleonore Roosevelt. Außerhalb
       Durhams, wo sie aufwuchs, kennt Murray kaum jemand. Vielleicht wurde sie
       von den Annalen der Geschichte verschluckt, weil sie ihrer Zeit zu weit
       voraus war. Sie verweigerte schon 15 Jahre vor Rosa Parks auf einer
       Greyhound-Busreise den ihr zugewiesenen Platz und setzte sich auf den Sitz
       im weißen Bereich. Dafür steckte man sie ins Gefängnis. Später schloss sie
       als erste afroamerikanische biologische Frau die Yale Law School ab und
       wurde als erste Schwarze von der Episcopal Church in den USA heilig
       gesprochen. Ihre Zitate sind über die ganze Stadt auf den Häuserwänden
       aufgemalt. „Ein Mensch und eine Schreibmaschine ergeben eine
       Protestbewegung.“
       
       Seit dem Morgen nach den Präsidentschaftswahlen habe ich es nie mehr
       bereut, in den USA zu leben. Der Einfluss, den man als einzelne Reporterin
       einer Zeitung auf das Weltgeschehen hat, ist verschwindend gering. In einer
       Zeit, in denen die Ordnung der Welt sich neu sortiert, können wir nur
       Zeuginnen sein. Unsere eigene Ratlosigkeit ist niederschmetternd.
       
       Plötzlich spürte ich eine unaufhaltsame Dringlichkeit, der Welt von diesem
       Land zu erzählen, das mich Einsamkeit und Pancakes gelehrt hatte. Davon,
       wie wunderschön es hier ist: die türkisfarbenen Keys in Florida, das wilde
       Rauschen des Yuba-Flusses im Norden Kaliforniens, die spanischen Moosbäume
       in den Alleen von Savannah, Georgia. Ich wollte, dass die Welt von der
       Solidarität der Menschen hier erfährt, die alles dafür geben, um ihre
       Freunde und Nachbarn vor den Abschiebungen der Einwanderungsbehörde zu
       beschützen. Von der stillen Revolution der Rentner, die mit ihren
       selbstgebastelten Plakaten an Autobahnbrücken stehen und vor dem Ende der
       Demokratie warnen.
       
       ## Und jetzt?
       
       Nach zwei Jahren Amerika fühlt sich ganz Europa wie ein Ferienort an. Ich
       habe die USA verflucht und beständig gelitten, und bin zugleich froh über
       diese Zeit. Wie eine Probe, die man against all odds auf wundersame Weise
       bestanden hat und sich jetzt eine Medaille auf die Uniform hängen darf. Die
       USA haben ihren Weg jetzt erst einmal eingeschlagen. Er ist dunkelschwarz
       und beispiellos für die älteste Demokratie der Welt. Wir hoffen, dass
       irgendwo am Ende eine Lichtrille durchsickert, aber so genau wissen wir es
       nicht. Bis wir dieses Licht erblicken, auf was kommt es jetzt an?
       
       Vielleicht liegt das Sinnreiche unserer Gegenwart im Kampf gegen die
       Einsamkeit. Darin, Momente von Gemeinschaft und Loyalität im Alltäglichen
       zu schaffen und Mensch zu bleiben, unsere eigene Gleichgültigkeit nicht
       zuzulassen. Selbst dann, wenn es am schwersten ist, selbst dann, wenn wir
       erschöpft sind. Es ist die einzige zuverlässige Strategie, verbrecherischen
       Politiker:innen und Machtstrukturen entgegenzutreten.
       
       18 Oct 2025
       
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