# taz.de -- Berichterstattung über Coronapandemie: „Medien haben die Regierung vor sich hergetrieben“
       
       > Der Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer hat die Berichterstattung
       > großer Medienhäuser in der Pandemie untersucht. Die ausgewerteten Daten
       > sind überraschend.
       
 (IMG) Bild: Nicht alle haben sich in Politik und Berichterstattung wiedergefunden: Demonstration gegen Coronamaßnahmen, Berlin, November 2020
       
       taz: Herr Maurer, der Bundestag hat kürzlich eine [1][Kommission zur
       Aufarbeitung der Coronapolitik] eingesetzt. Ist es wirklich nötig, über all
       das nochmal zu sprechen? 
       
       Marcus Maurer: Ich denke schon. Nicht, um nachträglich Dinge
       zurechtzurücken oder damit sich irgendwer bei irgendwem entschuldigt. Es
       ist wichtig, das aufzuarbeiten, um besser gewappnet zu sein, wenn so etwas
       noch mal passiert. Wie man das macht, ob man dafür eine Enquetekommission
       braucht, ist eine andere Frage.
       
       taz: Manche fordern eine Aufarbeitung, weil sie sich in der öffentlichen
       Debatte und in den Medien damals nicht wiedergefunden haben. 
       
       Maurer: Wenn wir über Medien sprechen, gilt das Gleiche wie für die
       Kommission: Wir sollten uns fragen, was falsch gelaufen ist, um es in der
       Zukunft besser zu machen.
       
       taz: Sie haben untersucht, [2][wie große Medien] in den Jahren 2020 und
       2021 über Corona berichteten. Was haben Sie festgestellt? 
       
       Maurer: Wir haben die Berichterstattung etablierter Online-medien wie
       spiegel.de, sueddeutsche.de welt.de oder bild.de und Fernsehnachrichten von
       ARD, ZDF und RTL ausgewertet. Dabei haben wir herausgefunden, dass die
       untersuchten Medien tatsächlich einseitig berichtet haben, sie waren sehr
       im „Team Vorsicht“. Manche mehr, manche weniger, aber alle haben deutlich
       vor der Pandemie gewarnt und für harte Maßnahmen plädiert. Das kann man gut
       oder schlecht finden. Normalerweise wollen wir eine vielfältige
       Berichterstattung, aber in der Pandemie standen wir vor großen Problemen,
       die gelöst werden mussten, da kann man das auch anders beurteilen.
       
       taz: Die Medien waren der Regierung gegenüber zu unkritisch, lautete ein
       Vorwurf. Stimmt das? 
       
       Maurer: Das sehen wir so nicht in unseren Daten, im Gegenteil. Nach einer
       Anfangsphase, in der die Berichterstattung relativ positiv war, wurde die
       Regierung schnell stark kritisiert. Je länger die Pandemie gedauert hat,
       desto schärfer wurde die Kritik. Die von uns untersuchten Medien haben der
       Regierung vorgehalten, sich zu spät zu harten Maßnahmen durchgerungen zu
       haben.
       
       taz: Der Regierungskurs wurde als zu lasch kritisiert? 
       
       Maurer: Ja. Den Medien generell wurde in der Pandemie ja vorgeworfen, dass
       sie der Regierung nur hinterhergelaufen seien. Unsere Auswertung hat jedoch
       ergeben, dass sie die Regierung vor sich hergetrieben und zu noch härteren
       Maßnahmen gedrängt haben. Sie haben einseitig berichtet, aber nicht
       unkritisch.
       
       taz: Was ist bei dieser Einseitigkeit zu kurz gekommen? 
       
       Maurer: Die Auswahl der Experten war beschränkt, es gab einen starken Fokus
       auf Virologen. Das hat erst mal Sinn gemacht, denn es ging ja um ein Virus.
       Für die Beurteilung von Maßnahmen hätten dann aber andere Experten zu Wort
       kommen können. Was passiert mit einer Gesellschaft im Lockdown? Was mit
       Kindern, die nicht mehr in die Schule können? Was mit Selbstständigen,
       deren Restaurant pleite geht? Was mit alten Menschen, die alleine in
       Pflegeheimen sitzen? Das haben wir damals manchmal aus den Augen verloren.
       
       taz: Es gab entsprechende Berichte. 
       
       Maurer: Aber verhältnismäßig wenig. Das ist auch verständlich: Man sieht
       dieses Problem vor sich, das dringend gelöst werden muss. Und man sieht
       nicht, dass die Maßnahmen, die die Infektionen eindämmen sollen, für manche
       Menschen auch große Probleme verursachen. Die gesundheitlichen und die
       psychosozialen und wirtschaftlichen Folgen wurden wenig gegeneinander
       abgewogen. Das zu tun, hätte am Ende ja nicht heißen müssen, dass man sich
       gegen Maßnahmen entscheidet. Aber die Menschen so aus den Augen zu
       verlieren, das war nicht unbedingt schön.
       
       taz: Es gab auch damals Kritiker*innen der Maßnahmen, etwa aus der
       Querdenkenbewegung. Die kamen wenn, dann nur negativ in der
       Berichterstattung vor, hat Ihre Studie ergeben. Richtig? 
       
       Maurer: Das kann man so sagen. Allerdings muss man unterscheiden. Wenn
       jemand sagt, das Virus sei ungefährlich, harmlos wie eine Grippe, dann ist
       das eine falsche Tatsachenbehauptung, die muss man als Medium nicht
       transportieren. Das Problem war meines Erachtens, dass zu wenig über
       diejenigen berichtet wurde, die gesagt haben: Wir können diese oder jene
       Maßnahme machen, doch sie wird auch negative Folgen haben, und jetzt müssen
       wir das abwägen. Das wäre wertvoll gewesen. Es fehlte auch eine Einordnung
       der Informationen.
       
       taz: Was meinen Sie? 
       
       Maurer: Die Zahlen von Infizierten und von Toten wurden ständig
       kommuniziert, aber der Vergleich etwa mit anderen Todesursachen kam nur
       ganz selten vor. Wie viele Menschen sterben an der Grippe an einem Tag?
       Oder wie viele an einem Herzinfarkt? Und wie viele im Vergleich an Corona?
       So hätten sicher mehr Menschen verstanden, wie schlimm diese Pandemie
       wirklich ist.
       
       taz: Wie hat sich die Berichterstattung über Corona auf das Vertrauen der
       Menschen in die Medien ausgewirkt? 
       
       Maurer: Es gab zu Beginn der Pandemie einen Anstieg des Vertrauens in die
       Medien und auch der Mediennutzung. Die Menschen hatten ein
       Informationsbedürfnis, und zum Glück nutzen sie dafür im Wesentlichen immer
       noch klassische Nachrichtenmedien. Im Laufe der Pandemie ging das Vertrauen
       dann zurück. Über die Gründe kann ich nur spekulieren. Wahrscheinlich sind
       das Leute, die ihren Standpunkt in der Berichterstattung zu wenig
       wiedergefunden haben.
       
       taz: Manche Journalist*innen fühlten sich damals sicherlich auch
       mitverantwortlich für den Fortgang der Pandemie. Es gab die Sorge, dass
       Berichte über negative Folgen der Maßnahmen deren gesellschaftliche
       Akzeptanz gefährden könnten. 
       
       Maurer: Was ist die Aufgabe von Journalismus in solchen Momenten? Das ist
       die Frage. Ich kann gut nachvollziehen, dass Journalisten ihren Teil dazu
       beitragen wollten, dass diese Pandemie möglichst schnell beendet wird. Aber
       wahrscheinlich hätte man das auch erreicht, wenn man ein paar
       Gegenargumente mehr beschrieben hätte. Menschen kriegen die Probleme ja
       trotzdem mit und fragen sich: Warum schreibt keiner darüber? Das kann dann
       kontraproduktiv sein. 10 bis 15 Prozent vertrauen den Medien inzwischen
       überhaupt nicht mehr. Vor der Pandemie lag dieser Anteil noch bei rund fünf
       Prozent. Das ist eine deutliche Veränderung, die man im Blick behalten
       muss.
       
       taz: Ist die mediale Einseitigkeit während Corona auch auf den
       [3][Rally-’round-the-flag-Effekt] zurückzuführen, also, dass
       Journalist*innen sich in Krisen wie alle anderen stärker um die eigene
       Staatsführung scharen und Vielfalt weniger Raum hat?
       
       Maurer: Das ist so. Die [4][Regierung kommt in Krisenzeiten] medial sehr
       viel stärker vor als die Opposition. Wir haben uns neben Corona auch die
       Berichterstattung in der Flüchtlingskrise 2015 und zu Beginn des
       Ukrainekriegs angeschaut, auch da sehen wir dieses Muster. Das muss gar
       kein gezieltes Anliegen sein. Medien sind in solchen Momenten auf
       Informationen der Regierung angewiesen, da passiert das automatisch. Bei
       jeder dieser Krisen haben wir zudem festgestellt, dass die
       Berichterstattung über die Regierung am Anfang der Krise positiver ist als
       normalerweise. In allen drei Krisen ließ das aber schnell nach.
       
       taz: Gibt es dabei nicht große Unterschiede zwischen den Medien? 
       
       Maurer: Die taz schreibt normalerweise ganz anders über Themen als die FAZ,
       etwa über das Bürgergeld. In einer Krise berichten aber alle zunächst
       relativ gleich. Auch für Journalisten ist die Situation ja neu, es gibt
       eine große Unsicherheit, man verlässt sich erst mal auf die Vorschläge der
       Regierung, Journalisten orientieren sich auch aneinander. Bei Corona wurden
       die Unterschiede mit der Zeit wieder größer, etwa in der Beurteilung der
       Maßnahmen. Im Ukrainekrieg haben sich die Positionen eher angeglichen, da
       waren nach einigen Monaten fast alle für die Lieferung schwerer Waffen.
       
       taz: Die nächste Krise kommt bestimmt. Was würden Sie Journalist*innen
       empfehlen – mehr Vielfalt wagen? 
       
       Maurer: Nicht bei allen Krisen geht es gleich [5][um Leib und Leben wie bei
       Corona]. Wenn das nicht der Fall ist, muss man auch nicht gleich Angst
       haben, Leben zu gefährden, wenn man mal jemanden zu Wort kommen lässt, der
       etwas anderes vertritt als die gängige Mehrheitsposition. Eine Vielfalt von
       Themen und Positionen ist ja eigentlich ein Gebot für die
       Medienberichterstattung, gerade für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In
       existenziellen Krisen mag das etwas anders sein. Aber auch da wäre eine
       gewisse Vielfalt wichtig und richtig.
       
       23 Sep 2025
       
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