# taz.de -- Soziologin zur Menstruation: „Enttabuisierung ist mehr als Ausweitung von Konsum“
       
       > Sophie Bauer forscht zu Menstruation. Hier erklärt sie, warum sie lieber
       > von Menstrualität spricht und wie sich der Mythos vom giftigen Blut
       > weiter hält.
       
 (IMG) Bild: Moderne Periodenprodukte machen einiges erträglicher, doch Menstruation bleibt ein Tabuthema
       
       taz: Frau Bauer, was hat Hippokrates mit meiner Menstruation zu tun? 
       
       Sophie Bauer: Die Scham, die mit Menstruation einhergeht, und der
       Imperativ, sie müsse versteckt werden, haben ihren Ursprung in der Antike.
       Hippokrates oder auch der römische Gelehrte Plinius der Ältere haben
       Menstruationsblut als etwas Giftiges, den Körper Schwächendes angesehen.
       
       taz: Sie haben ein Buch über Menstruation geschrieben. Darin heißt es, dass
       Frauen bis in die 1990er Jahre in Deutschland teils bei Schlachtungen nicht
       anwesend sein durften: Man glaubte, Menstruationsblut verderbe das Fleisch. 
       
       Bauer: Die Idee des giftigen Bluts lässt sich über die Zeit hinweg sehr gut
       beobachten. Im Mittelalter dachte man in Europa, dass die giftigen Säfte
       auch ins Hirn aufsteigen und dort Schaden anrichten können. Im 20.
       Jahrhundert wollte ein Wiener Arzt dann festgestellt haben, dass Blumen
       schneller welken, wenn seine Haushälterin menstruiert. Die Vorstellung,
       dass Menstruation eklig oder in gewisser Weise problematisch ist, hält sich
       bis heute.
       
       taz: Welche Konsequenzen haben Vorstellungen von Gift, Schwäche und Ekel
       auf die gesellschaftliche Position von Frauen?
       
       Bauer: Die Blutung wird historisch und bis heute zur Erklärung, warum
       Frauen schwächer sind, körperlich wie geistig, also auch zu psychischen
       Erkrankungen neigen. Als Arbeitskräfte oder auch politische Subjekte sind
       sie demzufolge nicht verlässlich, nicht belastbar und also dem Mann
       untergeordnet.
       
       taz: Woran machen Sie das fest? 
       
       Bauer: 2021 haben zwei Jungunternehmer Handschuhe entwickelt, um benutzte
       Tampons auszuführen, einzupacken und sich und anderen so den körperlichen
       Sichtkontakt mit Blut zu ersparen. Donald Trump sagte vor einigen Jahren
       über eine Fernsehmoderation, es sei „blood coming out of her wherever“ –
       und meinte damit offenbar, sie sei nicht zurechnungsfähig. So etwas hat ein
       Echo in abwertenden Alltagskommentaren wie „die hat wohl ihre Tage“.
       
       taz: Seit wann haben sich Frauen selbst in ihre Menstruationsgeschichte
       eingeschrieben? 
       
       Bauer: [1][Frauen hatten nicht nur als Betroffene schon immer
       Expert*innenwissen], das mündlich weitergegeben wurde. Doch diese
       weibliche Wissenskultur wurde spätestens ab dem 16. Jahrhundert sukzessive
       durch den männlichen Arztberuf zurückgedrängt. Eine der ersten
       feministischen Stimmen der Menstruationsforschung war in den 1950ern Simone
       de Beauvoir. Die Philosophie war eine sehr männlich geprägte Disziplin,
       stark auf die Dominanz des Geistes über den Körper orientiert – und de
       Beauvoir hat als eine der ersten die körperlichen Erfahrungen von Frauen
       thematisiert. Im Zuge der Frauengesundheitsbewegung im 20. Jahrhundert
       entstand dann die interdisziplinäre Menstruationsforschung aus dem Wunsch
       heraus, sich jenseits des männlich-medizinischen Blickes eigenes Wissen
       anzueignen und weiterzugeben.
       
       taz: Sie beschäftigen sich nicht nur mit Menstruation, sondern mit
       Menstrualität. Was ist das? 
       
       Bauer: Wenn wir über Menstruation sprechen, sprechen wir meistens über die
       Blutung. Der Begriff Menstrualität ermöglicht aber, den gesamten Zyklus von
       der Blutung über die Follikelphase bis zum Eisprung mitzudenken – und zudem
       den Prozess von Menarche, also der ersten Periode, bis zur Menopause
       lebensübergreifend und sozial vermittelt zu denken.
       
       taz: Was bedeutet das konkret? 
       
       Bauer: Neben historischen Kontinuitäten geht es zum Beispiel um
       Technologien wie Tampons, Apps, Kalender. Es geht um Praktiken der Vorsorge
       und der Fürsorge: Habe ich noch genug Tampons zu Hause, wann fahre ich in
       Urlaub, will ich dann meine Tage haben oder sollte ich die Pille
       durchnehmen? Es kann auch um Gefühle und Einstellungen gegenüber der
       Blutung gehen und um Körperwissen: Wie fühlt sich das an, wenn der Cup
       vollläuft? Was braucht mein Körper? Und natürlich geht es um politische
       Diskurse.
       
       taz: Was haben Sie zentral herausgefunden? 
       
       Bauer: Menstrualität ist nichts, was mit der Menarche ins Leben kommt und
       unverändert bleibt. Sondern sie muss immer wieder aufs Neue erlernt und
       ausgelotet werden. Vielleicht findet eine Person ihr Blut anfangs eklig,
       lernt aber einen Umgang damit. Oder vielleicht passen die Periodenprodukte
       nach drei [2][Geburten] nicht mehr. Darin steckt auch die Idee von
       Menstrualität als eine Form von Körperarbeit, mit deutlicher Parallele zu
       Carearbeit: Die Sorge in der Menstrualität ist feminisierte Arbeit,
       unsichtbare Arbeit, die mit viel mentaler Belastung einhergeht. Vielen
       fällt gar nicht auf, dass die Dinge auch anders sein könnten.
       
       taz: Wie denn? 
       
       Bauer: Wir müssen nach den Bedingungen fragen – zum Beispiel der
       Infrastruktur, in der Menstruierende diese Art von Carearbeit ausführen
       müssen. Öffentliche Toiletten, Seife, Sauberkeit, Toilettenpapier,
       Mülleimer spielen eine Rolle. Letztlich geht es aber um größere
       gesellschaftliche Probleme wie ein enges Verständnis von Krankheit, in dem
       weibliche Schmerzen abgewertet werden. In Arbeitsverhältnissen ist etwa die
       Möglichkeit wichtig, sich krankmelden zu können, zum Beispiel aufgrund von
       Menstruationsbeschwerden. Und natürlich geht es um Periodenarmut auch hier
       in Deutschland.
       
       taz: Periodenarmut? 
       
       Bauer: Für viele Menstruierende sind Periodenprodukte teuer. [3][Wie so oft
       im Bereich der reproduktiven Gesundheit] fehlt es an Forschung, aber einer
       Umfrage von Plan International zufolge sind hierzulande 23 Prozent der
       Menstruierenden betroffen. Und schließlich ist das Ganze für queere
       Menstruierende noch mal ungleich schwieriger und mit mehr Risiken
       verbunden.
       
       taz: „Nicht alle Frauen menstruieren, und nicht alle Menstruierenden sind
       Frauen“, schreiben Sie. Was bedeutet das für Ihre Forschung? 
       
       Bauer: Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von
       Geschlecht und Menstrualität war mir sehr wichtig. Ich habe qualitative
       Leitfrageninterviews mit cis Frauen, nicht-binären Personen und mit einem
       trans Mann geführt: ganz unabhängig davon, welchem Geschlecht sich
       Menstruierende zugehörig fühlen, müssen sich alle mit Zuschreibungen von
       Weiblichkeit auseinandersetzen. Zudem sind queere Menstruierende von
       Unsichtbarmachung doppelt betroffen. Das kann bedeuten, dass ein trans Mann
       in der Drogerie ungern Tampons kauft. Es kann aber auch heißen, dass beim
       Wechseln von Periodenprodukten auf öffentlichen Toiletten Angst vor
       transfeindlicher Gewalt mitschwingt.
       
       taz: Wo stehen wir hierzulande in Bezug auf Menstrualität? 
       
       Bauer: Einerseits wird das Thema seit etwa zehn Jahren medial viel stärker
       thematisiert. Es gibt immer mehr Initiativen für kostenfreie
       Periodenprodukte auf öffentlichen Toiletten, auch der Markt dafür hat sich
       stark diversifiziert. Aber Enttabuisierung ist viel mehr als eine
       Ausweitung von Konsum. Gleichzeitig sind die Scham und der Wunsch nach
       Unsichtbarkeit nach wie vor dominant im alltäglichen Handeln. Das kann
       zusätzlichen Stress verursachen: Ich weiß, dass ich mich nicht schämen muss
       – aber ich schäme mich trotzdem.
       
       taz: Wie sehr unterscheiden sich globaler Norden und Süden in Bezug auf
       Menstruation? 
       
       Bauer: In Regionen, in denen es kaum fließendes Wasser gibt, sind die
       Herausforderungen natürlich ganz andere als in Regionen mit Zugang zu
       sauberen Sanitäranlagen. Einige Studien zeigen für Länder wie Kenia,
       Äthiopien oder Indien, dass die Menstruation der Grund für höhere
       Fehlzeiten von Mädchen in der Schule sein kann: Scham spielt hier ebenso
       eine Rolle wie etwa fehlende saubere Periodenprodukte. Auch
       Menstruationsaktivismus unterscheidet sich entsprechend stark nach Kontext.
       
       taz: Würde es denn reichen, wenn auf öffentlichen Toiletten Tampons stehen
       und Seife vorhanden ist? 
       
       Bauer: Es wäre ein Fortschritt. Aber es geht um mehr: Unser
       Gesundheitssystem, unsere Arbeitsbedingungen und unsere Körperbilder sind
       patriarchal geprägt, dahinter steht ein enormes Leistungs- und
       Kontrolldenken. Diese Faktoren tragen nicht zu einem gesundheitsfördernden
       und selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper bei. Erst wenn wir
       Fürsorge und Verletzlichkeit als gesellschaftliche Werte anerkennen,
       schaffen wir Bedingungen, in denen Menstrualität nicht kontrolliert werden
       muss, sondern selbstverständlich und selbstbestimmt gelebt werden kann.
       
       19 Sep 2025
       
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