# taz.de -- Tagebuch aus Sachsen: Mit vier Katzen von Dschinghis Khan geweckt
       
       > Unser Autor ist von Russland nach Deutschland gekommen. Gut ist, dass er
       > eine Wohnung bekam. Schlecht sind Musik und Fahnen.
       
 (IMG) Bild: Dschinghis Khan und das deutsche Russlandbild, 1979
       
       Ich sitze auf einem Koffer im Vorraum eines Nahverkehrszugs irgendwo in der
       Nähe von [1][Nürnberg]. Ich bin gerade mit zwei 25-Kilo-Koffern, einem
       Rucksack, einer Tasche und einer Tragetasche mit zwei Kätzchen über zehn
       Bahnsteige gerannt, um meinen Anschlusszug zu erreichen, der nur vier
       Minuten später abfährt. Aus dem Rucksack, den ich vor der Brust trage,
       schaut eine Katze hinaus. Sie atmet schwer, streckt die Zunge heraus, ihr
       Fell klebt an meinen Händen und bildet kleine Knäuel, und wenn ich sie
       berühre, fängt sie an zu kämpfen und zu fauchen.
       
       Meiner Katze geht es schlecht: Ich habe Angst, dass sie einen Sonnenstich
       bekommt und es nicht bis zu der kleinen Stadt in [2][Sachsen] schafft, in
       die ich und meine Freundin versetzt wurden. Ich habe Angst, dass das
       Gleiche auch meinen drei anderen Katzen passiert, die in zwei weiteren
       Transportboxen sitzen. Obwohl sie auch schwer atmen und überhitzt sind,
       scheint es, als würden sie es schaffen.
       
       Ich bin Russe. Journalist. Es ist mein erster Tag in Deutschland. Genauer
       gesagt, sind es die ersten 14 bis 15 Stunden meines zweiten Aufenthalts in
       etwas mehr als drei Jahren, seit ich wegen des Krieges aus Russland in die
       georgische Hauptstadt [3][Tbilsi] geflohen bin.
       
       Seit Mitternacht bin ich auf den Beinen: Ich war zum Flughafen gefahren,
       hatte Angst, die Grenze zu passieren, auch wenn es nicht die russische war,
       wartete auf den Abflug, stieg ins Flugzeug – und freute mich sehr, als ich
       durch das Fenster die grünen Felder sah. Aber der Zug vom Flughafen München
       zum Bahnhof hatte 40 Minuten Verspätung – das warf meinen ganzen Zeitplan
       durcheinander, ich verpasste den nächsten Zug. Meine Tickets waren
       ungültig.
       
       ## Das Glück und die Hilflosigkeit
       
       Ich glaube, ich hatte Glück, dass ich nicht allein umgezogen bin, sondern
       mit meiner Freundin. Zusammen ist es leichter, aber jetzt steht sie auf
       einem der endlos erscheinenden Bahnsteige des Münchner Bahnhofs, und Tränen
       der absoluten Hilflosigkeit laufen ihr über die Wangen, gemischt mit dem
       Gefühl, dass sie, egal wie sehr sie sich auch bemüht, ihr Ziel nicht
       erreichen wird.
       
       Wir hatten wieder Glück. Im Gegensatz zu vielen meiner Bekannten und
       Freunde wurden wir nicht in einem [4][Flüchtlingsheim] untergebracht,
       sondern erhielten eine Sozialwohnung.
       
       Nach zweimal Umsteigen und 18 Stunden aktiver Fortbewegung gelang es uns
       schließlich, unsere Stadt zu erreichen. Wir wurden von freundlichen
       Sozialarbeiterinnen empfangen und auf Wohnungen verteilt. Meine Freundin
       nahm zwei Kätzchen mit, und ich nahm die beiden anderen Katzen. Als wir die
       Treppe des Sozialwohnungsgebäudes hinauf gingen, sah ich durch das Fenster
       eines der Flure die Flagge der AfD stolz wehen.
       
       Ich bezog mein Zimmer: Ich bekam die Schlüssel, eine Tüte mit Lebensmitteln
       und man zeigte mir mein Bett und die Bettwäsche. Ich war sehr dankbar für
       diesen Empfang. Als ich allein war, war es schon spät. Ich räumte lange
       meine Sachen auf und lag dann auf dem Bett und dachte, dass dies bereits
       mein zweiter „Neuanfang“ in einem neuen Land war, in dem ich für immer
       bleiben wollte, wenn schon nicht für immer, dann zumindest für lange Zeit.
       
       Allmählich schlief ich ein, hörte aber noch, wie sich die Nachbarn (die
       stolz eine Fahne hissten) im Hof versammelten, etwas besprachen und
       lachten. Ein paar Stunden später – es muss gegen ein oder zwei Uhr morgens
       gewesen sein – wachte ich auf, weil vor meinem Fenster ein Lied gespielt
       wurde: „[5][Moskau, Moskau], wirf die Gläser an die Wand / Russland ist ein
       schönes Land, ho-ho-ho-ho-ho, hey!“
       
       Willkommen in Deutschland.
       
       Ivan Zilov ist ein Journalist aus Russland und ehemaliger Teilnehmer eines
       [6][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung]. 
       
       Aus dem Russischen von [7][Tigran Petrosyan]. 
       
       Durch Spenden an die [8][taz Panter Stiftung] werden unabhängige und
       kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts
       „Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt.
       
       31 Aug 2025
       
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