# taz.de -- Boom der Kinderprogramme in Museen: Die Performance zum Mitmachen beginnt erst später
       
       > Kinder sind die neueste Zielgruppe von Kunstinstitutionen, Angebote für
       > sie in Museen boomen. Klappt das auch? Beobachtungen aus Hannover und
       > Berlin.
       
 (IMG) Bild: Kommen so auch Kunst und Kinder zusammen? Lygia Clarks „Cabeça Coletiva“ von 1969 kann aufgesetzt und getragen werden (Ausschnitt)
       
       Wer bist du? Name: Toni. Alter: sieben, fast acht. Mit wem bist du heute
       hier? Mama, Leo und Jonathan. Gibt es ein Material, das du gerne fühlst?
       Hast du heute eher gute oder schlechte Laune? „Laaaangweilig! Langweilig!“
       Toni wirft das knallgelbe Kinderprogrammheft, aus dem sie gerade diese
       ChatGPT-Fragen vorgelesen bekommen hat, auf den Boden. Das Heft bleibt
       aufgeschlagen vor einem abstrakten Gemälde liegen: Welche Gefühle wecken
       die Farben des Bildes in dir? Toni rennt weg.
       
       Wir sind in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, besuchen die Retrospektive
       der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark (1920–1988). Ich will wissen,
       wie das so läuft mit Kindern und dem Kunstmuseum. Toni ist mein Guide.
       Warum ich mir diese Frage stelle? Weil Kinderangebote in Museen boomen,
       Kinder die neueste Zielgruppe von Kunstinstitutionen sind. Seit wenigen
       Tagen etwa bespielt auch das Haus der Kunst in München seine monumentale
       NS-Architektur mit einer Schau allein zum Thema Kindheit.
       
       Hinter dem Kinder-Trend muss ein größerer Wunsch stecken: Museen sollen
       inklusiver, diverser und nachhaltiger werden. Große Häuser, wie das Museum
       Ludwig in Köln oder die Berlinische Galerie, haben unlängst eigene Stellen
       dafür eingerichtet. Das International Council of Museums (ICOM) definiert
       Inklusion seit 2022 als eines der [1][Kernziele von Museumsarbeit]. Sogar
       die Messe Art Basel will ihre kommerziellen Megashows zu „einem
       integrativen Erlebnis“ für Kinder machen. Aber kommen Kinder dadurch
       wirklich zur Kunst? Und wie steht es um den Inklusionswunsch der Museen,
       wenn die Kulturpolitik kein Geld mehr gibt?
       
       ## Das kunstpädagogische Gewissen
       
       Zurück in der Neuen Nationalgalerie: Lygia Clarks konkrete Malereien und
       taktile, geometrische Plastiken hat Toni zielstrebig links liegen gelassen.
       Sie sitzt jetzt im Activity-Room am Ende der Ausstellung. Hier soll
       gebastelt, an Masken gerochen und so das partizipativ-performative Element
       in Clarks Kunst mit „allen Sinnen“ erfahren werden. Allerdings nach
       Anleitung. Ob auf Wandbannern oder im gelben Kinderheftchen, das
       kunstpädagogische Gewissen appelliert: „Hier bist du gefragt! Dies ist ein
       Kunstwerk zum Mitmachen.“
       
       Toni will aber kein Möbiusband basteln, wie vorgegeben. Sie schnippelt wild
       an den ausgelegten Papierrollen herum, klebt Streifen zusammen, bis sie ein
       gut zehn Meter langes Papierband ergeben, mit dem Toni
       Ausstellungsbesucher, die Podeste mit Clarks Plastiken und ein paar
       schamvoll staunende Kinder umrundet. Andere Eltern machen begeistert Fotos
       davon, ein junger Mann kopiert Tonis Einfall. Der Aufseher lächelt müde und
       weist darauf hin, dass die offizielle Mitmachperformance erst um 12 Uhr
       anfange.
       
       Das Verhalten der Erwachsenen verrät, was die eigentliche Wirkung des
       Mitmachprogramms ist: gezwungen spielerische Infantilisierung. Eltern
       erkennen das Kind in sich, nicht das Kind sich selbst in der Kunst.
       Ausschließlich Erwachsene probieren sich an Clarks faltbaren
       Metallplastiken aus, von den Kindern bleiben sie so unbemerkt wie ein
       Bücherregal im Disneyland. Zu sehr checken Toni und die anderen Kinder,
       dass ihr Kinderspielbereich klar abgesteckt ist. Sie sollen zwar mitmachen,
       aber nicht so, wie sie das selbst spontan wollen. Das Vermittlungsprogramm
       vermittelt starr – entfremdet von Kunst und Kindern.
       
       Ist das die Inklusion, die die Museumsmacher wollen? Nach einem Blick ins
       Impressum des Begleithefts frage ich mich vielmehr, was die Neue
       Nationalgalerie, eines der wichtigsten Kunstmuseen des Landes, überhaupt
       mit ihrem Kinderprogramm will? Konzipiert und entwickelt hat es eine
       Praktikantin, die dort gerade ihr Freiwilligenjahr macht. Einen Vorwurf
       kann man chronisch unterbezahlten Praktikantinnen nicht machen – der
       verantwortlichen Stiftung Preußischer Kulturbesitz aber schon: Sind euch
       Kinder nicht mehr wert?
       
       ## Kritische Museumstheorie und Interessensverbände
       
       Spätestens mit Ex-Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte sich ja
       politisch durchgesetzt, was kritische Museumstheorien und
       Interessenverbände wie die ICOM schon lange gefordert hatten: Museen
       sollten gesellschaftliche Teilhabe fördern, ihre eigenen Machtstrukturen
       hinterfragen, Inklusionsapparate sein.
       
       Vonseiten der Kulturpolitik gab es basale Gründe für diesen
       Inklusionswunsch. Die Coronapandemie hatte den Museen ihre Besucher
       geklaut. Und überhaupt, wer würde in Zukunft noch ins Museum gehen? Die
       Kinder! Also führte Claudia Roth den Kulturpass ein und versuchte so ihre
       neue Zielgruppe ins Museum zu steuern – seit letzter Woche aber ist der
       Kulturpass Geschichte. In Berlin sah das anders aus. Dort hatte der Senat
       bereits 2012 den Kinder-Kultur-Monat ins Leben gerufen, 2021
       komplementierte dann der kostenlose Museumssonntag das Angebot. Und jetzt?
       
       Kürzungen! Vom neuen [2][BKM-Chef Wolfram Weimer] hört man das salbende
       Wort „Inklusion“ nur noch selten. Und selbst wenn die Museen weiter
       inklusiv sein wollen, fehlt jetzt das Geld dafür. Eingestampft wurde in
       Berlin erst der Museumssonntag, dann die Grundfinanzierung des
       Kinder-Kultur-Monats. Der freien Kinder- und Jugendarbeit wurden 2,3
       Millionen gestrichen. Auf Bundesebene verloren der Soziokulturfonds 2,4 und
       das Familienministerium gleich 900 Millionen. Das heißt, auch für die
       Freiwilligen, die in der Neuen Nationalgalerie das Kinderprogramm
       gestalten, gibt es weniger Geld. Was also sollen die Kinderprogramme in
       Kunstmuseen eigentlich sein? Feigenblätter mit Farbklecksen?
       Verschlimmbessernde Kompensation? Oder die Spießer-Illusion, durch
       Kunsterziehung Demokratie zu retten?
       
       Im Kunstverein Hannover versuchte es der britische Aktionskünstler Jeremy
       Deller kürzlich mit einem anderen Ansatz. Dafür kuratierte er die Show
       [3][„Eine Ausstellung für Kinder (und andere Leute)“]. Im Interview mit dem
       Kunstmagazin Monopol sagt er dazu: „Ich denke, dass Kinder von Natur aus
       ein gutes Kunst-Publikum sind.“ Kinder seien besonders von Konzeptkunst
       fasziniert, so Deller, „weil es darin um Chaos und Fehlverhalten geht.“
       Nicht pädagogische Vermittlung bräuchten Kinder im Museum, sondern
       Freiraum, um ihren eigenen Zugang zu finden. Deller suchte nach der
       konventionsbrechenden Kraft, die Kinder und Kunst verbinden kann.
       
       ## Jeremy Dellers Schnitzeljagd in Hannover
       
       Durch den Kunstverein Hannover führt mich Uma, sie ist acht Jahre alt. Auch
       dieser Museumsrundgang wirkt erst mal wie Mitmachschule. Jeremy Deller
       hatte sich eine Art Schnitzeljagd überlegt. Verschiedene Aufgaben
       navigieren durch die Ausstellung: In David Shrigleys Installation
       beispielsweise soll Uma Selbstporträts zeichnen, in Roman Ondaks
       Performance „Measuring the Universe“ wird an einer Wand ihre Körpergröße
       notiert, und Temitayo Ogunbiyis Kratzbaumplastiken muss sie kletternd
       erklimmen.
       
       Anfangs fremdelt Uma mit den heilighohen Museumshallen. Mit jeder Aufgabe
       wird sie aber lockerer, interagiert mit den Kunstwerken, beurteilt sie
       kritisch. Geht [4][Jeremy Dellers Idee] auf? Ja, die Kinder können sich
       nämlich selbst in die Kunstwerke einschreiben. Ihre Mitmachspuren werden zu
       Artefakten. Ohne die Striche an der Wand, die Umas Körpergröße und die
       anderer Kinder markiert, wäre zum Beispiel das von Roman Ondak vermessene
       „Universe“ nur eines der Erwachsenen. Das Kunstwerk wäre unvollständig,
       ohne visuelle Spannung. Gleichzeitig machen solche Artefakte in der
       Ausstellungsarchitektur das Museum auch zu Umas Ort, zum Ort für Kinder.
       
       Und was sagt die Kritikerin? „Die Ausstellung hier ist schöner als andere,
       weil sie echt für Kinder ist.“ Nachdem der Activity-Parcours sie müde
       gemacht hat, lässt Uma sich auf einen Sitzsack fallen, wie hypnotisiert
       verschwindet sie in der Videokunst von Fischli & Weiss oder [5][Francis
       Alÿs].
       
       Auch in Berlin stellt sich dieser Effekt ein – ganz ohne Appell. Wir haben
       das Kinderprogramm zu Lygia Clark gerade verlassen, da stürmt Toni in die
       Sammlungsschau. Sie hat etwas entdeckt. Vor Pipilotti Rists legendärem
       Video „Ever Is Over All“, in dem die Künstlerin euphorisch die Autoscheiben
       parkender Autos zerschlägt, lässt nun Toni sich auf einen Sitzsack fallen.
       Ihr Urteil? „Ich würde das Auto ja ganz zerhauen, aber erst mal will ich zu
       Hause alles anmalen.“ Was Kinder und Kunst wirklich verbindet? Der Wunsch
       nach Freiräumen – trotz oder gerade wegen einer marodierenden
       Kulturpolitik.
       
       30 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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