# taz.de -- Roadmovie in Marokko: Sie wollen bloß den Bass
       
       > Die Wüste vibriert: „Sirāt“, ein Roadmovie von Óliver Laxe, schickt eine
       > Gruppe Raver mit der grummelnden Musik von Kangding Ray ins Atlasgebirge.
       
 (IMG) Bild: Die Rave-Karawane von „Sirāt“ in der Wüste
       
       Steine mögen leblos sein. Form- oder farblos sind sie nicht: In der
       marokkanischen Wüste gibt es rosettenförmige Sandrosen, es gibt das
       orangefarbene Mineral Vanadinit, Quarzgeoden, Sedimentgesteine, die das
       ringartige „Auge der Sahara“ bilden, das blaue Azurit und weitere Minerale.
       Und selbst wenn Steine nicht eigenständig klingen, eignen sie sich
       hervorragend als Resonanzkörper.
       
       Die ersten Minuten von „Sirāt“ verbinden Felsen und Formen mit Sound:
       Hände, sonnenverbrannt, beige und rot wie die Quarze und Sandrosen
       drumherum, bauen in einer Wüste megalomane Boxen auf. Fast scheinen die
       Lautsprecher aus Steinbrüchen der Umgebung zu stammen – sie sind ebenso
       mächtig, alt, verkratzt und – zunächst – leblos wie die schweigenden
       Felsen. Irgendwann ragt ein imposantes Fort aus Boxen in den Abendhimmel.
       Audio-Kabelschlangen werden in Phonoeingänge gesteckt, es knackt.
       Schließlich startet er, der Sound, der die Wüste zum Leben erweckt – und
       mit seinen monotonen, jedoch nie langweiligen Rave-Rhythmen beginnt auch
       der Tanz.
       
       [1][„Sirāt“, mit dem der französische Regisseur und Drehbuchautor Óliver
       Laxe beim diesjährigen Filmfestival von Cannes den „Preis der Jury“ (ex
       aequo mit „In die Sonne schauen“) gewann], während der Komponist und DJ
       [2][Kangding Ray] mit dem „Cannes Soundtrack Award“ ausgezeichnet wurde,
       zeigt zu Beginn Merkmale eines Tanzfilms. Einer, in dem es nicht um Anmut
       oder Grazie, um trainierte Körper und Ästhetik geht. Sondern, wenn man so
       will, um das Gegenteil: Die Menschen, die beim Rave in der Wüste den
       sandigen Boden aufwirbeln, die gleichsam in die Boxen hineinkriechen, um
       sich ganz in der Musik zu verlieren, deren Gesichter und tätowierte Körper
       nach Schweiß, Staub, zu vielen Drogen und zu viel Sonne aussehen, tanzen
       für sich selbst.
       
       Vielleicht, so lässt es der enigmatische Regisseur im Interview anklingen,
       um etwas zu verarbeiten: „Es geht um Wunden“, sagt er, „wir haben mit dem
       Tod experimentiert.“
       
       Die Story, die Laxe seinem Sound-Bild-Erlebnis mitgibt, ist eine Suche:
       Durch die ohrenbetäubenden Beats und den Pulk der entrückten
       Tänzer:innen schieben sich der stämmige, knapp 60-jährige Luis (Sergi
       López) und sein 12-jähriger Sohn Esteban (Bruno Núñez) wie zwei
       deplatzierte Beobachter aus einer anderen Welt. Luis und Esteban haben
       jemanden verloren, oder vielleicht auch nicht: Luis’ Tochter, Estebans
       Schwester Mar ist verschwunden. Ihr letzter bekannter Aufenthaltsort war
       ein Rave in Marokko. Mit Fotos versucht die ausgedünnte Familie inklusive
       (ebenfalls in Cannes ausgezeichnetem) Hund, jemanden zu finden, der Mar
       gesehen hat.
       
       Dabei stoßen Luis und Esteban auf eine aus zwei Frauen und drei Männern
       bestehende (von echten Raver:innen gespielte) Gruppe, die des Spanischen
       mächtig sind und von einem weiteren, heimlichen Rave irgendwo tief in der
       Wüste erzählen. Kurz darauf tauchen bewaffnete Soldaten mit der
       Hiobsbotschaft eines ominösen Kriegsausbruchs auf, die den Rave beenden und
       die Europäer:innen unter den Gästen auffordern, umgehend in ihre Länder
       zurückzukehren.
       
       ## Autark und ohne Konventionen
       
       Die Ravertruppe bricht mit ihren beiden Schwerlasttransportern jedoch aus
       der wartenden Autoschlange aus und rattert gen Felsenlandschaft. Kurzerhand
       folgt Luis ihnen mit seinem wüstenuntauglichen Familienauto. Zusammen mit
       Sohn und Hund beginnt für ihn hier die Reise – zeitgleich entwickelt sich
       der Film zu einem Roadmovie, bei dem das genau Ziel im Dunkeln bleibt.
       
       Statt mit Landkarten seine Tour über gut befahrbare Straßen zu planen, wird
       der weder abenteuerlustige noch ravebegeisterte noch esoterische Luis nun
       mit der radikal zenbuddhistischen, freien Lebensweise der Raver:innen
       konfrontiert: Ihnen geht es nicht um das Finden, sondern um den Weg; nicht
       um die Realität, sondern um den Sound. Die Gruppe Menschen, die in Luis’
       ehemaligem Leben als Außenseiter:innen abqualifiziert worden wären –
       sie leben autark und ohne Konventionen, zwei von ihnen fehlen Gliedmaßen –
       werden zu Luis’ und Estebans neuer, durchaus funktionaler
       (Patchwork-)Familie.
       
       Den mit Kameramann Mauro Herce entstandenen Bildern geben die Bewegung, das
       ständige Fahren des kriegserprobten M911, eines ehemaligen US-Army-Trucks,
       und des mächtigen, staubigen Wohnmobils extreme Dynamik. Zusammen mit Luis’
       hinterhereiernder, zunehmend dreckiger Familienkiste bilden die Fahrzeuge
       so selbst eine sich durch die Wüste fräsende Kleinfamilie.
       
       Neben dem auf fahrenden Autos angesiedelten Legacy-Sequel [3][„Mad Max –
       Fury Road“ von 2015] und Steven Spielbergs Debüt-Fernsehfilm „Duell“ von
       1971, in dem ein Autofahrer in der kalifornischen Wüste von einem
       Tanklastzug bedrängt wird, erinnert „Sirāt“ bildlich zuweilen an die
       Fahrszenen des von William Friedkin 1977 inszenierten Thrillers „Sorcerer“
       („Atemlos vor Angst“), in dem zwei alte Trucks, darunter ein dem M911 zum
       Verwechseln ähnlicher M211, Nitroglyzerin transportieren müssen, um einen
       Brand durch Sprengung zu löschen. Friedkin hatte damals als
       passend-tranceartigen Soundtrack unter anderem Tangerine Dream und Keith
       Jarrett gewählt.
       
       Und auch „Sirāt“ wird durch den Soundtrack von Kangding Ray vom
       faszinierenden Erlebnis zum epochalen Trip. Laxe berichtet, dass er die
       Sounds des französischen, in Berlin lebenden DJs bereits im Kopf hatte, als
       er das Drehbuch schrieb. Wie die Bilder und Klänge im fertigen Werk
       korrelieren, ist meisterhaft. So scheinen zuweilen nicht nur die
       emotionalen Zustände, sondern auch jedes Fahrzeug auf der Soundebene eigene
       Klänge zu generieren, je nach Bildausschnitt und Fahrweise finden sie
       zusammen, donnern ein Stück gemeinsam, und entfernen sich wieder.
       
       ## Der Klang erzählt die Geschichte vom Verlust
       
       Kangding Ray erschafft tief grummelnde, aus den Eingeweiden des Planeten
       kommende Töne, seine Beats sind hypnotisch und nehmen sich – eine
       Entscheidung, die sämtliche Gewerke gemeinsam getroffen haben – die Zeit,
       die sie brauchen, um die Dramaturgie zu erschaffen.
       
       Der Sound in diesem Film bildet damit ein ebenso wichtiges, vielleicht gar
       ein emotionaleres Narrativ als die Story. Denn auch wenn die Bilder in
       ihrer kargen Wüstenopulenz ebenfalls eher an das Unbewusste als an das
       Reale appellieren, die oft leeren Dialoge authentisch sind, und Szenen wie
       ein von einem der Raver spontan gesungenes Antikriegslied von Boris Vian
       Hinweise auf Vergangenheit und Motive der Handelnden geben, erzählt der
       Klang, gleichzeitig abstrakt und universal, die Geschichte vom Verlust doch
       am besten.
       
       Und dass es um Verlust geht, muss als Information reichen: Bei „Sirāt“
       empfiehlt es sich wirklich, genaue Inhaltsangaben zu ignorieren, um sich
       von den Wendepunkten überraschen zu lassen. Denn diese sind zwar
       erschreckend, aber passen zur Radikalität des Films, und zur vom Regisseur
       geäußerten, vagen Spiritualität. Der Tod, das sollte man schon wissen, wird
       tatsächlich auf die eine oder andere Art erforscht. Und mitten in der Wüste
       steht eine verlassene Hütte, in der auf einem Fernseher Bilder des so
       genannten Tawāf flimmern, bei dem während der Pilgerfahrt Haddsch ein
       Gebäude in Mekka siebenmal umkreist werden muss.
       
       Der Begriff Sirāt bezeichnet im Arabischen einen schmalen, über die Hölle
       führenden Pfad, den es auf dem Weg zum Paradies zu überqueren gilt. Auch im
       Film stehen die Beteiligten am Ende vor der Aufgabe, durch eine mögliche
       Hölle zu gehen. Ob auf der anderen Seite das Paradies wartet, ist
       allerdings Ansichtssache.
       
       12 Aug 2025
       
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