# taz.de -- Sean Scully-Retrospektive in Hamburg: Hinter den Fassaden
       
       > Sean Scully ist einer der renommiertesten Vertreter abstrakter Malerei.
       > Im Bucerius Kunst Forum wird er auch als Geschichtenerzähler und DJ
       > gezeigt.
       
 (IMG) Bild: Immer wieder malt Scully Kompositionen aus Vertikalen und Horizontalen: „Backcloth“ von 1970 in der Ausstellung
       
       1962, mit 17 Jahren, schuf Sean Scully „Chancery Rents“: ein
       kleinformatiges Gemälde, Acryl auf Leinwand. Es ist ein Frühwerk, das noch
       nicht auf eine ausgebildete künstlerische Handschrift verweisen konnte,
       aber das in sich schon viele Elemente vereinte, die seine Kunst bis heute
       prägen.
       
       Zu sehen ist eine nächtliche, enge Großstadtgasse, das Dunkel wird erhellt
       durch undefinierbare Farbakzente, Scheinwerfer, Fensterlichter,
       Leuchtreklamen, die Häuserzeilen sind schwarze Flächen, unterteilt von
       Querstreben, ein Schild wirbt für eine Künstleragentur.
       
       Scully, geboren 1945 in Dublin und in London aufgewachsen, malt hier noch
       gegenständlich, es ist erkennbar, was er abbildet, aber die Abstraktion
       überwölbt die Straßenszene, das Spiel mit Licht und Schatten, das die
       Bedeutung aus „Chancery Rents“ zieht und auf die Vertikalen und
       Horizontalen der Fensterfronten verteilt. Im Grunde arbeitet Scully heute
       noch so: Er malt vertikale und horizontale Linien, hinter denen sich mehr
       Bedeutung versteckt als man auf den ersten Blick denken würde.
       
       Dass die Scully-Retrospektive „Stories“ im Hamburger Bucerius Kunst Forum
       mit „Chancery Rents“ eröffnet wird, liegt auf der einen Seite nahe: Wenn
       man chronologisch hängt, dann steht das Frühwerk nun mal am Anfang. Es ist
       aber auch ein Hinweis darauf, wie genau Kathrin Baumstark kuratiert hat.
       
       ## Wie ein Oldie-DJ
       
       Weil Scully die hier begonnene Ästhetik in den folgenden 63 Jahren immer
       weiter ausdifferenziert, weil sich von „Chancery Rents“ aus die
       Gitterstrukturen und die Flächen seiner [1][abstrakten Malerei] immer
       tiefer erkunden lassen, im Hinterkopf die noch erkennbare Straßenszene, die
       einem die „Stories“ liefert, die die Abstraktion späterer Arbeiten
       entschlüsseln.
       
       Scully also malt Gitterstrukturen. In „Backcloth“ (1970) entstehen so
       Kästchen zwischen horizontalen und vertikalen Linien, Farbflächen, blau,
       grau, gelb, rot und grün. Das ist ein abstraktes Bild, aber wenn man die
       „Story“ von „Chancery Rents“ erinnert, dann ist auch das eine Hausfassade.
       
       Deutlicher noch wird das bei „Crossover Painting“ (1974), bei dem das
       schmutzige Grau einerseits an die Trostlosigkeit, andererseits an die
       formale Konsequenz eines Plattenbaus erinnert.
       
       Noch einen Schritt weiter geht der Maler mit dem monochromen Schwarz von
       „Italian#2“ (1979), bei dem man die differenzierte Maserung erst beim ganz
       genauen Hinschauen erkennt. Dass diese Maserung allerdings die Struktur des
       italienischen Concerto aufnimmt – ein schneller Satz, ein langsamer, dann
       wieder ein schneller –, das erfährt man erst, wenn man den begleitenden
       Text liest.
       
       Das ist der Knackpunkt dieser Ausstellung: Um sie zu durchdringen, benötigt
       man Kontext, und die umfangreichen Begleittexte sind zwar stimmig, sie
       lenken aber auch von der Kunst ab. Zumal Scully noch eine weitere
       Kontextebene einzieht, indem er einen Soundtrack zu den einzelnen Bildern
       zusammengestellt hat.
       
       Zu „Chancery Rents“ empfiehlt er Sam Cookes „Wonderful World“, zu
       „Backcloth“ [2][Rahid Tahas] „Je suis africain“, zu „Crossover Painting“
       „Waterloo Sunset“ von den Kinks, und immer so weiter. Das macht Spaß, aber
       dass hier einer der renommiertesten abstrakten Maler der Gegenwart
       präsentiert wird und nicht ein Oldie-DJ oder ein Geschichtenerzähler, das
       drängt ein wenig in den Hintergrund.
       
       Im Grunde empfehlen sich zwei Rundgänge durch die Ausstellung. Einer, in
       dem man sich auf den ganzen Kontext einlässt, und einer, in dem man sich
       die Kunst anschaut, ohne sich mit Musik und Texten zu befassen.
       
       Das läuft dann zwar dem Konzept von Baumstark (und wahrscheinlich auch von
       Scully selbst) zuwider, aber man erkennt dabei etwas: wie sich nämlich
       bestimmte Strukturen im Gesamtwerk des Künstlers fortsetzen. Die
       Horizontalen-Vertikalen-Kompositionen, das Kästchenartige, selbst den Hang
       zu Fassaden findet man beispielsweise auch in den sporadischen Fotos.
       
       In „Untitled (Scotland)“ oder in „Barcelona Dark Wall“ (1997) ist ebenfalls
       die Begeisterung für Häuserwände zu sehen, bei denen Fenster und Türen
       weniger Bedeutung transportieren als vielmehr eine abstrakte Kühle in die
       eigentlich figürliche Abbildung schmuggeln.
       
       ## Zurück zum Figürlichen
       
       So gesehen ist es fast eine Enttäuschung, dass Scully in seinen jüngsten
       Arbeiten konsequent zurück zum Figürlichen geht. „Ghost Blood“ (2018) ist
       eine politische [3][Anklage gegen die liberalen Waffengesetze in den USA],
       und wenn man zuvor die Feinheit älterer Bilder schätzen gelernt hat, dann
       ist diese Rückkehr zur Botschaft beinahe platt.
       
       Im Treppenhaus fällt dann noch eine Skulptur ins Auge: „Air Cage“, 2024,
       ein riesiger Edelstahlkäfig, ebenfalls bestehend aus horizontalen und
       vertikalen Streben. Aber der Blick geht weiter durchs Fenster, über das
       Alsterfleet, aufs gegenüberliegende Bürohaus. Fenster, Etagen, Würfel. Man
       hat seine Aufmerksamkeit geschärft, und die Aufmerksamkeit richtet sich
       auf: Fassaden.
       
       18 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Abstrakte-Malerei/!t5395035
 (DIR) [2] /Der-Regenmacher/!1176648/
 (DIR) [3] /Waffengewalt-in-den-USA/!6106668
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Falk Schreiber
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bildende Kunst
 (DIR) Bildende Künstler
 (DIR) Bucerius Kunst Forum
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Hamburg
 (DIR) Zeitgenössische Malerei
 (DIR) Abstrakte Malerei
 (DIR) Malerei
 (DIR) Chemnitz
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Bucerius Kunst Forum
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Eröffnung Chemnitz Kulturhauptstadt 2025: Einfach mal ausprobieren
       
       DIY, Ostmoderne, Apfelbäume: In Chemnitz kommt Unterschätztes zur Geltung.
       Ein Bericht von der Eröffnung des Europäischen Kulturhauptstadtjahres.
       
 (DIR) Die fehlenden Frauen der Kunstgeschichte: Die ewige Muse?
       
       Das Bucerius Kunst Forum Hamburg zeigt Künstlerinnen von der Renaissance
       bis zum Klassizismus, die von der Kunstwelt lange vergessen wurden.
       
 (DIR) Augustus-Ausstellung in Hamburg: Eingelullt durch Bilderflut
       
       Eine Hamburger Ausstellung über Augustus bietet exquisite Skulpturen,
       bleibt aber affirmativ. Die Reflexion über Macht und Medien im alten Rom
       fehlt.