# taz.de -- Strukturproblem Rücksichtslosigkeit: Unsere Empathie wird auch im Zug nach Hameln verteidigt
       
       > Verroht die Gesellschaft immer mehr oder sind wir gegenüber Aggressivität
       > und Rücksichtslosigkeit nur sensibilisierter? Beobachtungen einer
       > Bahnreisenden.
       
 (IMG) Bild: Je mehr Gepäck, desto weniger Platz im Zug
       
       Die Schaffnerin holte Luft und machte die Schultern breit. Sie rüstete sich
       für den nächsten Halt vor Hildesheim, bei dem weitere Menschen, teils mit
       Fahrrädern, versuchen würden, in den Zug zu gelangen. „Diese Leute machen
       noch nicht einmal mehr für Kinderwagen Platz“, sagte sie. „Es nimmt
       wirklich niemand mehr auf irgendwen Rücksicht.“ Sie müsse oft eingreifen.
       
       Nun wäre eine mögliche Antwort gewesen, dass es wohl zu unschönen Szenen
       kommen mag, wenn der vorherige Zug in Hameln auf halber Strecke stehen
       bleibt – „plötzlicher Personalausfall“ – und all die Leute dann in die
       nächsten Züge drängen. Aber das Fass mit dem sattsam bekannten
       Strukturproblem „Zerstörung der Bahn“ wollte ich nicht aufmachen, und sie
       konnte ja auch nichts dafür.
       
       Wer das Fass mit den Strukturproblemen sehr wohl aufmachen will, ist
       [1][Wilhelm Heitmeyer], inzwischen 80-jähriger Soziologe. Als Professor an
       der Uni Bielefeld wurde Heitmeyer berühmt mit seinen Langzeitstudien zur
       „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, also Rassismus, Sexismus und so
       weiter.
       
       Sein aktueller Befund: Die Gesellschaft werde immer aggressiver, das sei in
       Familien und Ehen zu messen, aber auch wenn in Schulen Lehrkräfte
       attackiert würden, wenn bei Notfällen Rettungs- und Feuerwehrkräfte
       angegriffen würden, und in öffentlichen Verkehrsmitteln wie der Bahn. Er
       [2][nennt es „Durchrohung“ der Gesellschaft]. So soll die Strukturfrage
       darin besser zum Ausdruck kommen als im Begriff „Verrohung“.
       
       ## Mehr Gewaltbereitschaft oder mehr Sensibilisierung?
       
       „Die Langzeitdaten sind eindeutig“, erklärt Heitmeyer am Telefon:
       Gewaltbereitschaft nehme zu. Dies sei auch nicht mit einer zunehmenden
       Sensibilisierung zu erklären, wonach Gewalt stärker wahrgenommen, angezeigt
       und also gemessen werde. Wie der Kapitalismus „nur überleben kann, wenn er
       sich ausweitet und seinem Prinzip des Wettbewerbs alles unterwirft“, sagt
       Heitmeyer, so hätten auch die Individuen gelernt, dass sie ihre eigenen
       Werte zum Maßstab machen und sich nur auf Kosten von anderen ausbreiten
       könnten. Das in die Freiheit entlassene Individuum stehe, so Heitmeyers
       Vokabel, unter „Durchsetzungszwang“.
       
       Ich gebe zu, ich hänge an der Sensibilisierungsthese – laut der so vieles,
       was früher „normal“ war oder wegen gewaltvoller Verhältnisse nicht
       angezeigt wurde, heute doch gemeldet wird. Es gibt zwar jene beeindruckende
       [3][Studie der Universität von Michigan von 2010], wonach die
       Empathiefähigkeit unter US-amerikanischen Studierenden in 30 Jahren um 40
       Prozent abgenommen habe, insbesondere ab dem Jahr 2000. Doch kommen mir die
       EmpathieforscherInnen hierzulande [4][ausgesprochen vorsichtig vor, wenn]
       sie auf eine generelle Abnahme der Einfühlungskraft angesprochen werden.
       
       Möglicherweise beschränkt sie sich auch einfach zunehmend auf Angehörige
       der eigenen Gruppe: Dann trägt die viel geliebte Empathie nicht etwa zur
       Befriedung, sondern vielmehr zur Polarisierung der Gesellschaft bei,
       [5][wie eine Studie der Uni Houston von 2019] argumentiert.
       
       Na gut, sagt Heitmeyer, „die Entwicklungen sind nicht überall linear nach
       dem Motto ‚Wird alles immer schlimmer‘, sondern etwa bei der Gewaltneigung
       junger Menschen auch kurvenreich.“ Am „Gesamtbild“ hält er aber fest.
       Übrigens ohne eine optimistische Botschaft hinterherzuschieben.
       
       Die Schaffnerin in der Bahn nach Hildesheim bewog ihre Zuggäste dazu, das
       entscheidende bisschen zusammenzurücken. Dazu mussten vor allem die
       E-Bike-Eigentümer dulden, dass ihre Räder angefasst und zusammengeschoben
       wurden. Daran hängt’s ja oft erst einmal: dass denen mit dem teuren Zeugs
       deutlich gemacht wird, wie viel Platz sie wegnehmen.
       
       26 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Soziologe-Heitmeyer-ueber-Autoritarismus/!6039342
 (DIR) [2] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/hass-und-gewalt-in-deutschland-unsere-gesellschaft-ist-verrohter-als-viele-es-wahrhaben-wollen-kommentar-a-76699874-3179-4bf4-8d47-c347d4fd99b5
 (DIR) [3] https://news.umich.edu/empathy-college-students-don-t-have-as-much-as-they-used-to/
 (DIR) [4] https://www.deutschlandfunk.de/empathie-hass-ist-einfach-salonfaehig-geworden-100.html
 (DIR) [5] https://www.cambridge.org/core/journals/american-political-science-review/article/how-empathic-concern-fuels-political-polarization/8115DB5BDE548FF6AB04DA661F83785E
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Winkelmann
       
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