# taz.de -- 100. Geburtstag von Mikis Theodorakis: Unser Mikis
       
       > Er war die Ikone der internationalen Linken: der griechische Sänger Mikis
       > Theodorakis. Auch für die Gastarbeiter. Eine persönliche Erinnerung zum
       > 100.
       
 (IMG) Bild: Die „soziale Plastik“, circa 1968
       
       Ich liege mit meinem Onkel auf dem Boden unseres Wohnzimmers – in
       Gummersbach, im Jahr 1974 muss das gewesen sein – und wir hören Musik von
       Mikis Theodorakis. 1970, im Jahr meiner Geburt, kommt mein Onkel Antonios
       nach Deutschland, und er wohnt bei uns zu Hause – der kleine Bruder meines
       Vaters Leonidas ist wie ein großer Bruder für mich. Er trägt lange Haare,
       und das ist politisch, denn im Griechenland der Obristen sind lange Haare
       für Männer nicht erlaubt.
       
       Der Plattenspieler spielt dieses Lied „To Sfagio“, „Der Schlachthof“, mit
       diesen berühmten Zeilen „Sie schlagen dich, sie schlagen mich“ – nicht
       gerade kindgerecht. Den Inhalt des Lieds und die ganzen Hintergründe habe
       ich erst später verstanden, als ich mich mit der Geschichte meines
       Gastarbeitervaters beschäftigt habe, auch mit der politischen Geschichte,
       die sich mit der Geschichte der Gastarbeiter verbindet.
       
       Mit dem Staatsstreich vom 21. April 1967 übernimmt in Griechenland eine
       faschistische Verschwörerclique um den Oberst Georgios Papadopoulos die
       Macht. Die Landesgrenzen werden geschlossen, alle Nachrichtenverbindungen
       unterbrochen, die Zeitungen gleichgeschaltet. Im Schutz der Nacht finden
       Verhaftungswellen statt, innerhalb kürzester Zeit verhaftet die Junta
       tausende Exponenten der Demokratie, kaserniert sie in Fußballstadien,
       verschleppt sie in Foltergefängnisse oder auf KZ-Inseln.
       
       ## Komponieren, um nicht verrückt zu werden
       
       Theodorakis gilt den Putschisten als „Staatsfeind Nummer 1“. Anfangs kann
       er untertauchen und aus der Illegalität heraus gegen die Junta kämpfen.
       Aber am Ende wird er doch aufgespürt und ins gefürchtete Foltergefängnis in
       Athen verbracht. Theodorakis ist sicher, getötet zu werden. Tatsächlich
       richtet man ihn zweimal zum Schein hin. Diese „weiße Folter“ ist grausam.
       [1][Theodorakis wird auf die Dachterrasse] des gefürchteten
       Foltergefängnisses in der Bouboulinas-Straße von Athen verbracht und dort
       in einen Verschlag aus Blech gesperrt.
       
       Die Luft darin erhitzt sich in der prallen Sonne auf annähernd 50 Grad. Und
       gleich daneben wird einer seiner engsten Freunde und Weggefährten, nämlich
       Andreas Lendakis, gefoltert. Theodorakis hört jeden Schlag und jeden Schrei
       und steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Da geben ihm seine Wächter
       Notenpapier – und tatsächlich beginnt er zu komponieren. „Um nicht verrückt
       zu werden“, schreibt er später in seinen Erinnerungen: „Diesen meinen
       umgebrachten Freunden habe ich fast mein ganzes Werk gewidmet. Tausende
       Freunde, Verlorene, Hin- und Hergeworfene, Gefolterte, Geschlagene. Jeder
       von ihnen hält ein Ende des Stacheldrahts in der Hand.“
       
       Seiner Prominenz wegen [2][verbannt man Theodorakis ins Bergdorf Zatouna].
       Er wird streng bewacht, hat aber ein Klavier und lässt sich wieder nicht
       davon abbringen, zu komponieren. Um seine Lieder herauszuschmuggeln, wird
       er erfinderisch. Georgios, sein neunjähriger Sohn, wird krank und darf nach
       Athen zu einem Arzt. Da näht seine Mutter die kleinen Magnetofonbänder in
       die Knöpfe von Giorgos’ Mantel ein. Die Bänder kommen zur Deutschen Welle
       in Köln, und die sendet die Lieder um die ganze Welt.
       
       Eine internationale Solidaritätsbewegung formiert sich zur Freilassung des
       griechischen Komponisten, darunter der sowjetische Komponist Dmitri
       Schostakowitsch und US-amerikanische Autoren und Sänger wie Arthur Miller
       und Harry Belafonte. 1970 kann Theodorakis endlich ins Exil gehen, nach
       Paris. Bis zum Ende der Diktatur 1974 wird er über tausend Konzerte in der
       ganzen Welt dirigieren, viele davon auch in der DDR und in der
       Bundesrepublik Deutschland.
       
       ## Ikone der linken Bewegung
       
       Mein Onkel hat ihn damals gesehen. Ich war noch zu klein, um ihn zu
       begleiten, aber Toni erinnert sich, wie das in Düsseldorf war. Lauter
       Griechen trafen sich dort in dem Theodorakis-Konzert, vor allem die linken,
       aber nicht nur. Und auch viele Deutsche, Philhellenen, die gern in
       griechischen Restaurants zu Abend aßen oder Nana Mouskouri hörten (die
       übrigens unter anderem mit Liedern von Theodorakis berühmt geworden ist).
       Daneben Griechenlandtouristen, Hippies, die „Alexis Sorbas“ und den
       berühmten Sirtaki im Kino gesehen hatten und vom freien, authentischen
       Leben in den Höhlen des kretischen Matala träumten. Für mich als Kind eines
       Griechen und einer Deutschen ist diese Geschichte meines Onkels ein ganz
       besonderer Moment der „geteilten Erinnerung“.
       
       Toni erinnert sich, Theodorakis’ Konzert hat bis in die Nacht gedauert.
       Aber aus Begeisterung über sein Publikum – und zur Begeisterung seines
       Publikums – sucht „unser Mikis“ danach noch ein griechisches Lokal auf, um
       mit der Gitarre in der Hand und unter dem Mitsingen seines Publikums bis
       morgens um fünf Uhr weiter Musik zu machen.
       
       Theodorakis wird in den 1970ern zu einer weltweiten Ikone der linken
       Bewegung, vor allem mit seiner berühmten Vertonung von Pablo Nerudas „Canto
       General“. Einem breiteren Publikum wird er mit seiner Filmmusik bekannt. Er
       komponiert 40 Filmmusiken, darunter für „Alexis Sorbas“ und den
       Politthriller „Z“. Theodorakis gehört mit dem Italiener Ennio Morricone zu
       den produktivsten Filmkomponisten jener Ära, der deutsche Filmkomponist
       Hans Zimmer nennt ihn einen seiner Lehrmeister.
       
       In Deutschland ist Theodorakis in den 1970er Jahren ein Megastar. Die
       griechisch-deutsche Sängerin Vicky Leandros fährt mit seinen Liedern über
       Jahrzehnte Riesenerfolge ein. Aber auch Herman van Veen oder Hannes Wader
       interpretieren seine Lieder.
       
       1963 covern sogar die Beatles einen seiner Songs, den „Honeymoon Song“ kann
       man sich heute auf Youtube anhören. Mit „Luna de Miel“ wurde Theodorakis
       schon 1960/61 in Lateinamerika zum Megastar. Als er Anfang der 1960er Jahre
       nach Kuba fliegt, lädt ihn der Guerillaführer Che Guevara auf einen
       mehrtägigen Trip in die Berge ein.
       
       ## Für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen
       
       Nach dem Ende der Diktatur 1974 kehrt Theodorakis nach Griechenland zurück.
       Im Athener Stadion entfesselt er einen Begeisterungstaumel. Ich kenne das
       nur von Videos aus dem Internet. Aber es war ungefähr zu der Zeit, als ich
       mit meinem Onkel in Gummersbach auf dem Teppichboden lag und Theodorakis’
       Platten hörte.
       
       Und er bleibt politisch aktiv: Mit dem türkischen Sänger Zülfü Livaneli
       arbeitet Theodorakis an einer Aussöhnung zwischen Griechen und Türken –
       wofür er im Jahr 2000 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird.
       Gleichzeitig verurteilt er aber auch die Nato-Angriffe auf Serbien, spricht
       mit dem später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten
       Präsidenten Slobodan Milošević und veranstaltet in dessen Hauptstadt
       Belgrad ein Solidaritätskonzert.
       
       Theodorakis hinterlässt 1.000 Lieder und Liedzyklen, auch musikalische
       Großformen wie Sinfonien und Opern über antike Stoffe. Die Verehrung, die
       ihm in seinen letzten Jahren international zuteilwurde, hat er genossen.
       Der Künstler Joseph Beuys nannte ihn einmal voller Bewunderung eine
       „soziale Skulptur“. Im Juli 1995 tanzt der große Mann – auch körperlich
       eine herausragende Gestalt – bei einer konzertanten Aufführung der
       „Zorbas“-Ballettsuite auf dem Münchner Königsplatz mit Anthony Quinn seinen
       letzten öffentlichen Sirtaki.
       
       2021 tritt Theodorakis ab, von der Weltmusik wie der Weltrevolution.
       [3][2025 wäre „unser Mikis“ 100 Jahre alt geworden]. Ich krame die alten
       Platten raus, lege mich auf den Boden meines Wohnzimmers und höre sie
       wieder. Und träume von jenem megautopischen Moment Mitte der 1970er Jahre,
       als es nach dem Abtreten der Obristen in Griechenland, von Franco in
       Spanien und Salazar in Portugal so aussah, als wären die faschistischen
       Diktaturen in Europa ein für alle Mal besiegt.
       
       29 Jul 2025
       
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