# taz.de -- Jahrhundertleben als Schwarze Deutsche: Marie Nejar aus St. Pauli wollte die sein, die sie war
       
       > Marie Nejar musste als Kind in NS-Kolonialpropagandafilmen mitwirken.
       > Erst die antikoloniale Bewegung hat sie wiederentdeckt. Jetzt ist sie
       > gestorben.
       
 (IMG) Bild: Marie Nejar ist gestorben. Sie war NS-Opfer, ließ sich aber nicht zum Opfer machen
       
       Hamburg taz | Marie Nejar hat früh verstanden, dass alle möglichen Leute,
       darunter ihre Mutter, Schlagerbosse und Goebbels, etwas in ihr sahen, was
       sie nicht war. Und sie hat gelernt: Zuschreibungen sind Gift. Sofern sie
       eine Wahl hatte, entzog sie sich. In der Nazizeit hatte sie keine.
       
       Die 1930 geborene Hamburgerin wuchs bei der Großmutter auf. Diese wollte,
       dass sie Musikerin wird. Wie Marie Nejars Mutter Céline. Aber die Enkelin
       will tanzen. „Untersteh dich, Dinge zu wollen“, habe die Großmutter gesagt.
       Sie forderte, dass das Mädchen gehorcht. Mit Tugendhaftigkeit wollte die
       Großmutter das Kind schützen, denn die Nazis waren an der Macht und Marie
       Nejar fiel auf. Sie war Schwarz.
       
       Sie wuchs im Stadtteil St. Pauli auf. Obwohl [1][umgeben von Nazis], traf
       sie auf Gesten des Widerstands: Die Polizisten auf der Davidwache hätten
       ihre Akte von oben immer wieder unter den Stapel gelegt, und der
       Nazi-Hauswart ließ sie in den Luftschutzkeller. Ihr Leben sei normal
       gewesen. Die jüdischen Leute, die hätten gelitten, sie nicht, [2][sagte sie
       vor Jahren der taz].
       
       In der Schule lernte sie, dass Hitler ein großer Mann sei. Die Großmutter
       verbot ihr, das auch nur zu denken. Die Welt der Erwachsenen war für sie
       schwer zu fassen. Die Welt der Kinder war unverbrauchter. Beschimpften die
       Erwachsenen sie, weil sie Schwarz war, widersprachen ihre Freundinnen, die
       keine Hautfarbe sahen. Gerade weil das Kind Schwarz ist, wird es für
       Nazi-Propagandafilme nützlich und von Goebbels persönlich vom Unterricht
       befreit. Im Film „Münchhausen“ fächelt sie Hans Albers mit einem Palmwedel
       Luft zu. In „Quax in Afrika“ ist sie eine afrikanische Prinzessin. Der
       weiße Held: Heinz Rühmann.
       
       ## Nichts ist normal
       
       Erst als Nejar in den BDM will, also den weiblichen Zweig der Hitlerjugend,
       und davongejagt wird, versteht sie, dass nichts normal ist. Sie muss
       Zwangsarbeit leisten, vor der konnte die Großmutter sie nicht schützen, und
       auch nicht vor der Ablehnung durch die leibliche Mutter Céline. Diese fand
       ihr Kind, dessen Vater ein Schiffssteward aus Ghana war, hässlich. Marie
       Nejar hörte, wie die Mutter das sagte. Aber diese Frau sei ihr ohnehin
       egal gewesen: Die Großmutter sei ihre wahre Mutter gewesen.
       
       Nach dem Krieg und dem Tod der Großmutter verdingte Nejar sich als
       Zigarettenverkäuferin am Timmendorfer Strand. Zufällig sang sie dabei
       einmal in ein Mikrofon, das die Musik nach außen trug und wurde entdeckt.
       Fortan tingelte sie durchs Land – mal mit Peter Alexander, mal mit Vico
       Torriani, Lale Andersen, Cornelia Froboess.
       
       ## Ein schrecklicher Teddy
       
       Sie wurde zum singenden Kinderstar aufgebaut, ihr wurde der Kunstname
       „Leila Negra“ gegeben. Naiv sei sie gewesen, habe sich die Bedingungen
       diktieren lassen. „Mamatschi“, „Die süßesten Früchte fressen nur die großen
       Tiere“, „Mein Teddybär, mein Teddybär“, solche halbseidenen Lieder sang
       sie. Man schickte sie mit Teddy auf die Bühne. „Wie lange noch?“, fragte
       sie sich eines Tages: Mit 27 Jahren verschwand sie aus dieser
       Öffentlichkeit, wurde Krankenschwester. Ihr Versuch, nach Martinique
       auszuwandern scheiterte ebenso wie ihre Beziehung mit einem Nigerianer.
       
       Erst die [3][antikoloniale Bewegung] hat sie wiederentdeckt: Nejar wurde
       auf Diskussionen eingeladen, bei denen sie von ihrem Jahrhundertleben als
       Schwarze Deutsche erzählte. Auch ihre Autobiografie entstand. Menschen wie
       Marie Nejar haben viel dafür getan, dass die Mehrheitsgesellschaft
       versteht, was Rassismus ist. Wie offen Ausgrenzung sein kann, oder wie
       subtil, wie dumm. Ohne Einspruch von Betroffenen wie ihr würden viele es
       meist nicht mal merken. Jetzt ist ihre Stimme verstummt; am 11. Mai ist
       Marie Nejar gestorben.
       
       21 May 2025
       
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       Als schwarzes Kind in Nazi-Deutschland musste Marie Nejar in
       NS-Propagandafilmen mitspielen. In der Nachkriegszeit tingelte sie als
       „Leila Negra“ durchs Land.