# taz.de -- Wiederaufbau in der Ukraine: Die Hoffnung hat viele Gesichter
       
       > Rund um Cherson hat sich der Krieg tief ins Land gefressen, die Front ist
       > immer noch nah. Aber die Menschen hier wollen ihr Zuhause wieder
       > aufbauen.
       
 (IMG) Bild: Die Hoffnung ist ein roter Traktor, der irgendwann wieder bei der Melonenernte helfen kann
       
       Bila Krynytsia und Bilohirka Wenn du jemanden findest, der so über dich
       spricht wie Serhiy über seinen Traktor, dann hast du im Leben vielleicht
       ein paar Dinge richtig gemacht.
       
       „Der Traktor ist meine Seele“, sagt Serhiy. Sanft nach vorn gebeugt steht
       er da, er lächelt so, dass er seine schmalen Lippen kaum anhebt in den
       Mundwinkeln, und doch erreicht dieses Lächeln sein ganzes, vom kalten Wind
       gerötetes Gesicht. Serhiy steht vor seinem Traktor und der wiederum stützt
       sich auf einen abgesägten Baumstumpf, sonst würde er umfallen, er hat
       gerade nur zwei Räder. Die anderen beiden stehen ein paar Meter weit weg,
       mitsamt dem Vorderteil der Maschine. Serhiy hat seinen Traktor geteilt, um
       ihn endlich zu reparieren. Im Frühling 2022 haben Mörsergranaten den Motor
       zerfetzt.
       
       Du kannst dir die zerschossenen alten Teile anschauen, sie liegen noch
       dort, wo die Granaten eingeschlagen sind vor Serhiys Haus. „Es tut weh,
       wenn ich sehe, wie jeder aufs Feld fährt, nur ich nicht“, sagt Serhiy,
       bückt sich und klopft mit einem riesigen Inbusschlüssel neben der
       Getriebewelle herum, die vorn aus dem Traktor herausragt. Da soll der neue
       Motor hin.
       
       Zwei Jahre hat Serhiy gespart und seit gestern liegt vor seinem Haus, fast
       an der gleichen Stelle, wo damals die Granaten eingeschlagen sind, ein
       großes Paket. Die Pappe hat Serhiy schon aufgerissen, aus dem Loch schaut
       braunes Metall. Heute ist Sonntag, heute bereitet Serhiy alles vor. Morgen
       baut er den neuen Motor ein. Noch einmal dengelt Serhiy mit seinem
       Inbusschlüssel neben die Getriebewelle. Öl und Fett regnen in schwarzen
       Brocken auf den Rasen. Serhiy murmelt etwas in Traktorsprache von
       Dichtungen und einem Ausrücklager und dann schaut er mit seinem leisen
       Lächeln auf und sagt auf Ukrainisch: „Ich muss da raus, das Land singt.“
       
       Das Land ist die Steppe nordöstlich der Stadt Cherson, flach und weit unter
       einem ebenso weiten Himmel. Übersetzt du die Ortsnamen vom Ukrainischen ins
       Deutsche, könntest du meinen, du wärst in Tolkiens Auenland geraten.
       Serhiys Dorf heißt Bilohirka, Weißhügel, ein paar Kilometer weiter, auf der
       anderen Seite des sich wie eine Schlange windenden Flusses Inhulez liegt
       Bila Krynytsia, Weißbrunnen. Es gibt auch ein Sukhyi Stavok, Trockener
       Teich. Aber da leben keine Menschen mehr, nur noch Hühner suchen Futter
       zwischen den Ruinen.
       
       Bis Bilohirka kamen Russlands Soldaten Anfang 2022 bei ihrem Versuch, die
       gesamte Ukraine zu erobern. Über den Inhulez schafften sie es nicht, der
       war die Grenze, was nicht heißt, dass sie über dieses schmale Wasser nicht
       schießen konnten mit ihren Mörsern, ihrer Artillerie, ihren
       Mehrfachraketenwerfern. Ukrainische Soldat:innen schossen zurück.
       
       In den Gärten von Bilohirka und Bila Krynytsia liegen mehr Patronenhülsen,
       Granatreste und Raketentrümmer als dort Blumen wachsen. Gut, es ist März,
       der Frühling kommt erst noch. Die Ukrainer:innen vertrieben die Besatzer
       schließlich im Herbst 2022 nach Osten auf die andere Seite eines viel
       breiteren Flusses, als es der Inhulez je sein wird, auf die andere Seite
       des Dnipro.
       
       Fünfzig Kilometer weit ist die Front heute von Serhiy und seinem Traktor
       weg. Der Krieg hat sich hier so tief in die Landschaft gefressen, dass es
       schwerfällt, sich die Dörfer, Felder und Straßen ohne ihn vorzustellen.
       Einschusslöcher ziehen sich in sprunghaften Mustern über Hauswände und
       Tore, Schützengräben zerschneiden die Höfe, der blaue Himmel blendet durch
       hölzerne Dachstuhlgerippe, aus der schwarzen Erde der Weizenäcker ragen die
       leeren Rohre abgeschossener Raketen. Im struppigen Gebüsch am Rand der Wege
       flattern zerrissene Einkaufstüten aus Plaste, sie sind ein Signal: Hier
       wurden Minen geräumt. Was bedeutet, dass an den vielen Stellen, wo keine
       Plastetüten flattern, noch Minen liegen.
       
       Wer will hier leben?
       
       Wer baut die Häuser wieder auf, pflanzt neu, schüttet die Gräben zu?
       
       Serhiy Brazhenko lebt hier, 59 Jahre alt, bald wird er 60. Er ist ein
       Melonenbauer, die Gegend hier ist berühmt für ihre Melonen. Serhiy ist ein
       Poet, wenn es um Landmaschinen und Schwarzerde geht, und über die Zwiebeln
       schwärmt er wie ein Minnesänger. Seine Sätze werden kürzer, wenn er über
       Menschen redet. Die Straße hinein nach Bilohirka, die mit Serhiys Haus
       beginnt, führt an einsamen Wänden, Steinhaufen und Erdlöchern vorbei, von
       den einst fünfzehn Familien in dieser Straße wohnen hier noch vier, sagt
       Serhiy.
       
       Und dann so ganz nebenher, du hast es kaum gemerkt, hat er dir da eben
       wirklich gesagt, dass er in den Trümmern nebenan aufgewachsen ist, dass es
       sein Elternhaus war und dass sein Bruder dort während der Besatzung
       gestorben ist? Ja, das hat er. Serhiys Mutter immerhin, die lebt noch, sie
       ist mit ihren 87 Jahren noch einmal umgezogen, nach Davydiv Brid. Brid
       heißt Furt auf Ukrainisch, der Inhulez ist an der Stelle so flach, dass ihn
       die Salzhändler früherer Tage dort durchquerten.
       
       Auf Serhiys Grundstück stehen Schilder. Sie warnen weiß auf rot:
       „Nebezpechno! Miny!“, „Gefährlich! Minen!“. Zur Sicherheit prangt zwischen
       diesen Worten noch ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Und trotzdem tritt
       ein Mann zu dem Gespräch mit Serhiy dazu und dann tritt dieser Mann mit
       seinen Stiefeln gegen das dunkle, runde Ding, das neben einem der
       Totenkopfschilder halb aus dem Rasen guckt. Er will nur mal zeigen, dass
       diese Sorte Minen nicht so einfach explodiert, da müsste noch mehr Druck
       ausgeübt werden, sagt er, und mit viel Druck gibt er dir auch die Hand. Ein
       silbergrauer Hund bellt ihn an, so wie hier die ganze Zeit Hunde jemanden
       anbellen. Alle sehen sie wie Würste im Fellmantel aus. Es geht ihnen gut.
       
       Ungefähr 120 Menschen lebten vor der Invasion in Bilohirka, heute sind es
       noch etwa 20. Gerade in den kleinen Dörfern sind nur sehr wenige geblieben
       oder zurückkommen, sagen die beiden Starosta dieser Gegend. Starosta heißt
       „Ältester“, es ist ein Amt, in das man für fünf Jahre gewählt wird, in
       Friedenszeiten. Der eine ist für Dörfer rechts des Inhulez zuständig, der
       andere für die links des Flusses. Beide sind kräftige Männer und auf ihren
       beiden Gesichtern liegt eine Spannung, als warteten sie darauf, endlich
       ausatmen zu dürfen. Ständig sind sie im Auto unterwegs, ständig am Telefon.
       
       Sie schauen sich kaputte und halb kaputte Häuser an und berechnen die
       Schäden, sie schlichten bei Streitigkeiten, wenn Hilfslieferungen verteilt
       werden, sie kämpfen um Unterlagen, damit eine Frau endlich auf dem Friedhof
       beerdigt werden kann. Ihr Körper liegt seit der Besatzung neben ihrem Haus
       vergraben.
       
       Die meisten, die in diesem Frühjahr hier leben, sind entweder nie gegangen.
       Weil sie zu alt waren, zu krank, weil sie nicht wussten wohin. Oder es sind
       Menschen wie Serhiy, die etwas zu bestellen haben, das Land nämlich. Es
       sind Menschen, die sich an diesem Land festgehalten haben, auch während der
       Besatzung, der Kämpfe, der Explosionen. Einen Monat harrten Serhiy und
       seine Frau aus, bevor sie Mitte April 2022 flohen. Kaum hatte die
       ukrainische Armee ihr Dorf im Herbst zurückerobert, kamen sie wieder. Nur
       die Stursten sind noch hier, sagen die Starosta. Alle haben eine Geschichte
       des Überlebens.
       
       Siehst du das Loch dahinten? Das war unser Wohnzimmer. Raketeneinschlag.
       Zum Glück habe ich den Tieren gerade Wasser gegeben. Sonst wäre ich tot.
       Das erzählen dir die Großmütter von Bilohirka. Auch Serhiys Haus hat es
       erwischt. Bis er es schafft, das wieder aufzubauen, wohnen er und seine
       Frau im Stall. Ein großer Raum, rechts das Doppelbett, in der Mitte ein
       Kanonenofen, links die Küche und neben dem Regal mit den Tellern und Tassen
       das Klo. Hinter einem Vorhang.
       
       Neben dem Stall, der jetzt ein Wohnhaus ist, ragt eine von Soldaten
       gezimmerte Holzverschanzung aus der Erde wie der faulige Zahn eines
       riesigen Tieres. Serhiy hat es noch nicht geschafft, das abzureißen und
       wegzuschaffen, ebenso wie er die Schützengräben quer durch seinen Hühnerhof
       noch nicht ganz zugeschüttet hat.
       
       Andere sind in ihre Garagen gezogen. In ihre Küchen. In dieser Gegend haben
       die Menschen oft zwei Häuser, ein größeres fürs Wohnen und Schlafen, ein
       kleineres fürs Kochen und Essen. Wenn sie Glück haben, steht eins davon
       noch.
       
       Was gibt Hoffnung? Sicher nicht die Versprechen auf baldigen Frieden aus
       Washington, nicht das grausame Gestammel aus dem Weißen Haus.
       
       Seit dem Herbst schickt Russland fast täglich Schwärme von Drohnen in die
       Ukraine. In diesen Tagen im März sterben ein 14-jähriges Mädchen und seine
       Eltern in Saporischschja. Ein 5-jähriges Mädchen und zwei andere Menschen
       in Kyjiw. Diese Sprache verstehen die Leute hier. Auch wenn die Drohnen die
       weite Steppe meist nur überfliegen in Richtung der großen Städte. Nachts
       kann man ihr Brummen hoch am Himmel hören und das Maschinengewehrfeuer der
       mobilen Einsatzgruppen der ukrainischen Armee, die versuchen, den Tod vom
       Himmel zu schießen. Auch wenn die Drohnen die Steppe nur überfliegen,
       wissen die Menschen hier, dass man in Russland noch an sie denkt.
       
       In Velyka Oleksandrivka schlug am 1. Juni 2023 eine Rakete ins Kulturhaus
       ein. 1. Juni, Internationaler Kindertag in der Sowjetunion, der DDR und
       anderen sozialistischen Ländern und heute noch in Russland und der Ukraine.
       Die Rakete kam um 10 Uhr morgens, zur einer Zeit, da hätten sie vor vier
       Jahren mit den Kindern vielleicht im Kulturhaus gefeiert. Aber weil man
       nicht nur in Russland noch an die Menschen hier denkt, sondern die Menschen
       hier auch noch an Russland, waren am 1. Juni 2023 keine Kinder dort.
       
       Velyka Oleksandrivka ist so etwas wie die Hauptstadt der kleinen
       Steppendörfer, hier sitzt die Verwaltung, hier gibt es eine Klinik. Du
       fährst an den Trümmern des Kulturhauses vorbei, du denkst daran, dass die
       Deutschen diesen Ort „Alexanderstadt“ genannt haben, als es vor 84 Jahren
       noch sie waren, die das Land hier besetzten und die Menschen töteten.
       
       Was also gibt Hoffnung? Was ist überhaupt Hoffnung?
       
       Die Hoffnung sind 760 Steine. 760 Steine passen auf den Truck, der am
       Donnerstag, den 20. März 2025, in Bila Krynytsia vor dem Hoftor des
       Starosta, westlich des Flusses hält. Er wird mit diesen Steinen sein Haus
       wieder aufbauen, seine Eltern und eine Verwandte, die mit ihrem Enkel
       hierher geflohen ist, leben noch in der Garage. Ob der Kindergarten des
       Ortes, in dem seine Partnerin Ljudmyla gearbeitet hat, je wieder aufgebaut
       wird, weiß er nicht. Sie lebt inzwischen davon, aus Hühnern Würste zu
       machen.
       
       Die Hoffnung sind 44 Bretter vor Serhiys Grundstück in Bilohirka, ein jedes
       6 Meter lang. Die Hoffnung sind 6 Fenster, die der Starosta aus Bila
       Krynytsia zusammen mit anderen Männern neben die Bretter stellt, obwohl
       dieser Starosta auf dieser Seite des Inhulez nicht zuständig ist.
       
       Die Hoffnung heißt Masha. Maria Khomyakova, 33 Jahre alt, weiches Gesicht
       und weiche Stimme. Aber es liegt auch etwas Raues in dieser Stimme, das
       sekundenschnell erblüht, wenn Masha lacht. Wenn sie schreien muss zwischen
       Männern und Motoren. Masha ist Szenenbildnerin in Kyjiw und sie ist
       diejenige, die die Steine und die Bretter bezahlt hat, die in Bila
       Krynytsia und Bilohirka vor den Häusern liegen. Sie hat sich zusammengetan
       mit anderen Frauen. Sie haben eine Organisation gegründet, „Women’s Forum“,
       sie haben Gelder im Ausland gesammelt, und dann haben die Frauen Trucks
       gemietet, Fahrer bezahlt, Steine und Holz.
       
       Das mit den Fahrern war gar nicht so einfach, drei sind Masha wieder
       abgesprungen, kurz vor der Fahrt. Sie haben erfahren, dass sie sich zur
       Musterung melden sollen, sie hatten Angst, sie müssten zur Armee, in den
       Krieg. So nahe der Front stehen viele Checkpoints mit Soldat:innen und
       Polizist:innen. Vielleicht hätten sie die drei Männer gleich mitgenommen.
       Masha hat so lange telefoniert, bis sie neue Fahrer hatte.
       
       Wegen des Krieges findet Masha auch keine Bauarbeiter für Bilohirka und
       Bila Krynytsia mehr. Sie werden eingezogen oder verstecken sich, versuchen
       wenig zu reisen, fliehen. Viele Frauen trauen sich das Häuserbauen noch
       nicht zu, sie haben es nie gelernt. Also lässt Masha Steine, Holz und
       Isolierwolle nur vor den Häusern abladen, in denen es noch Männer gibt.
       
       Masha stempelt Lieferscheine, Masha beißt sich auf die Zunge, wenn ein
       Angetrunkener sagt, freiwillige Helferinnen wie sie würden nichts tun,
       während von Masha bezahlte Arbeiter um ihn herum Mashas Steine stapeln.
       Masha zuckt nicht einmal, wenn es laut knallt. Minen, die jemand gefunden
       hat, Minen, die jemand gesammelt und in ein Loch geworfen hat und auf die
       jemand einen brennenden Autoreifen schleudert, damit sie explodieren.
       
       Sie schickt dir nach diesen Tagen im März Bilder per Telegram, Bilder von
       Hämmern mit Köpfen aus Hartgummi. Kyianka heißt der Hammer der
       Zimmermannsleute auf Ukrainisch und Kyianka nennt sich auch Masha, weil sie
       in Kyjiw geboren ist und nicht nur zugezogen. Sie ist stolz darauf, und zu
       den Bildern mit den Hämmern schreibt sie: „Manchmal muss ich selbst so ein
       Hammer sein.“
       
       Staatliche Hoffnung, die gibt es auch, Programme für den Wiederaufbau,
       viele mit einem „e“ im Namen, weil in der Ukraine vieles nur noch im
       Internet passiert. Ukrainer:innen, deren Häuser beschädigt wurden, können
       Geld für Baumaterialien bekommen. Für zerstörte Häuser gibt es digitale
       Zertifikate, mit denen man sich ein anderes Haus kaufen kann. Aber viele
       Menschen hier haben nicht die notwendigen Dokumente für diese Programme.
       Von 38 Häusern in Bilohirka existiert nur für eins die Besitzurkunde,
       erzählt der Starosta östlich des Flusses. Die Menschen haben über
       Generationen ohne Papiere gelebt und ihren Besitz per Handschlag verkauft.
       Was es überhaupt an Unterlagen gab, ist dann größtenteils im Krieg
       verbrannt.
       
       Die Hoffnung sind Gurken und Tomaten. Wenn man die Straße an Serhiys Haus
       in Bilohirka vorbei bis ganz ans Ende fährt, kommt man zu den
       Gewächshäusern von Darya Pashnyuk und Kateryna Lypunova. Tropisch warm ist
       es hier drin, 25 Grad, es können 45 werden, würde man die Türen schließen.
       Dasha, 23 Jahre alt, kniet zwischen zentimeterhohen Gurkenpflanzen, greift
       nach grünen Schnüren, die von der Decke über ihr hängen, knotet und windet
       sie um kleine Stengel. Hochbinden heißt das, die Gurken sollen entlang der
       Schnüre nach oben ranken.
       
       Katya, 25 Jahre alt, topft Tomatenpflanzen in größere Gefäße um. „Natürlich
       haben wir Angst“, sagt Dasha. Angst davor, wie viel ukrainisches Land Trump
       an Putin verdealt, Angst davor, dass ihr Dorf noch einmal besetzt wird,
       Angst davor, dass sie sich wieder vor Soldaten aus Russland verstecken
       müssen wie während der ersten Besatzung 2022.
       
       Die beiden führen dich aus der Wärme des Gewächshauses hinaus in die
       strahlende Märzsonne und den arktisch kalten Wind und durch eine Tür und
       nach rechts in ein Zimmer mit zwei Betten. An der Wand steht ein
       Wäscheständer und dahinter hängt ein Teppich, groß, braun und schwer, mit
       einem dieser Muster, sollen es Blumen sein, ein Wappen, ein Geschwür?
       Jedenfalls hebt Dasha den Teppich an, sie fasst die untere linke Ecke und
       hebt ihn hoch und dahinter siehst du den Sims eines Fensters und
       übereinander gemauerte Steine dort, wo Glas sein müsste. Hierhin haben sich
       die beiden Frauen verkrochen, wenn Soldaten aus Russland auf ihren Hof
       kamen.
       
       Katya sagt: „Wir leben Tag für Tag. Monat für Monat.“ Dasha sagt: „Wir
       versenken uns darin, etwas wachsen zu sehen, in die Arbeit mit unseren
       Händen.“ Bilohirka war mal bekannt für seinen Gemüseanbau. Vielleicht wird
       es das wieder.
       
       Wärme ist Hoffnung. Es wird wärmer werden und Yulias Bienen werden fliegen.
       Okay, eigentlich fliegen Yulias Bienen schon, seit Mitte Februar. Aber sie
       trainieren nur ihre Flügel, werfen die Scheiße ab, die sie während des
       Winters gesammelt haben. Yulia Petrienko, 36 Jahre alt, muss sie mit Honig
       füttern, damit ihre Bienenvölker nach dem Winter wieder wachsen können. 60
       davon leben in Holzkästen hinter ihrem Haus, Holzkästen in Blau, Zartrosa
       und Grün. Fotos auf ihrem Mobiltelefon zeigen Erde und Asche an dieser
       Stelle.
       
       Bila Krynytsia liegt zwar westlich des Inhulez, Russland hat Yulias Dorf
       nie besetzt, „aber sie haben unser Dorf mit Feuer unter Kontrolle
       gehalten“, wie Yulia sagt. Ihre Bienen sind verbrannt, ihre 200 Papageien
       getötet und vertrieben. Mit den Bienen hat sie neu angefangen, die
       Vogelzucht aufgegeben. Zu teuer. Yulia sagt, was Serhiy sagt, was Dasha und
       Katya sagen, sie sagt, sie konzentriert sich auf die tägliche Arbeit. Auf
       ihre Hände.
       
       100 Bienenvölker hätte Yulia gern, das ist ihr Ziel. Und ein gesundes Kind.
       Sie und der Mann, mit dem sie hier lebt, werden wohl die 120 Kilometer in
       die große Hafenstadt Mykolajiw fahren, um es zur Welt zu bringen. Die
       Geburtstation, die näher dran war, musste schließen. Es leben zu wenig
       Menschen hier.
       
       Ein letzter Besuch. Du fährst zu Dmytro Petrienko, dem Bruder von Yulia,
       der Imkerin, und Ljudmyla, der Frau, die einmal Kindergärtnerin war. Dmytro
       liegt auf einem Hügel über Bila Krynytsia. Ein Mann mit feinen Zügen und
       großen dunklen Augen. Auf dem Foto unter dem Kreuz trägt er Uniform und
       presst die Lippen zusammen.
       
       23. 05. 1992 – 09. 04. 2023.
       
       Über seinem Grab weht eine blau-gelbe Fahne. Ein paar Meter weiter weht
       eine zweite, dort liegt der Sohn neben dem Vater. Der Stein des Vaters ist
       zerschmettert, das Bild des Sohnes liegt auf der Erde. Granaten machen vor
       den Toten nicht halt.
       
       Du fährst am golden glänzenden Unbekannten Soldaten vorbei, an einer
       Wegkreuzung in der Steppe. Der Unbekannte Soldat ist die sowjetische Art,
       an die vielen Toten zu erinnern und sie zugleich in der Namenlosigkeit
       verschwinden zu lassen, die vielen Toten, die es kostete, die Deutschen
       wieder zu vertreiben. Neben dem vergoldeten Denkmal, du musst nur einmal
       über einen Sandweg laufen, erhebt sich ein Kurgan, einer der vielen
       Grabhügel, in denen das antike Volk der Skythen seine Fürst:innen und
       Krieger:innen begrub. So ziemlich alle Hügel in der Steppe sind Gräber.
       
       Der ganz alte Tod hat an Schrecken verloren, was einstmals Ehrfurcht gebot,
       ist heute nur noch ein Haufen Stein und Erde; Bauern pflanzen Getreide
       darauf an, fahren mit ihren Traktoren bis ganz hinauf.
       
       Auf den Feldern siehst du Menschen mit Helmen, sie schauen nach unten und
       schwenken beim Laufen lange Metallstangen. Sie suchen Minen.
       
       Du hast hier gelernt, dass nicht nur die Bäuer:innen von Bilohirka und
       Bila Krynytsia die Jahreszeiten gut kennen. Die Menschen, die hier Minen
       ausgesät haben, kennen die Jahreszeiten auch. „Lepestok“, Blütenblätter,
       heißen die kleinen Anti-Personen-Minen, die oft so schwer zu sehen sind. Es
       gibt sie in Hellgrün für den Frühling, Sattgrün für den Sommer und Braun
       für den Herbst.
       
       Serhiy Brazhenko hat seinen Traktor tatsächlich repariert. Er ist mit der
       Egge auf sein Feld gefahren. Und dann mit einer Scheibenegge noch mal
       hinterher. Dann ging der Motor aus.
       
       Als er davon am Telefon erzählt, denkst du an das, was andere im Dorf über
       Serhiy erzählen. Serhiy soll gesagt haben, dass er nicht mehr leben will,
       wenn er nicht endlich wieder auf seine Äcker fahren könne. Du denkst an
       das, was er selbst erzählt hat, über seine Großmutter, die den Holodomor
       überlebt hat, eine der großen von Stalin und seinen Getreuen verursachten
       Hungersnöte in der Sowjetunion. Eine Zeit, in der es keine Melonen gab und
       keine Zwiebeln und die Menschen alles gegessen haben, was sie kriegen
       konnten, auch andere Menschen. „Meine Großmutter hat zwei Dinge gehasst“,
       hat Serhiy dir neben seinem Traktor gesagt: „Krieg. Und Hunger.“
       
       Aber Serhiy klingt fröhlich am Telefon. Die Leute, die ihm den Motor
       verkauft haben, seien eben keine guten Leute, sagt er, die hätten sich
       schon bei der Bezahlung seltsam angestellt. Er werde den Motor reparieren,
       sagt er noch, und dass Minensucher:innen ein weiteres seiner Felder
       geräumt haben. Er will bei Masha und ihren Frauen nachfragen, ob sie Samen
       für ihn kaufen können. Er will Melonen säen.
       
       14 Apr 2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Schulz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Alltag
 (DIR) Wiederaufbau
 (DIR) Ukraine
 (DIR) Hoffnung
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) GNS
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Krieg in der Ukraine: Lieber Aufstand als Deal
       
       Der US-Präsident redet davon, der Ukraine den Tausch von besetzten gegen
       unbesetzte Gebiete anzubieten. Betroffene Menschen drohen mit Protesten.
       
 (DIR) Angriff auf die Energieinfrastruktur: Der Krieg und die Atomkraft
       
       Im Streit um das Kraftwerk Saporischschja im Osten der Ukraine schafft
       Russland Fakten. Eine ukrainische Atomexpertin erhebt schwere Vorwürfe.
       
 (DIR) +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Friedensgespräche auf der Kippe
       
       Während die USA darüber nachdenken, ob eine Waffenruhe in der Ukraine in
       absehbarer Zeit möglich ist, bombardiert Russland weiter ukrainische
       Städte.
       
 (DIR) Krieg in der Ukraine: Weitere EU-Sanktionen gegen Moskau in Arbeit
       
       Nach russischen Angriffen auf die nordukrainische Stadt Sumy am Sonntag
       wollen EU-Außenminister den Druck auf Moskau erhöhen. Die Zahl der Toten
       steigt auf 35.
       
 (DIR) Energiewende in der Ukraine: Erneuerbare Energie als Kriegsfaktor
       
       Russland greift die Energieinfrastruktur in der Ukraine an. Nun wird
       umgebaut: Die Versorgung wird erneuerbarer, dezentraler und damit weniger
       angreifbar.
       
 (DIR) Alltag in der Ukraine: Krieg ist eine Wette
       
       Neun Stunden dauerte der letzte Luftalarm in Kyjiw. Unser Autor berichtet
       von Medikamenten gegen die Angst und einem Luftschutzbunker, der keiner
       ist.
       
 (DIR) Hochwasser in Ukraine: Hier geblieben
       
       Die ukrainische Stadt Cherson steht halb unter Wasser. Vor allem Arme und
       Ältere wollen ihre Häuser nicht verlassen. Wer es wagt, muss mit Beschuss
       rechnen.