# taz.de -- Weiblicher Schmerz, männliche Medizin: Aufstand der Patientinnen
       
       > Eine Reihe von Büchern thematisiert Sexismus in der Medizin. Frauen
       > verschwinden hinter der männlichen Norm, ihrem Schmerz wird selten
       > geglaubt.
       
 (IMG) Bild: Weibliche Schmerzen sind unterforscht. Körperdarstellungen, Dresden ca. 1930
       
       Eva Biringer kannte ihre Großmutter nur leidend. Auf dem Sofa lagernd, ein
       Kirschkernkissen auf den schmerzenden Bauch gepresst, dämmerte sie vor sich
       hin, das Haus verließ sie nur ungern. Nach Meinung der Ärzte war die Frau
       körperlich gesund, aber nervlich labil. Am Ende ihres Lebens war sie
       schmerzmittelabhängig, aber nicht schmerzfrei.
       
       Die Enkelin schreibt in ihrem Buch „Unversehrt. Frauen und Schmerz“: „Der
       Bauch meiner Großmutter sprach seine eigene Sprache. Warum hörte niemand
       zu?“ Die Autorin fragt sich, inwieweit ihr der Schmerz ihrer Großmutter
       selbst in den Knochen steckt.
       
       Was sich ein wenig nach weiblicher Esoterik anhört, gibt es tatsächlich:
       Das Phänomen der Epigenetik bezeichnet die Vererbung von Traumata – in
       Biringers Fall die Erfahrung, chronische Schmerzen erdulden zu müssen, als
       Bestandteil eines weiblichen Alltags, der von permanenter Erschöpfung und
       misogynen Herabsetzungen sowie geringem Selbstwertgefühl geprägt war und
       ist.
       
       Biringer stellt den Fall ihrer Großmutter in einen politischen Kontext. Auf
       gut 200 Seiten taucht sie ein in die Facetten weiblichen Schmerzes, von
       seiner Negierung durch eine männlich geprägte Medizin bis zur
       künstlerischen und erotischen Faszination an versehrten Frauenkörpern.
       
       ## Der gender pain gap
       
       Dass ihre realen Schmerzen als „Frauenleiden“ in den psychosomatischen
       Bereich abgeschoben und mit Tabletten ruhiggestellt wurden – diese
       Erfahrung teilt Eva Biringers Vorfahrin mit Frauen (ob cis oder trans oder
       nicht klar „normalmännlich“) überall auf der Welt. „Ein Mann bekommt
       Schmerzmittel. Eine Frau etwas für die Nerven“, bringt es Biringer auf den
       Punkt und referiert damit auf den gender pain gap, also das Phänomen, dass
       Schmerzen von Frauen und Männern unterschiedlich wahrgenommen werden.
       
       Frauen wird einerseits unterstellt, schmerztoleranter zu sein als Männer,
       da ihr Körper von Natur aus beträchtlichen Schmerzen ausgesetzt ist.
       Andererseits wird der Schmerz von Frauen weniger ernst genommen.
       
       Die Missachtung weiblichen Schmerzes scheint allgegenwärtig zu sein –
       zumindest gibt es großen Redebedarf. Die Regalbretter in den Buchhandlungen
       biegen sich unter Neuerscheinungen, die sich mit der Ignoranz weiblichen
       Leidens in Arztpraxen und Krankenhäusern befassen.
       Selbsterfahrungsberichte, essayistische Sachbücher, Ratgeber – von einem
       regelrechten Aufstand der Patientinnen könnte man sprechen.
       
       Diese Bücher sind Zeugnisse von weiblicher Wut und Ohnmacht: darüber, dass
       im Jahr 2025 Frauen noch immer Patientinnen zweiter Klasse sind, dass sie
       in der Forschung unterrepräsentiert sind, dass sie etwa an einem
       Herzinfarkt häufiger sterben, weil ihre sich von Männern unterscheidenden
       Symptome nicht rechtzeitig erkannt werden. Und darüber, dass Krankheiten,
       die mehrheitlich Frauen betreffen, von der Forschung als „Weiberkram“
       ignoriert werden.
       
       ## Der Arzt weist sie an, still zu sein
       
       „Der Club der hysterischen Frauen“ heißt bezeichnenderweise die
       schwarzhumorige (leider schlecht übersetzte) Leidensgeschichte der
       Amerikanerin Sarah Ramey, die, aufgewachsen in den 1980ern als Tochter
       eines Ärztepaars, an einer mysteriösen Krankheit im Urogenitalbereich
       erkrankt. Ihre Symptome (Reizdarm, Gelenkschmerzen, Ausschlag, schmerzhafte
       Schwellungen) stellen Fachärzt*innen vor ein Rätsel, hinter
       vorgehaltener Hand nennt man sie hypochondrisch. Ein Arzt entnimmt ihr ohne
       adäquate Betäubung Gewebe aus der Vagina. Als sie vor Schmerzen schreit,
       weist er sie an, still zu sein, und weigert sich, ihr Schmerzmittel zu
       geben.
       
       Notgedrungen wird sie zur medizinischen Rechercheurin, befasst sich mit
       Autoimmunerkrankungen, die zu vier Fünfteln weibliche Patientinnen
       betreffen – und kaum erforscht sind. Ebenso wie andere typisch weibliche
       chronische Erkrankungen wie Migräne, Endometriose oder das Schmerzsyndrom
       Fibromyalgie, für die im Verhältnis zur Anzahl von Betroffenen
       vergleichsweise wenig Forschungsgelder bereitgestellt werden – von
       fachlicher Fortbildung für Mediziner*innen ganz zu schweigen.
       
       Dass Frauen von medizinischen Studien ausgeschlossen sind (da Probandinnen
       schwanger werden könnten) und in medizinischen Lehrbüchern kaum
       berücksichtigt würden, kritisierte schon die Frauengesundheitsbewegung der
       1970erJahre. Viel ist seither nicht passiert, schaut man sich gängige
       Biologiebücher für den Schulunterricht an. Der menschliche Körper
       schlechthin ist stets ein Mann, weibliche Körper werden nur dargestellt, wo
       es um Zyklus, Schwangerschaft und Geburt geht: die Frau als menschlicher
       Sonderfall.
       
       ## Rassismus und Gesundheit
       
       Ramey kommt als Kind der dritten Feminismuswelle zu dem Schluss, dass das
       Gleichheitsversprechen des Feminismus, mit dem sie aufgewachsen ist, diesem
       Blick auf Frauen als „etwas kleinere Männer“ Vorschub leistet, indem er
       Frauen selbst dazu bringen kann, die spezifisch weiblichen Eigenheiten und
       Bedürfnisse ihrer Körper und Seelen zu verleugnen, zugunsten einer positiv
       konnotierten toughness – die das Aufschließen zur männlichen Norm meint.
       Das aber verlange, sich möglichst von als „weiblich“ angesehenen Gefühlen
       und Verhaltensweisen abzuwenden.
       
       Den Fehler sieht Ramey, deren Großmutter schon als Endokrinologin den
       Beweis führte, dass weder ihre Physiognomie noch ihre Hormone Frauen in
       irgendeiner Form schwach oder minderwertig machten, freilich nicht im
       Gleichheitsideal des Feminismus selbst oder in der Gendertheorie, die
       Geschlecht als etwas sozial Konstruiertes und Fluides betrachtet. Sondern
       in der Tatsache, dass „weiblich“ gelesene Prinzipien wie Intuition,
       zyklisches und ganzheitliches Denken, Verletzlichkeit oder
       (Selbst-)Fürsorge gesellschaftlich als minderwertig gelten – auch unter
       Feministinnen.
       
       Die Folge seien ein Lebensstil und eine Medizin, die hochtechnisiert,
       effizienz- und erfolgsorientiert ist. Was besonders Frauen in einem
       Gesundheitssystem untergehen lässt, dessen Maßstab nach wie vor der
       männliche Patient ist. Der weiße männliche Patient, genauer gesagt.
       
       Die britische Schwarze Wissenschaftsjournalistin Layal Liverpool lenkt in
       „Racism Kills“ den Augenmerk auf den allgegenwärtigen Rassismus im
       Gesundheitssystem. So bewertete noch bis 2021 ein Algorithmus in
       US-Kliniken die Sicherheit einer vaginalen Geburt nach Kaiserschnitt für
       Schwarze und hispanische Gebärende anders als für weiße, rassistische
       Annahmen über eine Andersartigkeit Schwarzer und indigener Becken lagen dem
       zugrunde.
       
       Liverpool zitiert Studien, wonach Schwarze Frauen seltener Schmerzmittel
       verschrieben bekämen, da man ihnen, in Kontinuität kolonialer Rassismen,
       unterstelle, „dickere“, schmerzunempfindlichere Haut zu haben – oder
       tablettenababhängig zu sein und mit Rezepten zu handeln. Die speziell
       rassistische Variante der Misogynie gegenüber Schwarzen Frauen führe dazu,
       dass Schwarze Frauen in Großbritannien fünfmal häufiger an Komplikationen
       bei Schwangerschaft und Geburt stürben als weiße. In den USA liegt die
       Mütter- und Säuglingssterblichkeit in der Schwarzen Bevölkerung höher als
       in sämtlichen anderen Industrieländern der Welt.
       
       ## Der verzerrte Blick
       
       Die amerikanische Kulturhistorikerin [1][Elinor Cleghorn] spricht in ihrem
       auf Deutsch bereits 2022 erschienenen Buch „Die kranke Frau“ von einer
       perfiden Verschränkung von strukturellem Rassismus und genderspezifischen
       Vorurteilen. Die Diskriminierung kranker Frauen insgesamt, schreibt sie,
       sei „einem Schatten geschuldet, der seit Jahrhunderten über der Medizin
       liegt […] und den Blick auf die Frauen sowie die Beurteilung ihrer
       Krankheiten stark verzerrt“.
       
       In ihrem historisch grundierten Buch zeigt Cleghorn auf, wie tief misogyne
       Vorurteile und Mythen über den weiblichen Körper in der modernen Medizin
       verwurzelt sind. Dabei entsteht ein Bild, das alle Annahmen über eine
       vermeintlich humanistische Objektivität der Medizin hinwegfegt: Das
       Anastäthetikum Chloroform mache Frauen sexuell „rasend“, das Spekulum
       fördere die Onanie bei jungen Mädchen … Dem offensichtlich patriarchalen
       Unsinn von gestern stellt Cleghorn heutige Mythen entgegen, etwa die von
       allzu achtsam in sich hineinhorchenden jungen Frauen, die sich im Internet
       [2][Diagnosen] wie ME/CFS (chronisches Erschöpfungssyndrom) selbst
       zusammenrecherchierten – obwohl die Ärzte „nichts gefunden“ hätten.
       
       Man könnte es nach Lektüre einiger kritischer Bücher zum Thema auch so
       sehen: Dem Schmerz von Frauen wird noch immer nicht geglaubt, daher gehen
       sie selbst auf Ursachensuche. Wie die „hysterische Patientin“ Sarah Ramey,
       die nach 16 Jahren körperlich unerträglicher Leiden zur Expertin ihrer
       eigenen Symptome wurde. Auf die nicht eine, sondern mehrere einzelne
       Diagnosen zutrafen, die, als sie auf ihr Drängen integriert behandelt
       wurden, zur ersehnten Besserung führten.
       
       Cleghorn, die selbst eine „unpässliche“ Patientin war, bis die
       Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes bei ihr diagnostiziert wurde,
       streift die eigene Leidensgeschichte nur am Rande. Sie geht zurück an die
       misogynen Wurzeln, in die griechische und römische Antike. Mediziner wie
       Hippokrates betrachteten den weiblichen Körper als von den Launen der
       Gebärmutter (auf Altgriechisch: Hystera) beherrscht – ein für die Männer
       rätselhaftes Organ, dem sie „die Ursache von 1.000 Übeln“ (Demokrit) und
       viel Wundersames nachsagten.
       
       Etwa, dass es bei zu wenig „Auslastung“ auf Wanderschaft durch den Körper
       ginge, was durch Geschlechtsverkehr und möglichst viele Schwangerschaften
       zu beheben sei. Im Mittelalter wurden Schmerzen bei der Geburt als Strafe
       für die Erbsünde betrachtet. Cleghorn zitiert aus Werken wie „Secreta
       Mulierum“, in denen es hieß, die Menstruation mache die Frau schwach und
       heimtückisch.
       
       Der berühmte „Hexenhammer“ als Rechtfertigung grausamer Verfolgung traf
       auch heilkundige Hebammen und Pionierinnen der Frauenheilkunde wie die
       Pariser Ärztin Felice de Almania. Systematisch arbeitet Cleghorn auf, wie
       ein patriarchales System, das auf der Unterwerfung des weiblichen Körpers
       aufbaut, mithilfe der krudesten Theorien und Vorurteile den weiblichen
       Körper dominiert und gleichzeitig seine ernsthafte Erforschung verhindert –
       bis heute. 2020 enthüllte eine Whistleblowerin, dass in einem Gefängnis in
       Georgia ungerechtfertigte und häufig nicht einvernehmliche
       Massenhysterektomien an gefangenen Frauen vorgenommen wurden. Und erst 2005
       wurde entdeckt, dass die Klitoris ungefähr fünfmal größer ist als bisher
       bekannt. Es bedurfte der Forschung der ersten Urologieprofessorin
       Australiens, die Klitorisschenkel zu entdecken und ihre wichtige Funktion
       für die Frauengesundheit.
       
       ## Weibliche Sicht
       
       Was, wenn es sich nicht um einen Club von hysterischen Frauen, sondern von
       unsichtbaren Patientinnen handelt? Auch die Berliner Gynäkologin und
       Chefärztin [3][Mandy Mangler] (eine von drei weiblichen Chefinnen der
       Hauptstadt mit 21 Kliniken) findet deutliche Worte: „Von einer sinnvollen
       Repräsentanz von Frauen sind wir weit entfernt“, befindet sie. Und
       berichtet von einem deutschen OP-Aufklärungsbogen, auf dem bis 2023 die
       Klitoris fehlte, das Organ der weiblichen Lust, über die männliche Kollegen
       nach wie vor erschreckend wenig wüssten.
       
       „Offensichtlich ist es für uns Frauen […] überlebenswichtig, medizinisch
       mitgedacht zu werden und in der Forschung vertreten zu sein“, schreibt
       Mangler im Vorwort zu ihrem frauenärztlichen Kompendium „Das große
       Gyn-Buch“, das sich dem weiblichen Körper aus weiblicher Sicht nähert.
       Mangler setzt sich für eine geschlechtersensible Medizin ein. Erforscht
       wird dieser Ansatz deutschlandweit bislang nur an einem Institut an der
       Berliner Charité. Eine Stärkung der geschlechtersensiblen Medizin ist vor
       dem Hintergrund wirtschaftlicher Sparmaßnahmen und eines gesellschaftlichen
       Schwenks hin zu „maskulinen Werten“ nicht zu erwarten.
       
       Die von vielen Autorinnen zusammengetragenen Erkenntnisse über den Sexismus
       in der Medizin aber bleiben sichtbar, wenigstens im Buchregal.
       
       6 Mar 2025
       
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