# taz.de -- Nach dem Anschlag von Magdeburg: Wenn Warnungen verhallen
       
       > Seit Jahren gab es Hinweise auf Gewalttaten des mutmaßlichen Attentäters
       > von Magdeburg. Die Behörden stoppten ihn nicht. Wie konnte das passieren?
       
 (IMG) Bild: Magdeburg, 20. Dezember: ein Polizist bewacht eine abgesperrte Straße nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt
       
       Berlin taz | Als James Gavitt es sich am Freitag vor dem 4. Advent für sein
       Abendessen gemütlich macht, kann er es kaum fassen. Im Stream auf seinem
       Tablet berichtet der Nachrichtensender Sky News über einen möglichen
       [1][Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Deutschland], in einer Stadt
       namens Magdeburg. Gavitt kommt aus einem Vorort von Chicago, hier ist es
       etwa 17 Uhr, in Magdeburg schon Mitternacht.
       
       Bei dem Stichwort Magdeburg habe es in ihm rumort, sagt Gavitt der taz.
       [2][Tatsächlich kennt Gavitt den Täter, Taleb Al Abulmohsen.] Und: Bereits
       vor über einem Jahr hatte Gavitt versucht, die deutsche Polizei vor ihm zu
       warnen.
       
       Gavitt ist Unternehmensberater und setzt sich in seiner Freizeit für Frauen
       ein, die aus muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien fliehen wollen. Es ist
       eine lose vernetzte Szene an Unterstützer*innen, in der sich auch Taleb Al
       Abdulmohsen bewegte – und auffiel. Seit Jahren sprach er offene
       Gewaltdrohungen aus, in denen er etwa andeutete, dass er wahllos Deutsche
       umbringen könnte. Mehrere Menschen meldeten das bei der Polizei. Gavitt
       dachte, das habe etwas genutzt – bis zum Freitag vor Weihnachten.
       
       Worüber Nachrichtenportale rund um den Globus an jenem 20. Dezember
       berichten, ist eine Tat, die etliche Fragen aufwirft: Ein Ex-Moslem, der
       einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verübt? Ein Facharzt für
       Psychiatrie? Ein anerkannter Asylbewerber, der gegen Deutschlands angeblich
       zu offene Migrationspolitik hetzt?
       
       ## Strafanzeigen gegen Stadt und Polizei
       
       Um kurz nach 19 Uhr, vier Tage vor Heiligabend, drückt Taleb Al Abdulmohsen
       aufs Gaspedal eines gemieteten SUV und fährt in einer Budengasse auf dem
       Weihnachtsmarkt auf die Besucher*innen zu. Fünf Menschen kommen ums
       Leben, vier Frauen und ein neunjähriger Junge. Abdulmohsen wird an einer
       Kreuzung festgenommen. Er nutzte wohl eine Lücke, die als Rettungsweg
       freigehalten und durch ein Polizeifahrzeug versperrt sein sollte.
       
       Wegen möglichen Fehlverhaltens wurden gegen die Stadt und die Polizei
       mittlerweile Strafanzeigen gestellt. Sicherheitskonzept, Einsatzplanung und
       Umsetzung könnten Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen werden. Auch der
       Bundestag und der Landtag Sachsen-Anhalt werden sich mit der Tat
       beschäftigten.
       
       Mindestens ebenso viele Fragen aber werfen die Warnungen auf, die es im
       Vorfeld vor dem Täter gab: Warnungen des saudischen Geheimdienstes,
       Meldungen von Bürger*innen an Behörden, Anzeigen, Beschwerden. Seit
       Monaten, seit Jahren.
       
       Auch James Gavitt versuchte die Polizei vor Abdulmohsen zu warnen. Das war
       vor über einem Jahr. Auf der Plattform X hatte Abdulmohsen mit Gewalt
       gedroht, schrieb in seinem Profil etwas von „baldiger Rache“ und dass
       „etwas Großes in Deutschland passieren wird“. Eine Frau hatte Gavitt darauf
       aufmerksam gemacht. Er habe die Polizei in Sachsen-Anhalt über ein
       Online-Kontaktformular informiert, sagt Gavitt, nannte Details zu
       Abdulmohsen und zitierte die Drohungen. Ein Screenshot eines ausgefüllten
       Online-Formulars liegt der taz vor. Er wurde am 3. Dezember 2023 erstellt.
       
       ## Polizeibesuch zu Hause, ohne Konsequenzen
       
       „Es gab auch ein direktes persönliches Gespräch mit der deutschen Polizei“,
       sagt Gavitt. Er habe damals eine Bekannte in Deutschland gebeten, mit der
       Polizei zu reden. Am 2. Dezember 2023 habe sie sie informiert. „Die
       Polizisten kamen persönlich zu ihr nach Hause.“ Sie habe ihnen Screenshots
       von Abdulmohsens Drohungen gezeigt, die Polizisten hätten Kopien
       angefertigt.
       
       Aber: Weder Gavitt noch seine Bekannte hörten danach wieder etwas von der
       Polizei – bis zum Anschlag am 20. Dezember 2024.
       
       Die Bekannte von Gavitt, die in Deutschland mit der Polizei sprach, ist die
       Aktivistin und Publizistin Rana Ahmad. Sie selbst floh 2015 aus
       Saudi-Arabien nach Deutschland und setzt sich seitdem für andere Frauen
       ein. 2017 gründete sie die Säkulare Flüchtlingshilfe, 2018 wurde sie mit
       ihrer Autobiografie berühmt und schaffte es auf die Bestsellerlisten.
       
       Aus Saudi-Arabien zu entkommen, ist für Frauen besonders schwierig.
       Unterstützer*innen tauschen weltweit Informationen aus. So lernte
       Gavitt Ahmad kennen. Und beide kennen daher auch Abdulmohsen, der sich
       ebenfalls seit Jahren für flüchtende Frauen aus Saudi-Arabien engagierte.
       
       ## Extrem übersteigerter Egozentrismus
       
       „Er hat mit seinen Informationen wirklich geholfen“, sagt Gavitt. „Das
       einzige Problem mit Abdulmohsen war, dass er immer den Ton angeben und im
       Mittelpunkt stehen wollte.“ Er sei wie besessen gewesen von Rana Ahmad und
       ihrer Organisation. „Es hat ihn wahnsinnig gemacht, dass sie so große
       Aufmerksamkeit bekam“, sagt Gavitt. Er interpretiert die Tat weniger als
       politisch motiviert denn als Ausdruck eines extrem übersteigerten
       Egozentrismus: „Er ist ein Psycho.“
       
       Die Obsession für Rana Ahmad [3][und andere] lässt sich bis heute auf
       Abdulmohsens Profil auf X nachvollziehen. Sowohl in einem Post vom August
       2024, den er anpinnte, wie auch in Videos, die ungefähr zum Tatzeitpunkt
       veröffentlicht wurden, erwähnt er Ahmad. Er bringt wilde Anschuldigungen
       vor und paart sie mit Verschwörungstheorien.
       
       Botschaften, in denen er Gewalt androht, veröffentlichte er bereits früher.
       Und neben Gavitt und Ahmad meldeten das auch andere bei der Polizei. Vor
       über einem Jahr, am 20. August 2023, fragte Abdulmohsen in arabischer
       Sprache seine Follower auf X: „Würden Sie mir verübeln, wenn ich aufgrund
       dessen, was Deutschland gegen die saudische Opposition unternimmt,
       willkürlich 20 Deutsche töten würde?“
       
       Eine Frau, die den Beitrag liest, ist besonders alarmiert. Gegenüber der
       taz stellt sie sich mit dem Nachnamen Al-Tamimi vor und möchte aus Sorge um
       ihre Sicherheit keine weiteren persönlichen Details in der Zeitung
       veröffentlicht sehen. Al-Tamimi spricht kein Deutsch, aber versucht aus dem
       Ausland die deutschen Behörden zu informieren, darunter das Bundesamt für
       Migration und Flüchtlinge (Bamf). „Es begann am 26. September 2023“,
       erklärt Al-Tamimi der taz. „Ich habe das Bamf und die Berliner Polizei auf
       X kontaktiert, ebenso die Polizei Sachsen-Anhalt auf Instagram.“
       
       ## „Bitte, irgendjemand muss etwas tun“
       
       Screenshots von ihrem Kontakt mit den deutschen Behörden lesen sich wie aus
       einem Kafka-Roman. Gegenüber dem Bamf teilt Al-Tamimi demnach im Chat einen
       Link zu dem Post, in dem Abdulmohsen andeutet, er könnte 20 Deutsche töten.
       Sie listet Details zu seinem vollen Namen auf, seinen Wohnort, sein
       Geburtsdatum und schreibt: „Können Sie bitte antworten? Er ist gefährlich
       und könnte jemanden töten.“
       
       Den Screenshots der Unterhaltung zufolge, die der taz vorliegen, antwortet
       das Social Media Team des Bamf am 27. September 2023 mit einem Standardsatz
       auf Englisch: „Hallo, wenn Sie ein Verbrechen melden wollen, ist es am
       besten, wenn Sie die Polizei direkt kontaktieren.“ Dazu verschickt das Team
       einen Link zur Internetwache der Polizei Berlin.
       
       Mit der Polizei Berlin chattet Al-Tamimi auf Englisch. Sie erklärt, dass
       sie dem Bamf eine E-Mail und Direktnachrichten geschickt, aber bislang
       keine Antworten erhalten habe. „Bitte, irgendjemand muss etwas tun.“ Laut
       den vorliegenden Screenshots der Unterhaltung heißt es daraufhin von der
       Polizei Berlin: „Sorry, wir sind die Polizei von Berlin. Wir können Ihnen
       an diesem Punkt auch nicht weiterhelfen. Bitte kontaktieren Sie die Polizei
       in Magdeburg.“
       
       Der Polizei in Sachsen-Anhalt schreibt Al-Tamimi dann auf Instagram. „Die
       haben gar nicht geantwortet“, sagt sie der taz.
       
       ## Informationen zu Drohungen seit 2015 beim BKA
       
       Die Polizeiinspektion Magdeburg antwortete auf eine Nachfrage der taz zum
       Umgang mit den Warnung, man könne die Anfrage „aus Gründen derzeit
       laufender Ermittlungen nicht beantworten“. Die Polizei Berlin erklärte noch
       am Tag nach dem Anschlag zu Screenshots der Unterhaltung: „Zum jetzigen
       Zeitpunkt können wir diese Hinweise nicht bestätigen und auch einen Fake
       nicht ausschließen. Die Prüfung hierzu dauert an.“ Das Bamf bestätigte,
       dass es den Hinweis auf Abdulmohsen gab. „Da das Bundesamt keine
       Ermittlungsbehörde ist, wurde die hinweisgebende Person, wie in solchen
       Fällen üblich, direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen.“
       
       Zu dem Zeitpunkt Ende 2023, als Al-Tamimi, Gavitt und Ahmad die Polizei vor
       Abdulmohsen warnen, [4][muss sein Name den Sicherheitsbehörden längst
       bekannt sein.] Auch als möglicher Gefährder: Das Innenministerium von
       Mecklenburg-Vorpommern versicherte gegenüber der taz, am 6. Februar 2015
       Informationen zu seinen Drohungen im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum aller
       Sicherheitsbehörden an das BKA übermittelt zu haben.
       
       Dem ging eine Auseinandersetzung Abdulmohsens mit der Ärztekammer in
       Mecklenburg-Vorpommern bereits im Jahr 2013 voraus, bei der er einer
       Referentin in einem Streit gedroht hatte, dass „etwas Schlimmes“ mit
       „internationaler Bedeutung“ geschehen werde. Explizit soll er [5][auf den
       islamistischen Anschlag in Boston] in den USA verwiesen haben, der damals
       gerade passiert war.
       
       Der taz liegt ein Urteil vom April 2013 vom Amtsgericht Rostock vor, in dem
       Abdulmohsen deshalb wegen „Störung des öffentlichen Friedens durch
       Androhung eines gemeingefährlichen Verbrechens“ zu einer Geldstrafe von 90
       Tagessätzen verurteilt wurde. Es gab eine Durchsuchung und ein Jahr später
       eine Gefährderansprache. Laut Landesinnenministerium fanden sich damals
       aber keine Hinweise auf eine Anschlagsplanung.
       
       ## „Kein schlechtes Gewissen“
       
       Aber Abdulmohsen machte weiter. In Stralsund drohte er 2013 Richtern und
       2014 einer Sozialbehörde. Jahre später, im August 2023 drohte er der
       Staatsanwaltschaft in Köln im Zuge eines Verfahrens, dass er „kein
       schlechtes Gewissen“ habe für „Ereignisse, die in den nächsten Tagen
       passieren werden“. Daraufhin kam es in Sachsen-Anhalt zu einer
       Gefährderansprache.
       
       Im November 2023 wies auch der saudi-arabische Geheimdienst mehrere
       deutsche Sicherheitsbehörden auf gewaltandrohende Postings von Abdulmohsen
       hin. BKA-Präsident Holger Münch sagt, man habe diese an die Polizei
       Sachsen-Anhalt weitergegeben, aber die Äußerungen seien letztlich zu
       „unspezifisch“ gewesen. Als Extremist oder Gefährder wurde Abdulmohsen bei
       deutschen Sicherheitsbehörden nicht geführt.
       
       Der Extremismus-Experte Armin Pfahl-Traughber ist mit einer Vorverurteilung
       der Behörden dennoch zurückhaltend, vor allem im Nachhinein: „Leider findet
       man im Internet in Hülle und Fülle derartiger Drohungen. Es ist immer sehr
       schwierig auszumachen, ob sich eine konkrete Tat ankündigt oder hier
       lediglich verbale Hassbotschaft abgesondert werden.“ Bei vielen Taten habe
       es zuvor einschlägige Bekundungen gegeben, was in der Rückschau dann für
       eine innere Konsequenz für eine Tat stehe. Meist bleibe es aber bei den
       verbalen Bekundungen. „Insofern ist sowohl die inhaltliche Deutung wie die
       richtige Reaktion nur schwer einschätzbar.“
       
       Auch Florian Hartleb, Forschungsdirektor beim Europäischen Institut für
       Terrorismusbekämpfung und Prävention in Wien, ist bei der Frage nach
       Verfehlungen durch die Behörden vorsichtig. „Es ist mir zu populistisch,
       jetzt sofort zu sagen, die Behörden hätten versagt.“ Immer müsse abgewogen
       werden, ob eine Drohung ernst zu nehmen sei. „Gerade bei sogenannten
       ‚Einsamen Wölfen‘, also Tätern, die bei der Tatausführung alleine handeln,
       ist die Einschätzung der Gefahr oftmals schwierig, wenn die Täter nicht
       offensichtlich in ein terroristisches Netzwerk eingebunden sind.“ Hinzu
       komme, dass sich im Fall von Abdulmohsens auf den ersten Blick ein sehr
       widersprüchliches Bild ergebe, das aus einem klassischen Raster
       herausfalle. „Es gilt abzuwarten, was die Ermittlungen ergeben“, sagt
       Hartleb.
       
       Wenn man mit James Gavitt spricht, hört man jedenfalls, dass er sich im
       Nachhinein Vorwürfe macht, nicht mehr unternommen zu haben. „Ich dachte,
       indem wir die Polizei informierten, hätten wir unseren Teil getan.“ Er
       hofft nun, dass egal, was bei den Behörden schief gelaufen ist, solche
       Warnungen künftig nicht verhallen.
       
       28 Dec 2024
       
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