# taz.de -- Ungerechte Bescheide in Niedersachsen: Amtlich unbarmherzig
       
       > Eine Demente soll sich erinnern, eine Bettlägrige gehen: Im „Schwarzbuch
       > sozial“ schildert der niedersächsische Sozialverband Fälle aus
       > Beratungen.
       
 (IMG) Bild: Begehrtes Gut Behindertenparkplatz: Zwei Jahre lang kämpfte ein Ehepaar vor Gericht um die Genehmigung hier parken zu dürfen
       
       Hannover taz | Das mit dem „Schwarzbuch“ haben sie sich vermutlich beim
       Bund der Steuerzahler abgeguckt. Seit 2017 gibt der niedersächsische
       Landesverband des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) sein „Schwarzbuch
       sozial“ heraus.
       
       Aber anders als die spektakulär dämlichen Bauprojekte oder andere
       Verschwendungsbeispiele, die der Steuerzahlerbund gern anprangert, taugen
       die vom SoVD erzählten Fälle oft nicht so leicht für schmissige
       Schlagzeilen. Hier geht es um abgelehnte Anträge bei Krankenkassen,
       Pflegekassen, Rentenversicherern und Sozialämtern.
       
       Das hochkomplexe Sozialrecht ist etwas für Experten. „Wir sehen, dass immer
       mehr Menschen Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden und Institutionen
       haben“, sagt [1][der Vorsitzende des SoVD-Verbandsrates, Bernhard
       Sackarendt, bei der Vorstellung des diesjährigen Schwarzbuchs.] Das trifft
       vor allem Menschen mit Behinderungen und Pflegebedürftige mit geringem
       Einkommen.
       
       Der SoVD funktioniert so ähnlich wie ein Mieterschutzbund: Mitglieder
       zahlen einen monatlichen Beitrag von 7,90 Euro. Dafür helfen die
       Beratungsstellen bei Anträgen, Widersprüchen und oft auch vor Gericht.
       
       ## Nachfragen an eine Demente
       
       [2][Vor allem die Pflege macht dem Verband] zunehmend Sorgen. Verfahren in
       diesem Bereich haben dramatisch zugenommen. Bei monatlich 2.300 Euro liegt
       die private Zuzahlung für einen Pflegeheimplatz in Niedersachsen
       mittlerweile im Schnitt.
       
       Wenn die Rente dafür nicht reicht und die Ersparnisse nach wenigen Monaten
       im Heim aufgebraucht sind, muss die Kostenübernahme beim Sozialamt
       beantragt werden.
       
       So wie im Fall von Christa Köhler aus Gifhorn. Neun Monate braucht das Amt,
       um einen Bescheid zu erstellen. Neun Monate, in denen die Angehörigen an
       der Ungewissheit verzweifeln und die Seniorin nicht einmal mehr ein kleines
       Taschengeld erhält.
       
       Was die Betroffenen stattdessen bekommen: Immer neue Nachfragen, deren Sinn
       sich ihnen nicht erschließt. Wie etwa diese: Warum Christa Köhler denn im
       Dezember 2019 einen größeren Betrag von ihrem Konto abgehoben hat, will die
       zuständige Sachbearbeiterin wissen.
       
       Dabei ist aus den Antragsunterlagen erkennbar, dass Christa Köhler diese
       Frage kaum beantworten kann – sie ist dement und erkennt oft ihre eigenen
       Angehörigen nicht mehr. Die vermuten, sie habe davon wohl
       Weihnachtsgeschenke für ihre zwölf Enkel gekauft. Aber wie will man so
       etwas fünf Jahre später noch belegen und wozu muss man das überhaupt?
       
       ## Nicht laufen können und eine Gehbehinderung sind zweierlei
       
       Die Beraterin Christine Scholz vom SoVD hat einen anderen Verdacht: Oft
       dienen solche Nachfragen bloß dazu, eine aktive Antragsbearbeitung zu
       simulieren und auf Zeit zu spielen. Das Sozialamt leidet unter
       Personalmangel, will aber keine Untätigkeitsklage riskieren, glaubt sie.
       
       Ein persönlicher Gesprächstermin zur Klärung sei auch abgelehnt worden. Am
       Ende hat die Intervention der Beratungsstelle aber Erfolg: Das Sozialamt
       Gifhorn verschickt dann doch noch einen Bewilligungsbescheid.
       
       In anderen Fällen dauert es noch länger. Zweieinhalb Jahre kämpfte der SoVD
       für das Ehepaar Schröder vor Gericht. Die 64-Jährige ist bettlägerig und
       wird von ihrem Mann mit der Unterstützung eines Pflegedienstes gepflegt.
       Für Arztbesuche benötigt sie einen Liegendtransport, ins Bett wird sie mit
       einem Lifter gehoben.
       
       Trotzdem verweigert ihr das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend
       und Familie einen entsprechenden Grad der Behinderung und das Merkzeichen
       aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), das von dem Paar benötigt wird, um
       zum Beispiel auf Behindertenparkplätzen parken zu können.
       
       Der Grund: Frau Schröder leidet an einer neurologischen Erkrankung, nicht
       an einer orthopädischen Beeinträchtigung. Über zwei Jahre dauert das
       Gerichtsverfahren, in dem dann festgestellt wird, dass sie zwar im Liegen
       ihre Beine noch ein wenig bewegen kann – aber definitiv nicht laufen.
       
       ## Überlastete Verwaltungen und politische Fehlsteuerungen
       
       [3][Mehr als zwanzig Fälle dieser Art] hat der SoVD versammelt. Oft zeugen
       sie vor allem von einem Mangel an Empathie und Sachbearbeitern, die nach
       Aktenlage entscheiden, ohne sich ein vollständiges Bild zu machen.
       
       Vieles, betont Dirk Swinke, Vorstandsvorsitzender des SoVD in
       Niedersachsen, sei aber eben auch politischen Weichenstellungen geschuldet.
       Schon lange fordert der SoVD, das Land müsse den Pflegeheimen bei den
       Investitionskosten beispringen.
       
       Allein dadurch, sagt Swinke, ließen sich die Zuzahlungskosten um 500 Euro
       im Monat drücken – und damit müssten auch weniger Leute Grundsicherung im
       Alter beantragen.
       
       Und das, sagt er, sei ja nicht die einzige Milchmädchenrechnung, die in
       diesem Bereich aufgemacht werde. Auch bei den Debatten ums Bürgergeld werde
       gern einmal vergessen, dass eine Nullrunde hier auch eine Nullrunde bei der
       Grundsicherung im Alter bedeuten würde.
       
       „Es wäre schön, wenn wir das Schwarzbuch nicht mehr bräuchten“, sagte
       Sackarendt. „Es sieht aber leider nicht danach aus“, ergänzt Swinke.
       
       1 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.sovd-nds.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen/pressemitteilung-vom-27112024
 (DIR) [2] /Studie-zur-Pflege-von-Angehoerigen/!5884557
 (DIR) [3] https://www.sovd-nds.de/fileadmin/landesverbaende/nds/downloads/broschueren/Schwarzbuch/BRS_Schwarzbuch_2024_web.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nadine Conti
       
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