# taz.de -- Gedanken zu (neuer) deutscher Musik: Ja. Nichts ist okay
       
       > Deutsche Sprache, schwere Sprache? Kommt drauf an, wer singt und spricht.
       > Neue Alben von Gewalt, Mutter, Maxim Biller und ein Buch über Rammstein.
       
 (IMG) Bild: Die Band Gewalt: Patrick Wagner, Helen Henfling und Jasmin Rilke
       
       Böse Zungen behaupten, das Beste am Feiertag zur Deutschen Einheit sei der
       Brückentag, falls der 3. Oktober auf einen Donnerstag fällt, so wie dieses
       Jahr. Da trifft es sich gut, innere Einkehr zu halten und deutschsprachiges
       Popmusikschaffen in Ohrenschein zu nehmen, so man denn tiefere Lust
       verspürt, der eigenen Sprache und ihrem Auftreten in populärer Musik auf
       den Zahn zu fühlen.
       
       Ob es ein Zufall ist, dass heute gleich mehrere Alben veröffentlicht
       werden, in denen neben der Norm Deutsch gesungen wird? Oder hat es doch nur
       mit der alljährlichen Veröffentlichungsoffensive der Musikindustrie zu tun,
       die zum Start in den Herbst noch mal aufs Promopedal drückt, um das
       Tonträgergeschäft vor Weihnachten anzukurbeln?
       
       „Ich kann mich nicht finden im Wimmelbild“, heißt es desorientiert im
       Auftaktsong „Schwarz Schwarz“ auf dem neuen Album „Doppeldenk“ d[1][er
       Berliner Industrialnoiseband Gewalt]. „Gib mir ein Tutorial für einen neuen
       Verstand“, fordert der Vortragende mit Schaum vorm Mund, weil er sich nicht
       zurechtfindet in der Nonstop-Selbstoptimierungswelt. Der Gesang wirkt
       gehetzt, mitunter sogar gequält.
       
       Dazu erklingt eine Musik, die das heillose Textdurcheinander aus
       Verzweiflung, Niedertracht und despotischem Wahn um ein Vielfaches
       verstärkt. Muss auch so, und ist äußerst minimalistisch inszeniert, aber
       nie zu brav an Vorbildern wie [2][Big Black] und [3][D.A.F.] angelehnt. Es
       klingt auch nie linientreu nach Industrial meets hard und heavy, obwohl
       Sequenzer peitschen und betonharte Drumbeats das Crossover-Prokrustesbett
       mit Granit pflastern, während die Gitarrenriffs säbeln wie Fleischermesser
       im Schlachthof. Musik und Texte folgen der alten Neubauten-Maxime „Höre mit
       Schmerzen“.
       
       Zum taz-Gespräch kommen die beiden KünstlerInnen Helen Henfling und
       Patrick Wagner frisch zurückgekehrt aus Wien, wo Gewalt am Volkstheater in
       der Revue „Drei Tage für Österreich, können wir die Demokratie noch retten“
       von Regisseur Kay Voges mitgewirkt hatten. „Österreich ist uns in Sachen
       Faschismus um fünf Jahre voraus“, fürchtet Sänger und Gitarrist Patrick
       Wagner.
       
       „Wir haben dort mitbekommen, wie zurückhaltend die Kulturszene mit der
       Bedrohung durch die FPÖ umgeht, vielleicht aus Sorge um die Fördergelder.“
       Und Gitarristin Helen Henfling ergänzt: [4][„Wie sich dort der rechte
       Ungeist in Sprache und Gesellschaft eingenistet hat, wirkt unheimlich.“]
       
       Ihr neues Album „Doppeldenk“ ist nach einem Begriff aus George Orwells
       dystopischem Roman „1984“ benannt, es bezeichnet den Mechanismus,
       absichtlich Lügen in die Welt zu setzen, um aufrichtig an diese zu glauben.
       „Der böse Putin, der böse Trump. Klar, aber es geht auch um uns selbst, wie
       wir im Alltag diktatorische Mechanismen anwenden, etwa das Gegenteil von
       dem meinen, was wir sagen.“
       
       Als Antipode zum Autokratischen wirkt, wie Gewalt in dem Song „Ich kann das
       nicht“ eine Form von Scheitern ohne jede Koketterie schildern. Deutsch
       klingt in der Stimme von Wagner oft zerbrechlich, traurig, nie
       sehnsuchtsvoll! „Ich rolle kein R und marschiere auch nicht herum“, erklärt
       er seinen Gesangsstil. Dass ihr Album am 4. Oktober erscheint, sei purer
       Zufall, sagt Henfling. „1989 war ich drei Jahre alt. Ich kenne Deutschland
       nur als Einheit.
       
       Mein Vater flüchtete aus der DDR in den Westen. Dass es im Osten einen
       krassen Rechtsruck gibt, erkläre ich mir damit, dass Kapitalismus plötzlich
       über die Menschen gekommen ist, ohne Vorwarnung. Alle waren überfordert,
       auch die, die nach Westen geflohen sind, vor der Maueröffnung. Da scheint
       viel Angst im Spiel zu sein.“ Patrick Wagner winkt ab. „Warum schauen wir
       nicht nach Osteuropa? Die Polen haben es schließlich auch geschafft, die
       Gefahr von rechts zu bannen.“
       
       Das Finale ihres Albums ist in bestem Doppeldenk „Ne ne, alles gut“
       betitelt. Wie einst Gabi Delgado deklamiert Patrick Wagner dabei Verbote
       und schlimme Redensarten durch: Von „Hinten anstellen!“, über „Ist dein
       Vater Glaser?“ bis „Ich bin kein Nazi, aber wir können ja nicht alle
       aufnehmen“, dann fangen ihn Harfenklänge auf und ein Chor shoutet: „Ja!
       Nichts ist okay“.
       
       ## Album von Krachband Mutter erneut veröffentlicht
       
       Ein Diktum, das wiederum auch für „Hauptsache Musik“ gilt. So heißt das
       schönste, 1994 zum ersten Mal erschienene Album der Krachband Mutter, das
       am 3. Oktober in einer Deluxeversion, ergänzt um abweichende Fassungen und
       unveröffentlichte Songs aus der Entstehungszeit, erneut veröffentlicht
       wird. Das neue Veröffentlichungsdatum, passt zur Antihaltung der Band.
       
       [5][Wobei Mutter, die Mitte der 1980er Jahre aus der Westberliner
       Punkszene] hervorgegangen waren, schon um 1990 mit dem Song „Du bist nicht
       mein Bruder“ einen Kommentar zur verlogenen Glückseligkeit im
       wiedervereinten Deutschland abgegeben hatten: „Marmorjeans, die
       symbolisieren / Wir, wir sind wie ihr / Wir gehören zu euch / Du bist nicht
       mein Bruder / Du bist nicht meine Schwester.“ Während [6][der Text von
       Sänger Max Müller mit Schopenhauer’schem Pessimismu]s korrespondierte,
       befreite sich der drastische Lärm vom Größenwahn des Mainstream-Rock,
       ähnlich, wie sich in New York No Wave aus den Fesseln von Punk löste.
       
       Mit „Hauptsache Musik“ brachen Mutter dann mit diesen Zuschreibungen. Das
       bissig-böse Unversöhnliche ihrer früheren Alben war hinter
       folkig-chansonesken Instrumentierungen und liebevollen Textminiaturen
       verschwunden. Die Songs handeln von Freundschaft, Flirts oder einem Fetzen
       Papier. [7][Die Texte klangen nach Italo Svevo]: „Ihr seid alle schön“, „Wo
       ist das Problem“ heißen Songtitel.
       
       „Warum nehmen wir uns nicht, was uns zusteht“, raunt Max Müller ahnungsvoll
       und bringt Existenzphilosophie zur Anwendung. Verzerrer wurden zugunsten
       von Glockenspiel und Schlagzeugbesen zurückgefahren. „Wer ist das Mädchen
       neben dir?“ Oft wird Müllers schräge Stimme von einem Chor flankiert. Wo er
       vorher vereinzelt klang, entdeckte die Band nun die Herzenswärme der
       Gemeinschaft für sich und labte sich an der Opulenz klassischer
       US-Countryalben.
       
       „Hauptsache Musik“ klingt heute immer noch erwachsen, ohne altbacken zu
       sein. Fans brauchen die Deluxe-Version, allein um Outtakes wie das
       schummrige „Elton John“ zu hören, in dem der Popstar als Freak geschildert
       wird, der seinen Blues nicht mehr in Balladen ertränkt, sondern Feinden
       Fußnägel mit der Zange ausreißt. Auch toll: abweichende Fassungen von
       Albumtracks, etwa „Die Erde wird der schönste Platz im All“, gesungen mit
       charmantem englischem Akzent von der US-Lebensgefährtin des
       Mutter-Gitarristen Frank Behnke.
       
       Lebensanschaulich mögen Welten zwischen Mutter und dem [8][Berliner
       Schriftsteller Maxim Biller] liegen, aber die delikaten Songarrangements,
       die er für sein Album „Studio“ mit dem Musiker Malakoff Kowalski kreiert
       hat, sind mit den Folkanmutungen von „Hauptsache Musik“ entfernt verwandt.
       Detailreich, dabei eher behutsam, sind die Klangteppiche der zwölf Songs
       mit Akustikgitarre, Klavier, gedämpftem Bass und minimaler Percussion
       gewebt. Biller, dessen sonore Stimme an Volker Lechtenbrink erinnert,
       betreibt in den Texten eine Vivisektion seines Ich, das narzisstisch wirkt
       und in einer durchmedialisierten Welt lebt.
       
       Das ist insofern gut, weil „Studio“ wie eine Nachrichtensendung angelegt
       ist, von Weltpolitik bis Human Interest klingen relevante Gegenwartsthemen
       an. Jenseits der eigenen Prominenz gibt es wenig Interesse für die Umwelt.
       Was schade ist, weil Billers Textpoesie lakonisch klingt und sein riesiges
       Ego von der unaufdringlichen Musik eingehegt wird.
       
       Man kann diese Songs trotzdem aushalten, zumindest wenn sie nicht von
       jüngeren Frauen handeln, sondern von eigenen Selbstzweifeln, den ebenso
       prominenten Nachbarn und Terror („Die Kriegsreporterin“, „Revolution von
       oben“, „6 Uhr 30“) und von Zärtlichkeit, die für eine in Vergessenheit
       geratene Schriftstellerin empfunden wird: „Für Maeve Brennan“. Souverän ist
       zudem, wie selbstverständlich jüdische Identität zur Sprache gebracht wird,
       obwohl sie im deutschen Alltag 2024 prekär ist.
       
       ## Eine Schweinshaxe für Rammstein
       
       Wenn Kunstwerke Ausschnitte der Welt in kondensierter Form zeigen, was
       symbolisiert eigentlich der Sound von Rammstein? Eine Schweinshaxe? Glaubt
       man dem emeritierten Musikwissenschaftler Peter Wicke, findet bei der
       Berliner Band „Provokation als Gesamtkunstwerk“ statt. Weil er die
       ostdeutschen Künstler unbedingt vom Nazivorwurf und vom
       Backstage-Missbrauchsskandal entlasten möchte, geht er in Buchform zum
       Gegenangriff über und nimmt „die Sachwalter der political correctness und
       die doktrinären Aktivisten der woken Tugendhaftigkeit“ in Haftung.
       
       Dafür baut Wicke [9][ein rosarotes Fantasiegebilde um Burg Rammstein] auf.
       Jede Feuersäule auf der Bühne, jeder Sattelschlepper, der Equipment um die
       Welt karrt, wird in technizistischer Beipackzettelsprache aufgezählt. Kein
       gutes Haar lässt Wicke dagegen am Feuilleton, weil es toujours auf
       Skandälchen der Band reinfällt, von Peniskanone bis Eisernes Kreuz im
       Bandlogo.
       
       Und da schau her: Anders als die opportunistischen Westkünstler hätten
       Rammstein Übung mit der Kunst von Uneindeutigkeit aus ihrer Jugendzeit in
       der DDR-Opposition. Am Ende verharrt der verrückte Professor ähnlich öde in
       Kapitalismuskritik wie das Bündnis Sahra Wagenknecht. Na, wenigstens ist
       heute Brückentag.
       
       3 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
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