# taz.de -- „Das große A“ von Giulia Caminito: Nostalgie in der Diaspora
       
       > Giulia Caminitos Kolonialroman „Das große A“ erzählt in bildhafter
       > Sprache eine Familiengeschichte in den italienischen Kolonien Ostafrikas.
       
 (IMG) Bild: Bar in Asmara
       
       Lombardei in der Endphase des Zweiten Weltkriegs: In der Schule heißt es
       Strammstehen für den Duce, zu Hause gibt es trockenes Brot und Schläge,
       andauernd ist Bombenalarm. Für die 13-jährige Giada ist das Leben hart.
       Getrennt von ihren Geschwistern wächst sie als ungeliebtes Mündel bei ihrer
       Tante auf, einer glühenden Faschistin.
       
       Abgeladen von der Mutter, die im fernen Afrika eine Bar betreibt und Lkw
       fährt. Auf ihren kurzen Stippvisiten in Legnano steigt „die Mama“
       geschminkt wie eine Hollywood-Diva aus ihrem Wagen, verteilt Kekse und
       verschwindet wieder in einer Wolke aus Diesel und dem Qualm französischer
       Zigaretten. Bis sie nach Kriegsende endlich kommt und ihre Tochter ins
       „große A“ mitnimmt, wo sie selbst Freiheit und Lebensperspektiven gefunden
       hat.
       
       Doch das nordöstliche Eritrea gleicht nicht dem kolonialen Märchenland
       voller weißer Häuser am Meer, das Giada sich nachts vor dem Einschlafen
       vorgestellt hat. Zwischen dem Schichtdienst in Mamas Bar, glühender
       Wüstenhitze und der Nostalgie einer isolierten italienischen
       Diasporagesellschaft muss sich die wegen ihrer körperlichen Zartheit
       dauerunterschätzte Frau ihren Platz erkämpfen.
       
       Giulia Caminitos Roman „Das große A“ ist ein geschichtenpralles Panoptikum
       des Lebens in Italienisch-Ostafrika, zu dem zeitweise auch Somaliland und
       das besetzte Äthiopien gehörten. Man trinkt geschmuggelte Spirituosen bei
       Adele, spielt im Juventus-Club „Scopone“ und Poker und geht samstags
       geschlossen ins Kino, um dem mit Verzögerung gezeigten italienischen Film
       zu huldigen – „den Mund zwar voller Kritik und Beschimpfungen, Vorwürfe und
       Missfallen, Melancholie und Verzweiflung, aber man ging Italien anschauen“.
       
       ## Zwei ungleiche Frauen in Italienisch-Ostafrika
       
       Wie durch ein Schlüsselloch sieht die Leserin Giada und ihrer Mutter beim
       Leben zu, zwei ungleichen und zähen Frauen: wie sie lieben und an
       unzuverlässigen Männern, der Misogynie oder der kleingeistigen Schwägerin
       scheitern, in der Wüste Gazellen jagen, ein Kind großziehen und schließlich
       in einem Klima der politischen Instabilität aufbrechen, um bar jeder
       Illusionen in Italien wieder von vorn anzufangen.
       
       Eine komplexe, makellos konstruierte Handlung, eine bildstarke Sprache
       voller eindringlicher Szenen, aber pathosfrei: In Italien erlangte dieses
       erstaunliche Debüt der damals gerade 28 Jahre alten Römerin Giulia Caminito
       bereits 2016 große Aufmerksamkeit. Es öffnete ein Fenster in die bislang
       unterbelichtete Zeit des italienischen Kolonialismus in Ostafrika – zwei
       Jahre später sollte Francesca Melandris Kolonialsaga „Sangue Giusto“, die
       in Deutschland unter dem Namen [1][„Alle, außer mir“] erschien, ein
       Riesenerfolg werden.
       
       Dass Giulia Caminitos „Das große A“ nun mit einiger Verspätung ins Deutsche
       übersetzt wurde, ist auch eine Reaktion auf das Interesse des Lesepublikums
       an kolonialen Themen. Vor allem aber liegt es an der literarischen Kraft
       dieser Autorin, der es bereits mit zwei anderen Romanen gelungen ist, ihren
       LeserInnen überzeugend völlig unterschiedliche Welten nahezubringen.
       
       „Das Wasser ist niemals süß“, 2021 für den Premio Strega nominiert, ist
       eine nördlich von Rom angesiedelte Coming-of-Age-Geschichte, die ein hartes
       Licht auf die Aufstiegsperspektiven junger Italiener*innen wirft. Im
       Vorgänger [2][„Ein Tag wird kommen“,] angesiedelt in den ländlichen Marken
       Anfang des 20. Jahrhunderts, suchen zwei Brüder zwischen Anarchismus, der
       Spanischen Grippe und dem aufkommenden Faschismus nach Gerechtigkeit.
       
       ## Eigene Familiengeschichte
       
       Wie in ihren anderen Romanen verarbeitet Giulia Caminito auch in „Das große
       A“ einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte. Ihr Vater wurde im
       eritreischen Asmara geboren, ihre Urgroßmutter war Schmugglerin und
       Barbesitzerin in Assab – der Wüstenstadt, in der Giada und ihre Mutter
       Adele im Roman nicht luxuriös, aber gut leben. Und mit ihnen ein
       Konglomerat aus Altfaschisten, gepamperten Diplomatengattinen und
       Unternehmern, die dem äthiopischen Kaiser die Treue geschworen haben.
       
       Mit leiser Ironie schildert Caminito die Schockstarre der italienischen
       Community, als es 1960 in Eritrea zum lange befürchteten Aufstand kommt:
       „Im Radio ist die Rede von einer neuen, einer glücklichen Ära. Aber während
       die Bevölkerung Position bezog, herrschte in der italienischen Gemeinde
       eisiges Schweigen und Nichteinverständnis in Gestalt von hängenden
       Schultern. Der Schutz des Negus hatte die Nichtbeachtung durch die
       italienische Regierung wettgemacht, die diesen mythischen Platz an der
       Sonne schnell vergessen hatte. Eine Sonnenfinsternis war über sie
       hereingebrochen.“
       
       12 Oct 2024
       
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