# taz.de -- Bericht zu antiziganistischen Vorfällen: „Nur die Spitze des Eisbergs“
       
       > Die Zahl gemeldeter Fälle von Antiziganismus hat sich seit dem Vorjahr
       > verdoppelt. Doch das Dunkelfeld ist weiterhin sehr groß, sagt die
       > Meldestelle.
       
 (IMG) Bild: Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma, am 17.6. in der Bundespressekonferenz
       
       Berlin taz | „Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei?“, fragt Mehmet
       Daimagüler am Montagmorgen im Haus der Bundespressekonferenz. Der
       Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung sitzt mit auf dem Podium, als
       die Melde- und Informationsstelle Mia den [1][Jahresbericht zu
       antiziganistischen Vorfällen im Jahr 2023] vorstellt. Die Zahlen haben sich
       [2][im Vergleich zum Vorjahr von 621] auf 1.233 Fälle beinahe verdoppelt.
       Und das sei nur die Spitze des Eisbergs, betont Silas Kropf,
       Vorstandsvorsitzender von Mia. „Es gilt, das Dunkelfeld weiter zu
       erhellen.“
       
       Es geht um 2023, doch Daimagüler blickt erst mal in die Gegenwart und zählt
       Vorfälle der vergangenen Wochen auf: Gerade erst sei [3][in Flensburg ein
       Mahnmal zum Gedenken an im Nationalsozialismus deportierte Sinti und Roma
       beschädigt] worden. Ein Denkmal in Neumünster sei wiederholt vermüllt und
       das [4][Wahlplakat eines Sinto in Koblenz mit rechtsextremen
       Gewaltfantasien beschmiert] worden. In Trier seien Hakenkreuze auf das Haus
       eines Holocaust-Überlebenden gemalt worden.
       
       Aber die Betroffenen würden alleingelassen. In diesem Jahr werde er mit
       einer Delegation zum 80. Jahrestag der Räumung des sogenannten Z-Lagers in
       Auschwitz-Birkenau Kränze niederlegen, so Daimagüler. „Ich empfinde das
       teils als verlogen. Wir achten die Toten und verachten die Lebenden.“
       
       Die aktuellen Fälle passen zu dem, was die noch junge Meldestelle in ihrem
       erst zweiten Jahresbericht auflistet. Sie erfasst gegen die Minderheit der
       Sinti und Roma gerichtete Vorfälle oberhalb wie unterhalb der
       Strafbarkeitsschwelle. Der Bericht umfasst unter anderem 46 Bedrohungen, 40
       Angriffe, 27 Sachbeschädigungen und zehn Fälle extremer Gewalt.
       
       ## Viele Fälle in Bildungseinrichtungen
       
       Rund die Hälfte der Taten machen mit 600 Vorfällen „verbale
       Stereotypisierungen“ aus, danach kommen 502 Fälle von Diskriminierung. Die
       Verdopplung der Gesamtzahl lasse nicht auf eine entsprechende Zunahme von
       Antiziganismus schließen. Vielmehr werde Mia bekannter und es seien
       Meldestellen in zwei weiteren Bundesländern hinzugekommen.
       
       Antiziganistische Erlebnisse wirken sich „ausnahmslos in verheerender Weise
       auf die Betroffenen aus“, heißt es in dem Bericht. Menschen würden von
       ihren Nachbarn systematisch beleidigt und teils physisch bedroht. Kinder
       würden von Mitschülern wie auch von Lehrern „in übelster Form beleidigt und
       gemobbt“.
       
       Antiziganismus trete [5][in nahezu allen Lebensbereichen auf], betont
       Kropf. Fast ein Fünftel der Fälle erfolgte in Bildungseinrichtungen. So
       habe etwa eine Lehrerin ihre Schülerin, eine Romni, bei der Anmeldung fürs
       Abitur gefragt, warum sie sich überhaupt die Mühe mache: „Sie werde ja
       sowieso nicht lange bleiben und wahrscheinlich in einem Monat heiraten.“
       
       Einen besonderen Schwerpunkt legt der Bericht für das Jahr 2023 auf das
       Thema Polizei. Für etwa ein Viertel der Diskriminierungsfälle seien
       Behörden verantwortlich, so Kropf. Zentral seien Ausländerbehörden und
       Jobcenter. In vielen Fällen seien aber auch Polizeibeamte beteiligt,
       darunter sogar drei Fälle extremer Gewalt.
       
       ## Schwerpunkt: Polizei
       
       Bei einem Polizeieinsatz wegen Beschwerden über Lärm in einer Unterkunft
       für Geflüchtete etwa hätten Polizeibeamte einen Familienvater aus für die
       Anwesenden nicht ersichtlichen Gründen zu Boden geworfen und fixiert. Dann
       sei ein Polizeihund auf ihn losgegangen und habe mehrfach zugebissen. Der
       Betroffene musste im Krankenhaus behandelt werden und trug physische wie
       psychische Spuren davon.
       
       Kropf berichtet von zahlreichen Fällen, in denen die Polizei
       unverhältnismäßig gehandelt habe. Viele Sinti und Roma gerieten „sehr
       häufig in Polizeikontrollen, in denen sofort ihre Habseligkeiten ohne
       konkreten Verdacht durchsucht oder sie wegen ihres Nachnamens nach ihren
       Verwandtschaften befragt werden“, sagt er.
       
       Betroffene würden oft in ihrer Opferrolle nicht ernst genommen, stattdessen
       werde ihnen selbst mit Misstrauen begegnet. Das habe Folgen, betont
       Daimagüler: Immer wieder berichteten ihm Mitglieder der Minderheit, dass
       sie antiziganistische Vorfälle gar nicht anzeigten. „Menschen aus der
       Community haben ein geringes Vertrauen in die Behörden.“
       
       Der Bericht mache dringenden Handlungsbedarf deutlich, so Kropf. So brauche
       es etwa „tiefgreifende Maßnahmen“, um Antiziganismus bei der Polizei
       entgegenzutreten. Und die Arbeit von Mia müsse auch nach Ende der ersten
       Förderperiode, die Ende des Jahres ausläuft, abgesichert werden.
       
       ## Aufruf zum Handeln
       
       Von einer „besorgniserregenden Entwicklung“ spricht mit Blick auf den
       Bericht, aber auch den zuletzt bei den Europawahlen deutlich gewordenen
       Rechtsruck, der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma.
       
       „Wenn Menschen [6][in den Medien immer noch sortiert werden], wenn ihre
       Abstammung von Behörden erfasst wird, dann ist das ein Zeichen für nicht
       vorhandenes demokratisches Handeln“, so Romani Rose. „Angesichts der
       historischen Verantwortung Deutschlands ist die Politik aufgerufen, diesen
       Bericht nicht nur zur Kenntnis zu nehmen – sondern sie muss alle Bereiche
       der Handlungsmöglichkeit ausschöpfen, um Antiziganismus zu bekämpfen.“
       
       17 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.antiziganismus-melden.de/2024/06/17/melde-und-informationsstelle-antiziganismus-mia-veroeffentlicht-2-jahresbericht-zu-antiziganistischen-vorfaellen-in-deutschland-die-vorfallzahl-hat-sich-im-vergleich-zum-vorjahr-beinahe-verdoppelt/
 (DIR) [2] /Sintizze-und-Romnja-in-Deutschland/!5960763
 (DIR) [3] /Denkmal-fuer-Sinti-und-Roma-zerstoert/!6013883
 (DIR) [4] /Antiziganistische-Gewalt/!6014216
 (DIR) [5] /Antiziganismus/!6000386
 (DIR) [6] /Journalistin-ueber-Sinti-und-Roma/!6000345
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dinah Riese
       
       ## TAGS
       
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