# taz.de -- Zum Tod von Paul Auster: Er erzählte die Wirklichkeit
       
       > Der US-Schriftsteller Paul Auster wurde mit fast fliegenden wie
       > abgründigen Geschichten berühmt. Am Dienstag ist er im Alter von 77
       > Jahren gestorben.
       
 (IMG) Bild: Schreiben als Weg, die Welt zu durchdringen: der Autor Paul Auster (1947-2024) im Jahr 2011
       
       Der Zufall spielt in seinen Büchern eine große Rolle – so auch in dem
       letzten Essay aus dem Band „Die Kunst des Hungers“, der programmatisch den
       Titel „Warum schreiben?“ trägt. Tja, warum? Wer hier eine ernste Abhandlung
       über Schriftstellerei erwartet, wird enttäuscht. Wer sich aber interessiert
       für ein federleichtes Spiel über das Leben, die Zeichen und die
       Möglichkeiten, beides zu beschreiben, der wird an dieser Stelle belohnt, so
       wie in so vielen Romanen des Schriftstellers Paul Auster.
       
       Tatsächlich beschreibt Auster in diesem Text nur fünf große Zufälle.
       Einmal, das ist der letzte Zufall, trifft er als Achtjähriger sein
       Baseballidol Willie Mays, den er um ein Autogramm bittet. „Sicher, Junge,
       sicher“, sagte dieser. „Hast du was zum Schreiben? “ An so einer Stelle
       sieht man schon: Für solche lakonischen, aber auch genau von den
       tatsächlichen Sprechweisen realer Menschen abgehörten Dialogsätze hatte
       Paul Auster ein gutes Händchen.
       
       Aber der kleine Paul Auster hatte in diesem Augenblick keinen Stift bei
       sich, also bekam er auch kein Autogramm. Der Text geht dann so weiter, dass
       er von da an immer einen Bleistift in der Tasche hatte und ihn dann
       irgendwann eben auch für seine Bücher benutzte. Der letzte Satz: „Wie ich
       meinen Kindern gern erzähle, bin ich auf diese Weise zum Schriftsteller
       geworden.“
       
       Das ist eine dieser literarisch fast fliegenden wie gleichzeitig auch
       abgründigen Geschichten, für die der Schriftsteller Paul Auster sehr
       berühmt geworden ist.
       
       ## Mit New York blieb er immer verbunden
       
       Spätestens auf den zweiten Blick ist es auch ein Satz, der mit Wahrheit und
       Fiktion, dem echten und dem ausgedachten Leben spielt. Und bei dem es dann
       gar nicht darauf ankommt, ob die erzählte Episode nun tatsächlich
       stattgefunden hat oder ausgedacht ist. Denn es steht ja ausdrücklich da:
       Die Sache mit dem fehlenden Bleistift ist die Geschichte, die der Autor
       seinen Kindern „gern erzählt“. Ob sie stimmt? Ist dann gar nicht wirklich
       wichtig.
       
       Tatsächlich aber hat Paul Auster in seinem realen Leben selbstverständlich
       viel größere Anstrengungen unternommen, um der bekannte, vielleicht sogar
       weltberühmte Schriftsteller zu werden, der er dann geworden ist. Geboren
       wurde Paul Auster am 3. Februar 1947 in Newark, New Jersey, als Sohn einer
       kleinbürgerlichen jüdischen Familie. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen
       auf. Seine Großeltern väterlicherseits waren zwei Generationen zuvor aus
       Stanislau in Galizien (dem heute ukrainischen Iwano-Frankiwsk)
       eingewandert; auch seine Mutter hatte ukrainisch-polnische Vorfahren. 1968
       begann er an der Columbia-Universität in New York Literatur zu studieren.
       Der Stadt blieb Paul Auster ein Leben lang verbunden.
       
       Während in den USA die Proteste gegen den Vietnamkrieg tobten, ging er für
       drei Jahre nach Paris, um dort der Literatur der Moderne und der Boheme nah
       zu sein. Celan, Kafka, Dostojewski, Artaud, die Surrealisten, Dada, alles
       hat er verschlungen. Für eine Zeit war er der Privatsekretär von Samuel
       Beckett, einem seiner großen Vorbilder.
       
       Er hat in dieser Zeit aber auch mit sehr wenig Geld gelebt. „Von der Hand
       in den Mund“ heißt ein autobiografischer Text, in dem Paul Auster recht
       ironisch von diesen schwierigen Anfängen erzählt. Sie haben ihn zu einer
       beeindruckenden literarischen Karierre geführt. Den Literaturnobelpreis hat
       er zwar nicht bekommen, dafür viele andere Auszeichnungen und Ehrungen wie
       den Prinz-von-Asturien-Preis und den Prix Médicis étranger; er war Ritter
       der französischen Ehrenlegion, hatte zwei Amtszeiten lang den
       stellvertretenden Vorsitz des amerikanischen PEN inne.
       
       ## Hustvedt und Auster: Power Couple des Schreibens
       
       Mit seiner Ehefrau, [1][der Autorin Siri Hustvedt], bildete er ein Power
       Couple des Schreibens, das über ihre Bücher hinaus immer auch die Fantasie
       angeregt hat: Porträts entstanden, Filme wurden über sie gedreht. Dass zwei
       so herausragende Künstler*innen in so enger Lebens- und auch
       Arbeitspartnerschaft standen – und, auch das gehört zum Bild, dabei so
       dermaßen gut aussahen –, gibt es ja nicht allzu oft. 1980 zog er mit
       Hustvedt in den damals noch nicht hippen und intellektuellen Stadtteil
       Brooklyn.
       
       Berühmt wurde Paul Auster mit den drei schmalen Romanen seiner „New York
       Trilogie“. Wer am Ende des letzten Jahrhunderts hierzulande
       Literaturwissenschaft studierte und dabei der sogenannten Postmoderne auf
       den Grund gehen wollte, kam um sie nicht herum.
       
       Diese von Privatdetektiven bevölkerten und vor dem Hintergrund der
       quirligen, tobenden Großstadt spielenden Romane sind faszinierende
       Metaerzählungen, die als Detektivgeschichten durchaus funktionieren, aber
       nicht aufgehen, weil sie gleichzeitig auch die Aufmerksamkeit darauf
       lenken, wie Geschichten erzählt werden und damit Wirklichkeit konstruieren.
       Wechselnde Identitäten, Kriminalfälle, in denen nicht die Aufklärung,
       sondern die Darstellung existenzieller Probleme im Vordergrund steht,
       Figuren, die nach Farben benannt werden – ein Wirbel an Einfällen, genauen
       Dialogen und überraschenden Einwendungen, in den man sich lesend verlieren
       kann.
       
       16 Romane publizierte Paul Auster insgesamt, dazu zahlreiche essayistische
       Arbeiten, Gedichte und Sachbücher. „Mond über Manhattan“, „Die Musik des
       Zufalls“, „Leviathan“, „Mr. Vertigo“ wurden große Erfolge, in Europa sogar
       noch mehr als in den USA. Filme machte er auch. Für „Smoke“ und „Blue in
       the Face“ schrieb er das Drehbuch, bei „Lulu on the Bridge“ führte er
       Regie.
       
       ## Auster nannte Trump „das Monster“
       
       [2][Sein Roman „Sunset Park“] wurde dann 2012 von der Literaturkritik ganz
       zu Recht als Versuch einer Neuerfindung als Autor verstanden. Weniger
       Metaspiele, mehr Realismus. Paul Auster wendete sich hier einer
       realistischen Schreibweise zu und beschrieb ein Amerika, das in die
       Immobilienkrise gerutscht war und viele Familien bis an den Rand der
       Existenz brachte.
       
       Als sein Hauptwerk gilt vor allem der 2017 erschienene Roman „4 3 2 1“. In
       jedem der sieben Kapitel dieses 1.259-Seiten-Schmökers werden
       hintereinander vier verschiedene Versionen von Lebensabschnitten des jungen
       Archie Ferguson ausgebreitet. Sie verlaufen unterschiedlich, weil sich die
       Dinge zufällig ereignen: Mal verarmt seine Familie, mal wird sie
       steinreich, mal stirbt der Vater früh.
       
       [3][Als er das Buch auf einer Lesung in Berlin vorstellte], erzählte
       Auster, dass er den Roman, in dem es auch um die amerikanische
       Bürgerrechtsbewegung der Sechziger geht, noch unter Barack Obama als
       US-Präsidenten begonnen habe, dann mit ihm aber unter Donald Trump
       aufgewacht sei. An seiner Abneigung gegen Trump hat Auster nie einen
       Zweifel gelassen. Zusammen mit Siri Hustvedt rief er öffentlich zum
       Widerstand gegen diesen Präsidenten auf, den er „das Monster“ nannte. Er
       fürchtete um die Demokratie und war bei der Wahl 2020 Mitbegründer einer
       Initiative „Writers against Trump“.
       
       Das klang alles besorgt und alarmiert, war es auch, sollte aber nicht das
       letzte Wort in dem Leben dieses Autors werden. Erst vor einigen Monaten,
       Ende vergangenen Jahres, [4][erschien noch der Roman „Baumgartner“], in dem
       es um letzte Dinge und ernste Themen geht – Altwerden, Abschiednehmen,
       Krankheiten. Ein Buch, das man als doppeltes Vermächtnis verstehen kann –
       als Geschichte über das Sterben und als letzte Hommage an die Wichtigkeit
       des Erzählens.
       
       Im Laufe seiner langen Karriere als Schriftsteller hat Paul Auster dabei
       immer auch ernsthaftere Antworten auf die Frage „Warum schreiben?“ gegeben
       als die Episode mit dem Bleistift; viele von ihnen kursieren jetzt,
       gepostet von Fans in den sozialen Medien. „Der wahre Sinn der Kunst liegt
       nicht darin, schöne Objekte zu schaffen. Es ist vielmehr eine Methode, um
       zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu
       finden“ liest man da etwa.
       
       Am 30. April ist Paul Auster nach einer Krebserkrankung im Alter von 77
       Jahren in New York gestorben.
       
       1 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Essayband-von-Siri-Hustvedt/!5575579
 (DIR) [2] /Sunset-Park-von-Paul-Auster/!5088048
 (DIR) [3] /Paul-Auster-Audienz/!5389913
 (DIR) [4] /Paul-Austers-neuer-Roman-Baumgartner/!5978993
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schriftsteller
 (DIR) Literatur
 (DIR) New York
 (DIR) Siri Hustvedt
 (DIR) Nachruf
 (DIR) Lesestück Interview
 (DIR) Deutsche Einheit
 (DIR) Klassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Influencerin über den Literaturmarkt: „Nein, ich lese Rezensionen“
       
       Sie kauft mehr Bücher, als sie lesen kann – von Berufswegen. Marie
       Völkening ist Literaturagentin in Hamburg und bloggt auf Instagram über
       Bücher.
       
 (DIR) Autorin über Nachwendekinder: „Ich feiere Nie-Wieder-Vereinigung“
       
       Ein Gespräch unter Nachwendekindern über das Trauma der Arbeitslosigkeit,
       gebrochene Nasen und Sekt am dritten Oktober.
       
 (DIR) US-Podcast „Classy“ über Klassismus: Was zum Teufel ist eine Gremolata?
       
       Jonathan Menjivar macht einen Podcast über Klassenangst, der eher
       unpolitisch sein möchte – und hat damit großen Erfolg. Wie ihm das gelungen
       ist.