# taz.de -- 85 Jahre Reichspogromnacht: „Die SA wollte unser Haus anstecken“
       
       > Ilse Polak war elf Jahre alt, als Nazis am 9. November 1938 ihre Schule
       > in Brand steckten. Beinahe wäre auch ihr Elternhaus zerstört worden.
       
 (IMG) Bild: Ilse Polak ging gerne in die jüdische Schule in Papenburg
       
       Als Kind erlebte Ilse Polak in ihrer Heimatstadt Papenburg, wie der
       Antisemitismus alles Leben durchdrang. 1941 wurde sie mit ihrer Familie in
       das [1][Ghetto von Riga] deportiert, später von dort mit ihrer Stiefmutter
       in das [2][KZ Stutthof]. Sie überlebte als eine der wenigen ihrer
       Verwandtschaft. 
       
       Seit 1949 lebt Ilse Polak in New York. Heute, mit 96 Jahren, geht sie immer
       noch montags zum Bingo in ein jüdisches Seniorencenter, wie sie erst diese
       Woche am Telefon erzählte. Aber meist ist sie zu Hause, in ihrer geliebten
       Wohnung an der Upper West Side, eine Hilfe an ihrer Seite. Die Telefonate
       sind inzwischen kurz. Wie es ihr geht? „Ich mach, so gut ich kann“, sagt
       sie jedes Mal. Wie das Wetter ist, ob es schon Lunch gab, ob sie Besuch
       erwartet. Kleine Momente, das Hier, das Jetzt. 
       
       Unsere Autorin traf Ilse Polak erstmals im Jahr 2009. Damals wollte sie
       über das erlebte Grauen nicht sprechen. „Vielleicht später.“ Es entstand
       eine Freundschaft, und mit der Zeit eine neue Entscheidung: „I'm aware of
       it, dass ich nicht alles sagen wollte, anyway, jetzt will ich es. Es muss
       alles raus“, sagte sie 2011. Das Buch mit ihren Erinnerungen erschien zwei
       Jahre später. Daraus stammt der folgende Auszug über den Morgen des 10.
       November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht. 
       
       In Papenburg hatte es lange keine jüdische Schule gegeben. Sie war 1922
       geschlossen worden, weil zu wenig jüdische Kinder da waren. 1937 wurde sie
       wieder eröffnet. Bis dahin waren mein Bruder und ich auf christliche
       Volksschulen gegangen, aber jetzt gingen wir mit den anderen jüdischen
       Kindern in die jüdische Schule. Und diese Schule war ein weiterer
       Lichtblick in meiner Kindheit. Leider existierte sie nicht lange, sie wurde
       1938 zerstört, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, da wurde sie in
       Brand gesteckt. Ich war also nicht lange dort.
       
       Aber meine Zeit in der jüdischen Schule war die Zeit, als die Geschäfte
       Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ in ihre Fenster gestellt
       haben. Die Zeit, in der die SA und die Hitler-Jugend durch Papenburg
       marschierten und Nazi-Lieder sangen. Irgendwas mit „Wenn das Judenblut vom
       Messer spritzt“. Sie sind am Hauptkanal auf und ab marschiert und haben
       ganz laut gesungen, so, dass wir es auf jeden Fall hörten. Und wir hatten
       Nachbarn, die plötzlich anfingen, von ihrem Balkon auf unsere Köpfe zu
       spucken. Unsere Stiefmutter drohte mir außerdem in dieser Zeit immer wieder
       damit, dass ihr Bruder Eugen nur sie allein zu sich nach Amerika holen
       würde. „Und du bleibst hier!“, sagte sie zu mir.
       
       In dieser Zeit also, in der die Anfeindungen von allen Seiten kamen, war es
       schön, jeden Tag in die jüdische Schule gehen zu können. Wenn unser Lehrer
       hereinkam, sind wir aufgestanden und haben gesungen: „Schalom hamore,
       Schalom hamore.“ und er hat geantwortet: „Schalom jeladim, Schalom
       jeladim“. So haben wir uns begrüßt: „Guten Tag, Herr Lehrer, guten Tag,
       Schüler.“ Das war ein sehr netter Lehrer, Benno Hes hieß der.
       
       Mit dieser Schule war es also 1938 vorbei. Und nicht nur die Schule brannte
       am 10. November, auch unsere Synagoge wurde zerstört. Wir waren an dem
       Morgen gerade von zu Hause losgegangen, als wir es erfuhren: Die Schule und
       die Synagoge stehen in Flammen, und in der Friederikenstraße auch einige
       jüdische Häuser. Wir sind gleich wieder nach Hause gegangen. Und dann kam
       die SA auch zu uns an den Deverweg und wollte unser Haus anstecken. Sie
       haben meine Mutter, meinen Bruder und mich rausgeschickt.
       
       Mein Vater war nicht da, er war in diesen Tagen das erste Mal verhaftet
       worden und ins [3][KZ-Lager Oranienburg] gekommen. Unsere Mutter, mein
       Bruder und ich gingen also nach draußen. Da war schon alles voll mit
       Menschen, die gewartet haben, dass unser Haus in die Luft geht.
       Benzinkanister standen bereit. Aber unser Nachbar Wilhelms, der nebenan ein
       Lebensmittelgeschäft hatte, hat sich lautstark aufgeregt: „Wenn Polaks Haus
       in Brand gesteckt wird, geht unser Haus auch in Flammen auf!“
       
       Ich weiß genau, wie ich auf der Wiese hinter dem Haus stand und große Angst
       hatte. Auch dann noch, als nichts passierte und es irgendwann hieß, wir
       könnten wieder reingehen. Ich wollte nicht. Weil ich dachte, wenn ich jetzt
       ins Haus gehe, werde ich getötet. Ich dachte, das Haus würde mit mir drin
       explodieren, wenn ich erst wieder reingegangen wäre. Ich stand auf der
       Wiese und habe geweint.
       
       Erst später, als die vielen Zuschauer langsam wieder weggegangen waren,
       traute ich mich zurück ins Haus. Und als ich sah, dass die Benzinkanister
       nicht mehr da waren, war ich beruhigt. Heute weiß ich von meinem Bruder,
       dass Polizeiwachtmeister Schäfer mit dem Fahrrad vorbeigekommen war und der
       SA einfach verboten hatte, unser Haus anzuzünden. Und sie hörten auf ihn.
       Schade, dass er nicht überall zugleich sein konnte, vielleicht hätte er die
       anderen Feuer auch verhindern können.
       
       Es gab noch andere Menschen, die uns geholfen haben. Der wichtigste war der
       Vater von Angelika Kremer, geborene Heidelberg. Sie ist eine gute Freundin
       von mir. […] Ihr Vater hatte einen Bauernhof, und er hat für uns sein Leben
       riskiert. Er kam immer im Dunkeln durch den Seiteneingang ins Haus und
       brachte uns Milch, Butter und Eier, als wir nirgendwo mehr einkaufen
       durften. Wenn er geschnappt worden wäre, wäre er an den Galgen gekommen.
       
       Nachdem unsere Schule in Papenburg zerstört worden war, sind wir
       vorübergehend nach Leer gefahren, wo es noch eine jüdische Schule gab. Dann
       aber wurde Leer auch „judenrein“ erklärt, und ich bin nach
       Hildesheim-Lappenberg in ein jüdisches Kinderheim gekommen. Mein Bruder kam
       nach Ahlem bei Hannover in die jüdische Gartenbauschule. […] In dem
       Kinderheim war ich bis Ende 1941, bis ich Bescheid kriegte von meiner
       Stiefmutter, dass wir wegkommen ins Ghetto. Das heißt, wir wussten
       natürlich noch nicht, wohin wir kommen würden. Meine Mutter sagte nur: „Wir
       werden abgeholt.“
       
       Ilse Polak: „Meine drei Leben“. Verlag der Buchhandlung Eissing, Papenburg
       2013 (vergriffen)
       
       9 Nov 2023
       
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 (DIR) Anne Diekhoff
       
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