# taz.de -- Nach den Wahlen in Polen: Moment der unverfälschten Freude
       
       > In Polen hat die Opposition die rechtspopulistische PiS besiegt. Das ist
       > ein wichtiger Erfolg im globalen Kampf für die liberale Demokratie.
       
 (IMG) Bild: Jubel bei der polnischen Opposition und bei Donlad Tusk nach der Wahl am 15. Oktober
       
       Beginnen wir mit einem kurzen Ausflug in die politische Ideengeschichte. Im
       Palazzo Publico in Siena [1][kann man Fresken bewundern, die von Ambrogio
       Lorenzetti im 14. Jahrhundert gemalt wurden]. Auf der rechten Seite hat der
       Künstler die Früchte des guten Regierens dargestellt. Hier finden wir
       Personifikationen der Kardinaltugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit und
       Gerechtigkeit.
       
       Aber etwas anderes ist noch viel interessanter. In einer gut regierten
       Stadt gibt es Lebendigkeit und Freude. Hier wird Kleidung hergestellt und
       verkauft, dort werden Schafe gehütet, woanders wiederum baut eine Gruppe
       von Menschen ein Haus. Eine Reihe von Figuren tanzt mitten auf der Straße.
       
       Lorenzettis politische Abhandlung in Gemäldeform ist eine Reflexion über
       kollektive Gefühle – und sie hat auch wichtige Erkenntnisse für unser Hier
       und Jetzt in Polen. Für die Freunde der liberalen Demokratie ist das
       Ergebnis der polnischen Wahl vom Sonntag – das nun bestätigt und offiziell
       bekannt gegeben wurde – ein Grund zur Freude. Die Wahlbeteiligung übertraf
       alle Erwartungen. [2][Mit fast 75 Prozent ist sie sogar höher als 1989,]
       als die Polen über das erste freie Parlament nach dem Kommunismus
       entschieden.
       
       Obwohl die bisher regierende populistische Partei Recht und Gerechtigkeit
       (PiS) mit fast 36 Prozent das beste Ergebnis erzielte, hat die potenzielle
       Koalition der liberaldemokratischen Parteien (Bürgerplattform, Dritter Weg,
       Linke) eine Mehrheit, die es ihr ermöglicht, eine Regierung zu bilden.
       Zusammen kommen sie auf fast 54 Prozent.
       
       ## „Polen ist zurück!“
       
       Schon lange nicht mehr haben die Menschen in unserem Land in den Geschäften
       und in den öffentlichen Verkehrsmitteln gejubelt und Kommentare über den
       Wahlsieg ausgetauscht. Auch Freunde aus dem Ausland schicken uns Kommentare
       voller Freude. „Polen ist zurück!“ – „Ihr habt es wieder geschafft“,
       schreiben sie.
       
       Das ist wichtig. In der demokratischen Praxis gibt es nur wenige Momente
       der unverfälschten Freude. Vielmehr ist der Alltag durchzogen von
       Spannungen, ausfransenden Kompromissen und dem Abwägen von Argumenten und
       Rechten verschiedener Gruppen. Es mangelt nicht an Frustration, die durch
       die charakteristische Langsamkeit des Handelns verursacht wird.
       
       Umso wertvoller ist dieser Moment des Innehaltens und der Zufriedenheit –
       vor dem Alltagstrott der Koalitionsverhandlungen, den unvermeidlichen
       Streitigkeiten, der Ungeduld der Wähler und den Fehden mit den Gegnern.
       
       Dieser Moment des Innehaltens kann auch genutzt werden, um einen etwas
       breiteren Blick auf das zu werfen, was in den kommenden Monaten und Jahren
       vor uns liegt. Polens Wahlen sind von nationaler Bedeutung, aber sie sind
       auch aus europäischer und globaler Perspektive wichtig. Schauen wir uns an,
       was die wichtigsten Punkte sind, über die wir in diesem Zusammenhang
       nachdenken sollten.
       
       ## Durch die Linse der PiS
       
       Erstens, um den oben bereits erwähnten Satz zu verwenden: „Polen ist
       zurück“ … aber das stimmt so nicht ganz. Ja, eine Opposition, die ihr
       Engagement für liberal-demokratische Werte betont, hat die Wahlen in Polen
       gewonnen. Die Chancen stehen gut, dass in den nächsten Jahren die
       Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt wird, insbesondere die Unabhängigkeit
       der Justiz und die Gewaltenteilung.
       
       Andererseits wird Polen entgegen der landläufigen Meinung, vor allem
       außerhalb des Landes, nicht einfach dorthin zurückkehren, wo es vor 2015
       stand.
       
       Was bedeutet das? Fast ein Jahrzehnt lang wurde Polen von außen durch die
       Linse der PiS betrachtet. Was in dem Land geschah, vor allem wenn es gegen
       den europäischen Mainstream ging, wurde oft als Folge des Charakters der
       PiS als antieuropäische und populistische Partei interpretiert. So wurde
       zum Beispiel die allgemeine Stimmung in Polen gegenüber Deutschland
       gedeutet. Die kritische Einschätzung dieses Landes wurde auf die von der
       PiS verbreitete antideutsche Propaganda zurückgeführt.
       
       Bei einigen Forderungen, zum Beispiel in Bezug auf die Reparationen für
       den Zweiten Weltkrieg, wurde darauf gewartet, dass die PiS-Regierung die
       Wahlen verliert, in dem Glauben, dass die Forderungen sich nach den Wahlen
       einfach in Luft auflösen würden. Das muss aber gar nicht der Fall sein.
       Tatsächlich gab es in Polen zwei parallele Prozesse des Nachdenkens über
       Deutschland.
       
       ## Polen will nicht mehr Juniorpartner sein
       
       Der erste wurde in der Tat [3][durch antideutsche Propaganda angetrieben],
       die von den nationalen Medien verbreitetet wurde. Der zweite, parallel
       verlaufende Prozess war und ist jedoch mit dem harten Urteil über die
       tiefgreifenden Fehler verbunden, die Deutschland mit Wladimir Putins
       Russland gemacht hat. Und mit dem deutschen Ignorieren der Bedrohung, die
       Russland für die kleinen Länder in Ost- und Mitteleuropa darstellt.
       
       Gleichzeitig will Polen, wie auch andere Länder in der Region, nach mehr
       als 30 Jahren des demokratischen Übergangs nicht länger die Rolle des
       Juniorpartners spielen. Daher könnten Themen wie Reparationen,
       Geschichtspolitik und Ostpolitik von einer möglichen neuen Regierung ganz
       anders und weniger nachsichtig gestaltet werden als noch vor 10 Jahren.
       
       Zweitens: In Polen wird derzeit tatsächlich Geschichte geschrieben. Aber
       dies ist nicht nur die Geschichte der Dritten Republik, wie die Polen ihren
       Staat nach dem Fall des Kommunismus 1989 nennen. Und es ist auch nicht nur
       die Geschichte der polnischen Demokratie. Es ist auch die Geschichte des
       globalen Kampfs zwischen liberaler Demokratie und nationalem Populismus.
       
       Bisher hatte es den Anschein, als würde Polen das von Viktor Orbán
       entworfene Szenario einfach wiederholen. Jetzt scheint es jedoch so, dass
       die Dinge ganz anders liegen. Die nächsten Jahre werden zeigen, welchen Weg
       Polen eher einschlagen wird.
       
       ## Verschiedene Wege
       
       Es könnte ein Weg sein, den wir als dänisch bezeichnen könnten. Polen würde
       dann eine populistische Agenda bis zu einem gewissen Grad in eine
       zentristische Politik und den Rechtsstaat integrieren. Das geschieht zum
       Beispiel in Dänemark, [4][wo die sozialdemokratische Ministerpräsidentin
       Mette Frederiksen die von den Populisten vorgeschlagene harte
       Migrationspolitik weitgehend übernommen hat.]
       
       Ein anderer möglicher Weg ist der venezolanische. Das würde bedeuten, dass
       Polen nach einer relativ kurzen Regierungszeit der Liberaldemokraten von
       der PiS-Partei in eine weitere lange populistische Ära gestürzt würde.
       
       Ein weiterer möglicher Weg wird von den USA vorgegeben – zumindest
       potenziell, denn wir wissen noch nicht, wie die Präsidentschaftswahlen 2024
       in diesem Land ausgehen werden. In diesem Fall wird Polen alle ein bis zwei
       Wahlperioden [5][entweder von liberalen Demokraten oder von
       Nationalpopulisten übernommen]. Es stellt sich die Frage, ob Demokratie
       möglich sein wird, wenn das politische System nach jedem Sieg der
       jeweiligen Seite umgestaltet wird.
       
       Eng damit verbunden ist die Frage, wie es mit einer national-populistischen
       Partei wie der PiS weitergehen wird. Zugegeben, sie ist eine Partei, die
       eng mit der Person von Jarosław Kaczyński verbunden ist. Man kann sich
       jedoch vorstellen, dass die PiS im Falle seines Abgangs zu einer festen
       Größe in der polnischen politischen Landschaft werden würde.
       
       Vielleicht kommt es dann zu einer weiteren antiliberalen Radikalisierung
       dieser Gruppierung – oder, im Gegenteil, zu einer Aufweichung und einer
       Einbindung in den liberal-demokratischen Konsens.
       
       So oder so, unabhängig von der von der Opposition errungenen Mehrheit ist
       die Herausforderung durch die populistische Gruppierung in der Politik
       keineswegs geringer geworden. In Polen herrscht eine Atmosphäre, als ginge
       die Rivalität zwischen Donald Tusk und Jarosław Kaczyński auf Leben und
       Tod. Es wird davon ausgegangen, dass derjenige, der gewinnt, die Bewertung
       der Leistungen der Dritten Republik prägen wird. Das begünstigt das
       Fortbestehen einer starken Polarisierung.
       
       Auf dem Fresko von Ambrozio Lorenzetti aus dem 14. Jahrhundert tanzen
       einige der Figuren fröhlich, aber der aufmerksame Betrachter wird schnell
       bemerken, dass dies etwas abseits stattfindet. Die Figuren in der Mitte
       schauen den Betrachter mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. Vielleicht
       entsteht wahre Demokratie genau an der Schnittstelle dieser beiden
       Emotionen.
       
       22 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Ambrogio_Lorenzetti#Freskenzyklus_in_der_Sala_dei_Nove_des_Palazzo_Pubblico_von_Siena
 (DIR) [2] /Wahlausgang-in-Polen/!5963726
 (DIR) [3] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-wahlkampf-anti-deutsch-100.html
 (DIR) [4] /Neue-Regierungskoalition-in-Daenemark/!5902755
 (DIR) [5] /US-Repraesentantenhaus-sucht-Sprecher/!5967550
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jaroslaw Kuisz
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