# taz.de -- Nach Messerattacke bei Brokstedt: Kameras schrecken niemanden ab
       
       > Nach dem Messerangriff im Regionalzug bei Brokstedt wird mehr
       > Kameraüberwachung gefordert. Dass die kaum Straftaten verhindert, ist
       > lange bekannt.
       
 (IMG) Bild: Alles im Blick: Videoüberwachung am Hamburger Hauptbahnhof
       
       Hamburg taz | Von der Tat gibt es keine Bilder. Nachdem vor zwei Wochen
       mutmaßlich der kurz zuvor aus der Untersuchungshaft entlassene Ibrahim A.
       im Regionalzug von Kiel nach Hamburg bei Brokstedt zwei Menschen mit einem
       Messer getötet und fünf weitere verletzt hatte, kursierte ein Video in den
       sozialen Medien, das angeblich im Zusammenhang mit der Tat steht. Es
       [1][entpuppte sich als Fake].
       
       Auch Bilder einer Überwachungskamera gibt es nicht, der eingesetzte Zug war
       [2][ein Ersatzzug, in dem keine Kameras installiert waren]. Aber hätte es
       etwas geändert, wenn es dort welche gegeben hätte?
       
       Ein paar Tage nach der Tat forderte der Fahrgastverband Pro Bahn mehr
       Sicherheitsmaßnahmen in Zügen und Bahnhöfen. „Wir fordern einen
       flächendeckenden Ausbau der Videoüberwachung in allen Waggons“, [3][sagte
       Karl-Peter Naumann von Pro Bahn] den Lübecker Nachrichten (LN). Sie könne
       Kriminalität womöglich nicht immer verhindern, helfe aber „in jedem Fall,
       die Täter zu fassen. Und das ist insbesondere für die Opfer von hoher
       Bedeutung.“
       
       [4][Auch Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack] (CDU)
       sprach sich eine Woche nach der Tat unter anderem für mehr Videoüberwachung
       in Zügen und Bahnhöfen aus. „Unser Ziel ist es, vergleichbare Angriffe so
       weit wie möglich zu verhindern“, sagte sie, auch wenn sich solche Taten
       durch keine Sicherheitsmaßnahmen ausschließen ließen.
       
       ## Die Bahn rüstet schon auf
       
       Die [5][Deutsche Bahn rüstet längst auf] und will die Zahl der Videokameras
       an Bahnhöfen in den kommenden Jahren auf rund 11.000 erhöhen. Anlass für
       das Maßnahmenpaket waren Tötungsdelikte 2019 [6][im Frankfurter
       Hauptbahnhof] und im Bahnhof Voerde, bei denen die Täter ein Kind und eine
       Frau vor einfahrende Züge gestoßen hatten. 180 Millionen Euro sollen
       investiert werden, die Bahn übernimmt 40 Millionen, den Rest trägt der
       Bund.
       
       Dabei lassen Studien zur Videoüberwachung schon lange Zweifel an deren
       Wirksamkeit aufkommen und [7][neue Erkenntnisse oder Methoden] gibt es seit
       einigen Jahren nicht mehr, trotz der rapiden Zunahme von Kameraüberwachung
       nimmt das Forschungsinteresse deutlich ab.
       
       2016 hat der Kriminologe Thomas Feltes [8][in einer Stellungnahme] für den
       nordrhein-westfälischen Landtag zur Einführung des neuen Polizeigesetzes
       den Forschungsstand zur Wirksamkeit von Videoüberwachung zusammengefasst.
       Drei Ebenen lassen sich Feltes zufolge dabei unterscheiden: die subjektive
       Wirksamkeit, also eine Erhöhung des Sicherheitsgefühls, die objektive
       Sicherheit, also die Abschreckung potenzieller Täter:innen, und die
       Verbesserung der Strafverfolgung durch die Überführung von Täter:innen.
       
       Feltes’ Fazit: Obwohl die Videoüberwachung in der Bevölkerung breite
       Zustimmung erhalte, lasse sich das subjektive Sicherheitsempfinden durch
       sie nur möglicherweise und vorübergehend erhöhen, etwa durch deren mediale
       Vermarktung. Es könne aber ebenso schnell wieder abnehmen, wenn klar werde,
       dass sie unwirksam sei.
       
       ## Studien hinterfragen die Wirksamkeit
       
       Eine abschreckende Wirkung, die Kriminalität reduziert, lasse sich nur sehr
       bedingt, nämlich bei Eigentumsdelikten vor allem in Parkhäusern nachweisen
       – wenn dort auch die Beleuchtung verbessert werde. Ansonsten hätten Studien
       keine signifikanten Unterschiede feststellen können. Insbesondere
       „Gewaltverbrechen und spontan begangene Straftaten können Kameras nicht
       verhindern“, so Feltes.
       
       Auch in Bezug auf die Wirksamkeit von Videoüberwachung für die Aufklärung
       von Straftaten zeichnen Studien ein nüchternes Bild: Zwar erleichtern
       Kameraaufnahmen im Einzelfall, Tatverdächtige zu überführen, diese müssen
       aber dennoch ermittelt werden, bei Unbekannten gelingt das nur in
       Ausnahmefällen.
       
       Auch beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat das
       Innenministerium in Düsseldorf 2018 [9][eine Studie in Auftrag gegeben].
       Das KFN untersuchte Videoüberwachung in sieben Städten und fand heraus:
       „Die Videobeobachtung hat nur in einer Stadt zu einer nennenswerten
       Reduktion des Kriminalitätsaufkommens beigetragen. Der beobachtete Effekt
       fiel darüber hinaus sehr schwach aus.“
       
       In Dortmund sei die Straßenkriminalität im überwachten Raum außerdem
       angestiegen. Auch das KFN kommt zum Schluss, dass Gewaltdelikte, die im
       Affekt und ohne vorherige Risiko-Nutzen-Abwägung der Täter:innen
       stattfinden, durch Kameraüberwachung nicht verhindert werden können.
       
       Zweifel sind auch angebracht, ob künftig intelligente Videotechnik
       wirksamer sein kann. Am Berliner Bahnhof Südkreuz erprobt die Bahn seit dem
       vergangenen Jahr im [10][Projekt „Sicherheitsbahnhof“] den Einsatz
       sogenannter Verhaltensscanner, die mithilfe von Mustererkennung und
       Videotracking [11][gefährliche Situationen erkennen] sollen. Das Projekt
       soll langfristig wissenschaftlich begleitet werden.
       
       Die grundsätzlichen Probleme der Kameraüberwachung – etwa die nicht
       intendierten sozialen Folgen wie die Diskriminierung und Exklusion sozialer
       Gruppen – wird der Einsatz von künstlicher Intelligenz wohl eher
       verschärfen. Sicher ist nur eins: Mehr Überwachungstechnik führt zu mehr
       Überwachung.
       
       8 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.kn-online.de/schleswig-holstein/messerattacke-in-brokstedt-video-im-netz-hat-keinen-zusammenhang-zur-tat-MLBAFAQMBVBFHCPII4PHYYIS6M.html
 (DIR) [2] https://www.kn-online.de/schleswig-holstein/nach-messerattacke-in-brokstedt-ruf-nach-mehr-personal-und-videotechnik-IKSSBDBWUVGXHCFHKMTHUDHTWI.html
 (DIR) [3] https://www.ln-online.de/der-norden/brokstedt-fahrgastverband-und-gdl-fordern-mehr-sicherheit-in-zuegen-HSMX4HWZRJDBHKXO23CQBGZL4E.html
 (DIR) [4] https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Nach-Brokstedt-Suetterlin-Waack-fordert-mehr-Videoueberwachung-in-Zuegen,videoueberwachung230.html
 (DIR) [5] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/12/sicherheit-bahnhoefe.html
 (DIR) [6] /Angriff-am-Hauptbahnhof-in-Frankfurt/!5613834
 (DIR) [7] https://www.kriminologie.de/index.php/krimoj/article/view/211/142
 (DIR) [8] https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST16-4218.pdf;jsessionid=8F10F85C898BDF162ADA11384829C9E4
 (DIR) [9] https://kfn.de/wp-content/uploads/Forschungsberichte/FB_143.pdf
 (DIR) [10] https://netzpolitik.org/2020/bahnhof-berlin-suedkreuz-seehofer-will-wieder-mit-videoueberwachung-experimentieren/
 (DIR) [11] https://netzpolitik.org/2019/ueberwachung-am-suedkreuz-soll-jetzt-situationen-und-verhalten-scannen/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Matthies
       
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