# taz.de -- Clubszene in der Ukraine: Ein Grollen, ein Brodeln
       
       > Das Berliner CTM-Festival widmet der ukrainischen Club- und
       > Elektronikszene einen Abend. Dort geht es um den Kriegsalltag zwischen
       > Heimatland und Exil.
       
 (IMG) Bild: Nazanin Noori mit ihrem Set beim CTM Festival in Berlin, Visuals von Diana Azzuz im Hintergrund
       
       Die Nacht auf dem Dancefloor durchtanzen, um am nächsten Morgen in einer
       neuen Kriegsrealität zu erwachen: So erging es vielen Akteur:innen der
       elektronischen Musikszene in der Ukraine am 24. Februar 2022. Der hipste
       Club des Landes, [1][das „∄“ (oder „K41“) in] Kyjiw, richtete [2][einen
       Spendenfonds für humanitäre und militärische Güter ein], die
       Mitarbeiter:innen gingen zur Armee oder ins Exil, viele von ihnen nach
       Berlin.
       
       Das an den Club angegliederte Label Standard Deviation veröffentlichte
       Kompilationen in Kooperation mit internationalen Star-Acts wie DJ Stingray
       und Wolfgang Tillmans, um Geld zu sammeln ([3][zuletzt „From Ukraine, For
       Ukraine“ im Dezember 2022]). Andere schlossen sich den ukrainischen
       Streitkräften an, etwa der DJ und Produzent [4][Panghoud (Mark Panghoud)]
       aus Charkiw. Zwischendurch komponiert er in den Kriegswirren tatsächlich
       noch elektronische Tracks.
       
       Im Berliner Hebbel am Ufer 2 (HAU 2) wird am Dienstagabend im Rahmen
       [5][des Avantgarde-Festivals CTM] die Videoserie „Рідне“ („Ridne“) gezeigt,
       in der Musiker:innen den Kriegsalltag dokumentieren. Auch Mark Panghoud
       steuert ein Video bei, in dem er Straßenszenen aus Charkiw am 322. Tag des
       Krieges aufnimmt. Unscharfe Bilder von Menschen an einer U-Bahn-Station
       sind zu sehen, ein Akkordeonspieler, ein Weihnachtsmarkt.
       
       Auf der Tonspur hört man computerbasierte Drums, die wie
       Maschinengewehrsalven klingen, einen lauten, brodelnden Bass, der sich
       anhört, als explodiere etwas. Den Soundtrack hat Panghoud selbst
       eingespielt, via Untertitel erfährt man: „Am 27. Februar 2022 schloss ich
       mich den Streitkräften an. In den vergangenen elf Monaten war ich ganze 40
       Stunden in Charkiw. […] Ich vermisse meine Stadt.“
       
       ## Rauheit des Schwarzen Meeres bei Odessa
       
       Die Videoserie ist nach dem ukrainischen Wort für „einheimisch“ („Рідне“,
       „Ridne“) benannt. Weitere bekannte Produzent:innen der ukrainischen
       Szene filmen darin Alltagsszenen während des Kriegs: [6][Die Kyjiwer
       Künstlerin Diana Azzuz] zeigt Bilder aus Hrebenne von der
       polnisch-ukrainischen Grenze, die zu einem Wartezimmer für Flüchtende
       geworden ist, [7][Undo Despot aus Odessa] fängt die Schönheit und Rauheit
       des Schwarzen Meers in ihrer Heimatstadt filmisch ein. Bei den Aufnahmen
       des Künstlers mit dem Namen bsw sind die verlassenen Straßen und zerstörten
       Gebäude von Mykolajiw zu sehen, und [8][DJ und Produzent tofudj]
       dokumentiert Straßenszenen am Stadtrand von Kyjiw.
       
       Die elektronischen Szenen Berlins und Kyjiws sind eng verwoben, auch wegen
       der persönlichen Verbindungen ist der Krieg in der Ukraine dem CTM Festival
       ein besonderes Anliegen. Mitkuratiert wurde der Ukraine-Abend von Mariana
       Berezovska, [9][Gründerin des Borshch-Magazins für elektronische Musik,]
       beteiligt ist auch das Label Standard Deviation. Partnerorganisation ist
       das [10][Goethe-Institut im Exil].
       
       Der Abend vermittelt sehr gut, wie die ukrainischen Künstler:innen
       zwischen den Welten wandeln, zwischen Heimatland und Exil, zwischen Angst
       und Alltagsroutine, in permanenter Gefahr schwebend. Im
       „Ridne“-Videoprogramm ist vielleicht das Video von Undo Despot am
       eindrücklichsten: Sie zeigt schlicht das stürmische Meer in Odessa, Wellen
       schlagen auf Felsen und hinterlassen Schaumränder am gottverlassenen
       Strand, man sieht nur Möwen, eine verwaiste Aussichtsplattform. Verlassen
       wirken die meisten Landstriche, die in den Filmen vorkommen; es ist ein von
       Angst dominierter, ein deprimierender Alltag, der die Menschen verkümmern
       lässt.
       
       Diese Gefühle in Sounds zu übersetzen, [11][bleibt Katarina Gryvul im
       zweiten, audiovisuellen Teil des Abends überlassen], der nach einem Gedicht
       der ukrainischen Lyrikerin Lina Kostenko („Рибачка“, „Die Frau des
       Fischers“) benannt ist und sich um den Zustand des Wartens, des Verharrens,
       des Vor-sich-hin-Existierens dreht. Gryvul gehört zu den bekannteren
       Figuren der Musikszene der Ukraine, sie ist Geigerin und Komponistin,
       stammt aus Lwiw und lebt in Graz. Auf der Bühne im HAU2 ist sie zunächst
       kaum zu erkennen, alles ist dunkel, man sieht ihre Silhouette hinter einem
       Laptop und ein paar Gerätschaften.
       
       Ihr Set beginnt mit einem Hyperventilieren, Gryvul hechelt, singt schrille
       Geräusche ins Mikrofon, rote Lichter blinken, man hört ein Grollen, ein
       Donnern, ein Brodeln. In dem Stück verarbeitet sie eigene Panikattacken,
       unter denen sie seit Beginn des russischen Angriffskriegs leidet, das Video
       dazu zeigt abstrakte, kosmische Bilder in Schwarz-Weiß. Im zweiten Teil
       ihres Sets geht Gryvul dann zu tanzbarer Musik und zu harmonischen
       (Opern-)Gesängen über, da ist der Bruch zu groß, das Ganze wirkt wenig
       einheitlich.
       
       ## Wunden fressen sich in Gesichtshaut
       
       Den Abschluss machen die syrisch-ukrainische Künstlerin Diana Azzuz und die
       iranische Nazanin Noori mit einem Set, das zu den beeindruckendsten
       Arbeiten des Abends zählt. Im Breitwandformat sind Makroaufnahmen
       menschlicher Augen zu sehen, sie wechseln sich ab mit ineinander fließenden
       Collagen, dazwischen werden menschliche Körper alienmäßig verfremdet,
       Wunden fressen sich in Gesichtshaut.
       
       Mindestens so gewaltig wie die Bilder kommen auch die Töne Nazanin Nooris
       rüber: dunkle, wummernde Industrial-Beats hallen durch das HAU 2, Sirenen-
       und Alarmgeräusche mischen sich dazwischen. Wie sich der Krieg anfühlt, wie
       er einem den Boden unter den Füßen wegzieht, das kann man drei Stunden lang
       nacherleben – mit dem Privileg, diese Zustände bloß künstlerisch vermittelt
       zu bekommen.
       
       2 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Nachtleben-in-der-Ukraine/!5805740
 (DIR) [2] https://k41community.fund/
 (DIR) [3] https://standard-deviation.bandcamp.com/album/from-ukraine-for-ukraine
 (DIR) [4] https://soundcloud.com/panghoud
 (DIR) [5] /Kurator-ueber-Musikfestival-CTM-in-Berlin/!5911526
 (DIR) [6] https://soundcloud.com/dianaazzuz
 (DIR) [7] https://systemnapotvora.bandcamp.com/album/sore
 (DIR) [8] https://soundcloud.com/tofudj
 (DIR) [9] https://borshchmagazine.com/
 (DIR) [10] https://www.goethe.de/prj/gex/de/index.html
 (DIR) [11] https://katarinagryvul.bandcamp.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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