# taz.de -- Besinnliches zum Jahreswechsel: Bis einer heult
       
       > Die Weltlage könnte besser sein, die allgemeine Stimmung auch. Unser
       > Kolumnist wünscht trotzdem „Frohes Fest“, wenn auch mit geballten
       > Fäusten.
       
 (IMG) Bild: Irgendwann ist dann auch egal, ob die Flasche nun halb voll oder halb leer ist
       
       Ich habe viele Leute weinen sehen in den letzten Tagen. Allein fünf beim
       Weihnachtskonzert des Grundschulchors, obwohl es da schon dämmerte und die
       Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. Die Kinder singen etwas schief,
       aber sehr schön, und das rührt einen ja irgendwie auch an. Ein paar dieser
       Singzwerge kommen aus der Ukraine und sind wohl ganz gut angekommen in den
       Klassen – und eben auch im Chor. Ihre Mütter stehen als Grüppchen etwas am
       Rand. Sie weinen nicht und filmen auch etwas weniger als die Eingeborenen,
       was mich beides wundert, aber streng genommen auch nichts angeht.
       
       Was mich hingegen sehr wohl betraf, war der Junkie zwei Tage vorher, der so
       plötzlich von null auf hundert losheulte, weil ich ihm kein Geld zustecken
       wollte. Und auch nicht konnte, weil ich mein Portemonnaie versehentlich mit
       meinen anderen Lumpen im Bahnhofsschließfach deponiert hatte.
       
       Eine leichte Mitschuld hatte ich auch an den zwei oder drei Tränen einer
       Freundin, weil ich „ja“ gesagt hab, als sie fragte, ob mein Vater nicht
       irgendwann dieser Tage Geburtstag gehabt hätte.
       
       ## Die Welt ist schlecht
       
       Es ist furchtbar, wie beschissen es allen geht. Gleich drei Freunde haben
       mir in den letzten Wochen erzählt, sie hätten kürzlich zum ersten Mal in
       Teamsitzungen oder am Rande von Dienstbesprechungen geheult.
       
       Ich selbst bin den Dezember bislang noch trocken geblieben – wobei ich ein
       paar Mal auch schnell in Deckung gehen musste. Bei dem Junkie zum Beispiel
       hab ich mich schnell rüber ins Analytische gehechtet: Weil, wegen
       Kapitalismus heult man schließlich nicht; da ist man ganz tief drinnen
       kritisch und an der Oberfläche eher so konstruktiv wütend. Und in einer
       Kunstausstellung bin ich einer Arbeit über „stille Geburten“ gleich
       ausgewichen.
       
       Apropos Kunst: Die [1][werkgruppe2] hat vor einer Weile mal eine Serie von
       Onlinevideos produziert, in denen Schauspieler:innen über Tränen auf
       der Bühne sprechen und manche auch welche vorweinen. Die ist wunderschön,
       und es steckt auch alles Wichtige viel klüger und schöner drin, als ich es
       eigentlich gerade aufschreiben wollte.
       
       Ich hoffe, Sie haben schöne Weihnachten. Wirklich! Bei mir stehen die
       Chancen ganz gut. Der Baum ist schon da, die Kindergeschenke sind super,
       und auf energischen Wunsch hin werden wir wohl „Star Wars“ gucken, Episode
       IV natürlich, auch wenn der bereits im Kindergarten durchgespoilerte Sohn
       lieber chronologisch einsteigen würde. Das kann er aber vergessen, weil es
       schließlich auch mein Weihnachten und die Weltlage wie gesagt schon finster
       genug ist, um sich auch noch mit [2][Franchise- und Prequelscheiße] zu
       belasten.
       
       ## Lieber wütend als traurig
       
       Sie haben’s bestimmt gemerkt: Auch das ist wieder so ein taktischer Rückzug
       von der emotionalen auf die Reflexionsebene. Aber wenn’s halt hilft …
       
       Und wenn wirklich irgendwas besser werden soll im neuen Jahr, kommen wir
       wohl alle nicht drumrum, ein bisschen konstruktiv-wütend zu werden, statt
       immer nur traurig. Ein Anfang wäre zum Beispiel, vorerst wenigstens nicht
       mehr auf der Arbeit zu weinen. Schon gar nicht vor Glück, weil man den
       läppischen Inflationsausgleich ab Januar mit einem großherzigen
       Weihnachtsgeschenk verwechselt hat, oder so.
       
       Das wäre jedenfalls mein Weihnachtswunsch für jede:n und alle: stabil
       geballte Fäuste für die Gehaltsverhandlungen, auf dem Amt, beim Schachern
       um Honorare – oder wo auch immer die Kohle herkommt. Und dann kann man’s
       sich ja gern auch gemütlich machen und vielleicht ein bisschen traurig
       sein, über Sachen, die ein paar Tränen auch wirklich wert sind. Frohe
       Weihnachten!
       
       23 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.werkgruppe2.de/
 (DIR) [2] /Spoiler-fuer-den-neuen-Star-Wars-Film/!5257264
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan-Paul Koopmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
 (DIR) Kolumne Speckgürtelpunks
 (DIR) Weihnachten
 (DIR) Trauer
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
 (DIR) Volkswirtschaft
 (DIR) Kolumne Speckgürtelpunks
 (DIR) Schauspiel
 (DIR) Weihnachten
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Weinen in der Öffentlichkeit: Sorry, ich bin kurz im Breakdown-Modus
       
       Klar kann man anderen mit den eigenen Sorgen auf die Nerven gehen. Aber
       macht der Anspruch, alles allein zu regeln, die Sache nicht noch schlimmer?
       
 (DIR) Antizyklische Wirtschaftswissenschaften: Hart am Wind gilt Lee vor Luv
       
       Wirtschaftswissenschaftler sind stolz auf ihr antizyklisches Ding. Doch auf
       dem Land ist das überhaupt nichts Neues.
       
 (DIR) Brauchtum in Seuchenzeiten: Zombies vor dem Tor
       
       Quarantäne wird nicht einfacher, wenn die Außenwelt zum Spuken vorbei
       kommt. Bleibt nur, die eingeübte Isolation auf die Spitze zu treiben.
       
 (DIR) Videoserie über das Weinen auf der Bühne: Tränen, die lügen
       
       Das Theaterkollektiv Werkgruppe2 hat 25 Schauspieler:innen übers Weinen
       ausgefragt – und sie auch gleich um ein paar Tränen gebeten.
       
 (DIR) Eine bemerkenswerte Frau: Eine richtige Weihnachtsgeschichte
       
       Der Weihnachtsapfel kann nur ein wirklich perfekter Apfel sein und ihn zu
       suchen, macht viel Mühe. Aber vielleicht ist noch wichtiger, mal drüber
       gesprochen zu haben.