# taz.de -- Wald als Industriegebiet: Mehr Wald klingt besser, als es ist
       
       > Statistisch wächst Niedersachsens Waldfläche seit Jahren. Aber die
       > Qualität in puncto Klimaschutz und Naherholung sinkt ständig.
       
 (IMG) Bild: Nach dem Sturm geben tonnenschwere Harvester dem Wald den Rest, wie hier in Oechtringen bei Lüneburg
       
       Gute Nachrichten? Es gibt sie kaum mehr, dieser Tage. Krisen überall,
       regional wie weltweit. Wenn dann doch mal was Positives zu hören ist, ist
       das wie Balsam für die Seele. So wie die Pressemitteilung Nr. 123/22 des
       Landesamts für Statistik Niedersachsen vom gestrigen Dienstag. Darin ist
       auch vom Wald die Rede: Rund 83 Prozent der Bodenfläche Niedersachsens sei
       Ende 2021 „in irgendeiner Form von Vegetation bedeckt“ gewesen, lernen wir;
       21,6 Prozent davon war Wald. Und dann kommt sie, die gute Nachricht: Im
       Vergleich zu 2020 habe sich die Waldfläche um 524 Hektar vergrößert, seit
       2018 um rund 2.000 Hektar.
       
       Perfekt, oder? Der Wald, ein Sehnsuchtsort, ein Resonanzraum des Ich, eine
       Quelle der Kraft und des Wohlbefindens, wächst. Wunderbar.
       
       Nur: Statistiken sind reine Zahlen. Wer draußen in Niedersachsens Wäldern
       unterwegs ist, sieht auf den ersten Blick: Die Sache hat einen Haken.
       Kahlschlag reiht sich an Kahlschlag, wegen der Dürre, [1][wegen des
       Borkenkäfers]. Kaum noch Biomasse steht hier, und das Nachgepflanzte
       braucht Jahrzehnte, um Ersatz zu schaffen. Breite Schneisen ziehen sich
       durchs Gehölz, dicht an dicht, für riesige Holzerntemaschinen, deren Reifen
       und Ketten den Boden zerwühlen und verdichten. Forststraßen, ausgebaut für
       Sattelzüge, machen den Wald zum Industriegebiet.
       
       Ja, rein rechnerisch mag der Wald an Fläche wachsen. Aber die Frage ist:
       Welche Qualität hat er? Und: Welche Qualität hat er für wen?
       
       ## Das Profitinteresse dominiert
       
       Paragraph 1 des Bundeswaldgesetzes definiert für den Wald drei Funktionen:
       Wirtschaftlicher Nutzen für seinen Besitzer, Erholung für die Bevölkerung
       sowie der Schutz für Natur und Umwelt. Aber in Zeiten kollektiven
       Fröstelns, in denen [2][Brennholz mit Gold aufgewogen] wird, dominiert im
       Wald das Profitinteresse. Auch [3][Bauholz ist teuer].
       
       Wer dort spazieren geht, wo es gelebt hat, hat es meist schwer, noch einen
       Resonanzraum für sein Ich zu finden, eine Quelle der Kraft und des
       Wohlbefindens. Idyllen voller Libellen und Zitronenfalter? Sorgsam gehegte
       Biotopbäume? Schutz und Erholung? Schön wärs! Bringt nichts ein, kostet
       nur. Der Wald ist in weiten Teilen ein reiner Wirtschaftsraum, wo man weder
       Vögel rufen, Bäche murmeln noch Blätter rauschen hören kann, sondern nur
       schwere Sägen.
       
       Darunter leidet der Wald. Nichtheimische Pflanzen und Tiere machen ihm zu
       schaffen, die Klimakrise durch ihre Stürme ebenso, und wenn ein viele
       Tonnen schwerer Harvester die Wurzeln eines Baums aufreißt, der mit dem
       Fällen noch gar nicht dran ist, bleibt das nicht folgenlos. Zurück bleiben
       Schlachtfelder, nominell noch Wald.
       
       Klar, oft sind Einschläge aus der Not geboren, wenn die Fichten mausetot
       sind. Und der Waldumbau zum Ökologischeren macht Fortschritte. Aber
       Entwarnung gibt Pressemitteilung 123/22 nicht.
       
       Bäume, soll der Philosoph Jean-Jacques Rousseau gesagt haben, seien „der
       Schmuck und das Gewand der Erde“. Eine Statistik darüber, in wie vielen
       Harvester-Windschutzscheiben dieses Zitat klebt, als Selbstverständnis des
       Waldarbeiters, gibt es nicht. Vermutlich: in keiner.
       
       31 Oct 2022
       
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