# taz.de -- Nachruf auf Filmemacher Jean-Luc Godard: Das aktivste Gespenst des Kinos
       
       > Bei dem französisch-schweizerischen Ausnahmeregisseur Jean-Luc Godard war
       > alles Analyse und Synthese zugleich. Nun ist er 91-jährig verstorben.
       
 (IMG) Bild: Frankie Dymon spricht mit Jean-Luc Godard bei den Dreharbeiten zu „One plus One“ in London 1968
       
       JEAN-LUC CINÉMA GODARD: So steht es am Ende seines Films „Außenseiterbande“
       von 1964 in Großbuchstaben geschrieben. Das war halb ernst, halb ironisch,
       ganz spielerisch, wie so viel bei Godard (so konkurriert die Schrift im
       Bild mit dem Schriftzug „Pernod“ auf einem Laster, der Witz ist gewollt).
       Und nein, Jean-Luc Godard war nicht das Kino, aber es lässt sich keine
       Geschichte des Kinos vorstellen, in der ihm nicht eine zentrale Stelle
       gebührte.
       
       In den Rankings der bedeutendsten Filme aller Zeiten landet keines seiner
       sehr vielen Werke je ganz oben, zwei allerdings ragen heraus, wenn es um
       Popularität geht: Gleich das Langfilm-Debüt, „Außer Atem“ von 1959, hat,
       ganz buchstäblich, Epoche gemacht.
       
       Hier war ein revolutionärer Film, der aus dem Regelbruch etwas sofort
       selbst Klassisches formte, und er war ungemein populär, machte [1][Jean
       Seberg] und [2][Jean-Paul Belmondo] zu Stars, ja zu Ikonen.
       
       Eigentlich eine triviale Gangster- und Liebesgeschichte, Ausgang tragisch,
       aber Godard hatte sie wie keiner vor ihm erzählt. Auf der Straße gedreht,
       spontan, schnell, mit Jump Cuts montiert, ein Film, der aus Zitaten des
       Hollywood-Kinos besteht, die berühmte Bewegung, mit der Belmondo sich à la
       Bogart mit dem Daumen die Unterlippe entlangfährt, aber Godard macht etwas
       ganz anderes daraus als das, was zitiert wird.
       
       ## Der Beginn der Nouvelle Vague
       
       All das, diese Ästhetik, kam aus einem Milieu von Freunden, die ähnlich
       dachten, die dieselben Filme an denselben Orten gesehen hatten, die
       Hollywood viel mehr verehrten als das französische Kino, das ihnen
       verstaubt und verknöchert vorkam. Die Freunde, auch Godard, hatten längst
       über all das geschrieben, für Hollywood, gegen das Qualitätskino, hatten
       angefangen, kurze Filme zu drehen, im Hintergrund stand die gemeinsame
       Zeitschrift Cahiers du cinéma, der Theoretiker André Bazin, es gab ein
       Programm, dann kamen die Spielfilme, dann der Name für die Bewegung:
       „Nouvelle Vague“, neue Welle.
       
       Godard hatte mitgeschrieben, unter Spannung stehende, beachtete Texte, gern
       thesenhaft, nie schlüssig, um Aphorismen selten verlegen, alles nach vorne,
       nichts zu Ende gedacht, das sollte so bleiben: Es ging ihm nie um
       abgeschlossene Formen.
       
       Nach „Außer Atem“ drehte Godard in rascher Folge weitere Filme, manche
       gingen beim Publikum unter, aber „Die Verachtung“ war ein riesiger Hit,
       eigentlich eine Auftragsarbeit, aber auch die ließ sich dekonstruieren.
       
       ## Bardot godardisiert
       
       Superstar Brigitte Bardot godardisiert, beim nackten Körper genommen, beim
       Nennwert und zugleich als Zitat, dazu Fritz Lang, der einen Regisseur
       spielt, als Figur von filmhistorischem Gewicht. Es mischt sich hier und
       stets bei Godard immer alles zugleich: Hommage, Aneignung, Einschreiben in
       eine Tradition, die zugleich auf den Kopf gestellt wird. Auch Godard selbst
       wird in diesen Jahren zur Person in der Öffentlichkeit, die seine
       Beziehungen zu seinen weiblichen Stars Anna Karina und Anne Wiazemsky und
       deren Auseinanderbrechen verfolgt.
       
       Als „permanenten Revolutionär“ hat Bert Rebhandl den Regisseur, und den
       Mann, in seiner Biografie beschrieben. Godard wendet sich, wieder und
       wieder, nicht zuletzt gegen sich selbst. Es war ihm das Revolutionäre dabei
       nicht in die Wiege gelegt: Geboren und nach ein paar Jahren in Paris auch
       aufgewachsen in der Schweiz, in idyllischer Umgebung, am Genfer See, aus
       großbürgerlicher Familie, der Vater leitete eine Privatklinik, die
       Großeltern hatten mit den Nazis kollaboriert.
       
       Keineswegs war Godard von Anfang an links, erst im Lauf der sechziger Jahre
       kam es zur Radikalisierung – auch der Antisemitismus, der ihm nicht ohne
       Grund vorgeworfen wird, ist eher typisch für den der damaligen
       propalästinensischen Linken.
       
       ## Gegen Tradition, für Glamour
       
       Sein erster Revolutionsfilm war „La chinoise“ (1967), der im Pariser
       Maoistenmilieu spielt, sein letzter „Weekend“ im selben Jahr, denn damit
       war mit dem Godard der frühen Jahre mit seiner Mischung aus Traditionszitat
       und Traditionszertrümmerung, Witz, Pop und Star-Glamour erst einmal
       Schluss.
       
       Und mit der Autorschaft auch: Godard tat sich mit dem intellektuellen
       Filmemacher Jean-Pierre Gorin zusammen, sie drehten unter dem Namen Groupe
       Dziga Vertov Dokumentarisches, Pamphletartiges, durchaus wiedererkennbar im
       Stil mit seinen Texttafeln, Schlagworten, Musik, die an- und gleich wieder
       abbricht, abrupter Montage, die das Geschehen stets aus dem Hinterhalt
       überfällt.
       
       Vom Kino als bürgerlicher Institution hatte sich Godard damit allerdings
       verabschiedet, er drehte auf Video, filmte Revolutionäre im Gras, brachte
       obskur Linientreues aus Prag mit, ließ sich, um es für seine revolutionären
       und auch pädagogischen Zwecke zu kapern, mit dem Fernsehen ein. Das war
       alles durchaus faszinierend, auch in den Sackgassen noch, in die Godard
       sich mit hohem Tempo begab, ist aber teils bis heute schwer greifbar, ein
       größeres Publikum hat nichts davon je erreicht.
       
       ## Ungeheure Energie
       
       Dann wieder eine Wende. In den späten siebziger Jahren tut sich Godard mit
       der Filmemacherin Anne-Marie Miéville zusammen, privat und auch filmisch,
       sie ziehen sich in das malerische Örtchen Rolle in Godards Schweizer Heimat
       am Ufer des Genfer Sees zurück. Und Godard macht wieder Kino, mit
       ungeheurer Energie, jedes Jahr mindestens einen Film, auch mit Stars. In
       „Passion“ (1982) spielt Michel Piccoli, vor allem aber eine ganz junge
       Isabelle Huppert.
       
       Sein „King Lear“ (1987), der aus Filmrechtegründen lange quasi unsichtbar
       bleibt, taucht neben Molly Ringwald, Julie Delpy und Godard selbst sogar
       Woody Allen auf, was Prinzip hat, denn Godards Filme sind längst von einer
       radikalen Durchlässigkeit für eigentlich alles: Tagesrest, Mythos,
       Hollywood, Musik, Theorie, Malerei, Zitat-Artefakte aller Art.
       
       Ein Hauptwerk: „Histoire(s) de cinéma“ (1998), eine Geschichte des Kinos
       als monströse Videomontage, an der Godard rund zehn Jahre saß, eine Flut
       der historischen Kino-Bilder und nicht zuletzt auch der Töne, viereinhalb
       Stunden, zwischen den Filmzitaten immer wieder Godard, an der
       Schreibmaschine, die ikonische Zigarre im Mund: Er tippt.
       
       ## Die Beschwörung des Kinos
       
       Es geht um die Beschwörung des Kinos in ungezählten Ausschnitten: Hitchcock
       als Schöpfer seines eigenen Universums spielt eine wichtige Rolle. Der
       eigentliche Fluchtpunkt der „Histoire(s)“ aber sind der Holocaust, Hitler,
       das „Dritte Reich“, der Jugoslawienkrieg, die Menschheitsverbrechen – und
       das Versagen des Kinos, das Tod und Gewalt nicht verhindert hat.
       
       Das Kino wird zur Sache der Gespenster beim späten Godard, der Präsenz des
       zugleich anwesenden und abwesenden Toten. Die Montage ruft herauf und
       zurück, was verdrängt war, was insistiert, die Filme sind mit Zitaten
       gepflastert, Godard ist der Name für ein filmisches Verfahren, das die
       Bilder und Töne nicht hierarchisiert, sondern Zuschauer*innen in
       maßloser Überforderung als dialektischen Strom überfällt.
       
       Alles ist immer Analyse und Synthese zugleich. Godard ist ein Engel (oder
       Teufel, wer weiß) der Geschichte, der der Gegenwart radikal zugewandt
       bleibt, unternimmt mit [3][„Adieu au langage“ (2014) ein atemberaubendes
       3D-Experiment].
       
       Die Filme laufen in Cannes oder auch nicht, Godard bleibt immer in Rolle.
       2020 gibt er mitten in der Coronapandemie eine Art Masterclass live auf
       Instagram, als aktivstes Gespenst der Kinogeschichte. Weshalb man auch
       sicher sein kann, dass der am Dienstag im Alter von 91 Jahren durch
       [4][aktive Sterbehilfe] gestorbene Godard fortleben wird, solange es Kino
       gibt, als zentralste aller seiner Randfiguren, forever Godard, der schon zu
       Lebzeiten der untoteste aller Regisseure war.
       
       13 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ekkehard Knörer
       
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