# taz.de -- Filmfest Hamburg ist gestartet: Total abgedreht
       
       > Beim Filmfest Hamburg feiern die Local Heroes „Beule“, „Balconies“ und
       > „Kiezjargon“ Premiere. Nicht alle muss man gesehen haben.
       
 (IMG) Bild: Gibts nicht ohne Zuhälterdarsteller: Hamburger Kiezromantik
       
       Hamburg taz | Der 15-jährige Leon streunt 24 Stunden lang [1][über den
       Kiez.] Jeder kennt den Sohn der Prostituierten Isi, und im Bordell ist er
       ein alter Bekannter, der die Mädchen um Essen anbettelt. Denn Leon hat kein
       Geld, und wenn er versucht zu stehlen, stellt er sich dabei so ungeschickt
       an, dass er sogar von der Verkäuferin in einem Backshop erwischt wird, die
       ihm dann das geklaute Laugenbrötchen wieder abjagt.
       
       [2][Auf der Hamburger Reeperbahn] wurden seit den 1920er-Jahren Hunderte
       Filme gedreht, und da kann man schon fragen, ob der 1978 in Hamburg
       geborene Filmemacher Il Kang es sich unnötig schwer gemacht hat, indem er
       sein Sozialdrama „Kiezjargon Leonidas“ in diesem Milieu ansiedelte. Der
       Mythos des Ortes hat sein Verfallsdatum schließlich längst überschritten.
       Und in dem Soziotop haben die Menschen eigene Rituale und einen eigenen
       Jargon entwickelt.
       
       Wenn Kang den jungen Schauspieler Albert Lichtenstern einen Tag lang durch
       die Straßen, Puffs, Kneipen, Läden und heruntergekommenen Wohnungen des
       Kiez laufen lässt, dann wird im Grunde mehr geredet als gehandelt. Kang
       muss genau zugehört haben: Die Dialoge klingen sehr authentisch.
       
       Im Abspann hört man dann einen kurzen Ausschnitt von einer Tonaufnahme, die
       in einer Kneipe gemacht wurde. Sie gehört offensichtlich zu dem
       Recherchematerial, mit dem Kang gearbeitet hat. Interessant ist dabei, dass
       auf der Reeperbahn immer noch ein 5-Euro-Schein „Heiermann“ heißt. Unter
       Jugendlichen ist dagegen das Kosewort „Digga“ so beliebt wie das F-Wort in
       amerikanischen Spielfilmen.
       
       ## Wie einst Uwe Bohm in „Nordsee ist Mordsee“
       
       In einer Sequenz scheint Kang einen Rekord aufstellen zu wollen, denn in
       diesem Dialog wird so oft Digga gesagt, dass die Sätze kaum noch einen Sinn
       ergeben. Der junge Schauspieler Albert Lichtenstein spielt Leon ähnlich
       lebensnah und [3][aufmüpfig wie einst Uwe Bohm] den 14-jährigen Helden in
       „Nordsee ist Mordsee“, und auch alle anderen Darsteller*innen
       überzeugen, darunter auch der wohl bekannteste Nebendarsteller des
       Hamburger Films, der Jurist und Kritiker Dietrich Kuhlbrodt in der Rolle
       eines Pornokinokassierers.
       
       „Kiezjargon Leonidas“ läuft auf dem Filmfest Hamburg, das heute eröffnet
       wird, in der Reihe „Hamburger Filmschau“. Hier feiern neue Hamburger
       Produktionen ihre Premieren, und der Charakterdarsteller Daniel Michel muss
       deshalb in diesem Jahr gleich zweimal auf die Bühne: Außer in Kangs Film
       spielt er auch in Janek Riekes Komödie „Beule“.
       
       Rieke ist vor allem als Schauspieler bekannt, zum Beispiel als Kommissar in
       der Serie „Der Kriminalist“. Doch begonnen hat er seine Karriere 1998 als
       Regisseur des Spielfilms „Härtetest“, der damals den Publikumspreis des
       Max-Ophüls-Festivals gewann. Für seine zweite Regiearbeit hat er sich 24
       Jahre Zeit gelassen.Der Filmtitel hat einen doppelten Sinn, den einerseits
       ist „Beule“ der Spitzname des Filmhelden Olli, andererseits ist dessen
       Freundin Anja in den meisten Einstellungen des Films hochschwanger.
       
       Diese Schwangerschaft macht Olli auch Schwierigkeiten. Er kommt mit Anjas
       Stimmungsschwankungen nicht klar. Olli ist einer von denen, die sich nicht
       wehren können. Von seinen drei Freunden wird er ständig gepiesackt und nun
       nervt ihn auch noch die Freundin. Kein Wunder also, dass er mit einem Beil
       Zigarettenautomaten zertrümmert.
       
       ## One-Liner über den Hamburger SV
       
       Es ist schon komisch, wie „Beule“ von einer Katastrophe in die nächste
       stolpert. Rieke spielt ihn selbst als ein sympathisches Stehaufmännchen. Es
       gibt in seinem Film zwar auch ein paar witzige One-Liner, zumal über den
       HSV, aber Rieke hat vor allem eine Vorliebe für Situationskomik. Da wird
       viel kaputtgemacht – vor allem an Autos tobt der Regisseur seine
       Zerstörungslust gern aus. Sein Humor ist schwarz, aber nie zynisch.
       
       Auch „Balconies“ von Anja Gurres soll eine Komödie sein – das macht schon
       die gutgelaunt beschwingte Filmmusik mit akustischer Gitarre und Akkordeon
       deutlich. Doch vor allem ist der Spielfilm ein Experiment des
       minimalistischen Erzählens. Die 82 Minuten des Films wurden nur auf
       Hamburger Balkonen gedreht. In sechs Episoden werden kleine Dramen mit
       höchstens zwei Darsteller*innen durchgespielt, in einer spielt sogar
       nur ein Darsteller mit Playmobil-Figuren.
       
       Auch von einer großen dramaturgischen Dringlichkeit kann bei diesen kleinen
       Geschichten kaum die Rede sein. Es geht eher um Alltäglichkeiten: Eine
       junge Frau strampelt sich auf einem Heimtrainer ab, während ihre Freundin,
       die zu Besuch in Hamburg ist, gelangweilt einen Liebesroman liest.
       
       Sollen sie in die Stadt gehen oder lieber auf dem Balkon bleiben? Ein Paar
       will die Beziehung durch Sex auf dem Balkon aufpeppen. Aber was, wenn die
       Nachbarn was sehen? Bei einer Wohnungsbesichtigung werden ein Bewerber und
       eine Bewerberin auf dem Balkon ausgesperrt und ein schwules Paar streitet
       sich um ein Orangenbäumchen, das ein Geschenk von einem Verflossenen war.
       Das wird nicht langweilig, lässt aber die Frage unbeantwortet, warum das
       erzählt werden soll. Und warum angesehen.
       
       1 Oct 2022
       
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