# taz.de -- Flucht nach Europa: Atemberaubender moralischer Verfall
       
       > Griechenland praktiziert brutale und illegale Pushbacks gegen
       > Migrant:innen. Eine Recherche zeigt: Dafür werden auch Flüchtlinge in
       > Dienst genommen.
       
 (IMG) Bild: Menschenrechtsverletzungen der EU: Wunden, die von der griechischen Polizei stammen sollen
       
       Erst am Wochende setzte die [1][Höchstzahl an Toten an der EU-Außengrenze
       in Melilla] eine schreckliche historische Marke. Bis zu 2.000 Menschen
       hatten am Freitag versucht, die Grenze zur spanischen Exklave Melilla zu
       überwinden, laut Hilfsorganisationen sollen 37 Menschen dabei gestorben
       sein. Nur wenige Tage später ist ein neuer moralischer Tiefstand erreicht:
       Am Mittwoch [2][berichtete der Spiegel] unter Berufung auf gemeinsame
       Recherchen mit der ARD, der Recherche-NGO Lighthouse Reports, Le Monde und
       dem Guardian über eine bisher unbekannte Praxis der griechischen Polizei
       bei gewaltsamen Zurückschiebungen, den sogenannten Pushbacks.
       
       Seit mindestens 2013 ist bekannt, dass Griechenland sich mit dieser Praxis
       neu ankommender Schutzsuchender entledigt. Dabei hat das Land bis heute in
       vielen Tausend Fällen schwere, bisweilen auch tödliche Gewalt eingesetzt.
       Lange war klar, dass die griechischen Behörden selbst diese ausgeübt
       hatten. Zuletzt zeigte sich immer öfter Mitwisserschaft und teils wohl auch
       die Beteiligung der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
       
       Nun aber wird offenbar, dass die griechische Polizei auch Flüchtlinge
       selbst für die Pushbacks in Dienst nahm – also Menschen, die ihnen
       ausgeliefert sind und durch die weitgehende Entrechtung in einer klaren
       Zwangslage stecken. Diese wurde offenbar gezielt ausgenutzt. Die Polizei
       versprach den Männern die ansonsten praktisch unerreichbaren
       Aufenthaltspapiere, so die Berichte. Infamer geht es kaum.
       
       ## Gewalt auslagern
       
       Bauern und Fischer, die das Sperrgebiet am Grenzfluss Evros betreten
       dürfen, hätten immer wieder Geflüchtete gesehen, die für die Polizei
       arbeiteten. Der Rechercheverbund um den Spiegel, der mit seinen
       Nachforschungen zu dem Pushbacks in der Ägäis erst Ende April den
       Frontex-Direktor Fabrice Leggeri zu Fall gebracht hatte, konnte sich die
       neuen Enthüllungen eigenen Angaben zufolge von griechischen Polizeibeamten
       bestätigen lassen.
       
       In den Berichten ist von einem Syrer die Rede, mit dem die Polizei
       zusammenarbeite. Er kooperiere mit Menschenschmugglern in Istanbul, um an
       Pushback-Helfer zu kommen, und sei sehr gewalttätig gegen Asylsuchende
       vorgegangen. Welchen Umfang diese Auslagerung der Gewalt an Flüchtlinge
       hat, wie viele weitere sich auf einen solchen Deals eingelassen haben, ist
       unklar. Mit der Praxis wollten die griechischen Behörden offenbar die
       eigenen Einsatzkräfte schützen, denn die Pushbacks sind auch für diese
       nicht ohne Risiko.
       
       „Dieses Vorgehen ist ein Bruch mit allen Werten, die wir in der
       Europäischen Union vertreten“, sagte die Menschenrechtsbeauftragte der
       Bundesregierung, Luise Amtsberg. Es sei an Abgründigkeit und Perfidität
       nicht zu überbieten.
       
       ## „Systematisches, paneuropäisches Problem“
       
       Schon Ende 2019 hatte das türkische Innenministerium Griechenland
       vorgeworfen, in den vorangegangenen zwölf Monaten fast 60.000 Menschen
       illegal in die Türkei zurückgeschoben zu haben. Seither wurde die Praxis
       immer ungenierter und öffentlicher vollzogen. Die Pushbacks – und
       Pullbacks, durch die sogenannte libysche Küstenwache auf dem zentralen
       Mittelmeer – sind heute zu einer der dominierenden Umgangsformen mit
       Ankommenden in Europa geworden. Der Europarat hatte erst im April von einem
       „systematischen, paneuropäischen Problem“ gesprochen.
       
       Es wäre in erster Linie an der EU-Kommission, gegen diese Rechtsverstöße
       vorzugehen. Doch die hat viel geredet, aber praktisch nichts getan, um
       Länder wie Griechenland, Kroatien oder Polen an den massenhaften Pushbacks
       zu hindern. Die Kommission scheute den Konflikt – und versicherte
       stattdessen auch jenen Staaten ihre Unterstützung, die offen das
       europäische Flüchtlingsrecht mit Füßen treten. „Die Sorge des einen ist nie
       legitimer als die des anderen,“ sagte etwa der „Kommissar für die Förderung
       des europäischen Lebensstils“, Margaritis Schinas, als er den
       EU-Migrationspakt vorstellte. Es war ein Signal, das in Ländern wie
       Griechenland klar als Ermächtigung aufgefasst wurde, losgelöst vom Recht
       gegen die Ankommenden vorzugehen.
       
       Wie groß in der EU die Bereitschaft ist, selbst schwerste Gewalt
       hinzunehmen, zeigte sich erst vor wenigen Tagen: „Wir unterstützen Spanien
       und alle Länder, die an vorderster Front die Grenzen der EU schützen, voll
       und ganz. Die Migration ist eine schwierige Herausforderung für alle. Ich
       sage den spanischen Behörden meine Unterstützung zu“ – das sagte
       Ratspräsident Charles Michel, nachdem am Wochenende Migrant:innen an den
       Zäunen der Enklave Melilla regelrecht massakriert wurden.
       
       So ist eine Dynamik von Entrechtung und Verrohung und im Gang, die immer
       neue Formen der Gewalt hervorbringt – wie nun den griechischen Weg,
       Flüchtende selbst zu zwingen, gegen ihresgleichen vorzugehen, um die eigene
       Haut zu retten. Die Geschwindigkeit des moralischen Verfalls Europas ist
       atemberaubend. Immer mehr Kraft wird es kosten, diesen aufzuhalten. Kaum
       jemand scheint die Kraft dafür aufbringen zu wollen.
       
       28 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Fluechtlinge-an-der-Grenze-von-Melilla-getoetet/!5860878
 (DIR) [2] https://www.spiegel.de/ausland/pushbacks-an-der-eu-grenze-wie-griechenlands-polizei-gefluechtete-fuer-verbrechen-einspannt-a-de6c68a8-52da-4f0d-94d4-db6b8319cbc6
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
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