# taz.de -- Neues Album von Kae Tempest: Ich ist ein Anderer
       
       > Greifbarere Songstrukturen und Coming-out: Kae Tempest verzichtet auf ein
       > t im Vornamen und veröffentlicht das neue Album „The Line Is A Curve“.
       
 (IMG) Bild: Loslassen, sich selbst finden, akzeptiert werden: Kae Tempest
       
       Zwanzig Jahre habe ich mit einem Stift in der Hand verbracht“, schreibt Kae
       Tempest – und fängt jetzt noch mal von vorne an: bei sich selbst. Mit dem
       neuen Album „The Line Is A Curve“ ergründet Tempest auch, wie man als
       Person in der Öffentlichkeit bestehen kann: „Ich versteckte mein Gesicht
       hinter meinem Wunsch, mein Werk für sich selbst sprechen zu lassen. Jetzt
       möchte ich, dass sich die Leute von mir persönlich zur Musik eingeladen
       fühlen.“
       
       Bisher veröffentlichte Kae Tempest mit einem t mehr im Vornamen. Im Sommer
       2020 outete sich Tempest als trans und verwendet seitdem die
       geschlechtsneutralen Pronomen they/them, für die es im Deutschen keine
       eindeutige Übersetzung gibt. Tempest, aufgewachsen im Süden Londons, begann
       mit 16 bei Open-Mic-Abenden aufzutreten, meist an der Schnittstelle von Rap
       und Spoken Word. 2014 erschien das Debütalbum „Everybody Down“.
       
       Zugleich nach innen schauend und nach außen drängend, purzelten die Worte
       aus Tempest, ein Sturm von Bildern und Gedanken, Kommentaren zur britischen
       Innenpolitik ebenso wie Ergründungen von persönlichen Schicksalen und
       Chancen, immer auf der Suche nach Momenten der Schönheit und Liebe inmitten
       von Tragödien und Scheitern. Die Bühnenpräsenz der 36-jährigen
       Künstler*in war immer fesselnd.
       
       „Seit ich kreativ bin, sehnte ich mich nach Rampenlicht – und fühlte mich
       hoffnungslos unwohl darin“, definiert Tempest diesen Zustand im Waschzettel
       zum neuen Album „The Line Is A Curve“. In der Zwischenzeit erschienen
       Theaterstücke, Gedichtbände, ein Roman und zwei weitere Alben, die sich
       immer mehr von den Genre-Regeln des HipHop entfernten. Das bisher letzte
       Werk, „The Book Of Traps And Lessons“, ähnelte einem epischen Gedicht,
       untermalt von Synthesizer-Flächen, mal warm und einladend, mal bedrohlich
       kühl.
       
       Vom Cover und aus den Videos verschwand Tempest weitgehend. Je größer die
       Bekanntheit, desto schwieriger ist es auch, die Nähe, die Tempest im
       eigenen Werk anlegt, glaubwürdig erscheinen zu lassen. So besuchte Tempest
       zur Promotion etwa die US-Late-Night-Talkshow von Jimmy Fallon und spielte
       zwei Songs, was der Tempest eigenen Intensität so widersprach, dass der
       Auftritt fast zur Karikatur geriet.
       
       ## Weil sie so anders war
       
       „Seit meiner Kindheit wurde erwartet, dass ich mich irgendwie verhalte“,
       sagt Tempest der Tageszeitung The Guardian. „Ich habe immer Teile von mir
       versteckt. Weil ich so anders war, konnten die Leute nichts mit mir
       anfangen. Wenn ich performt habe, war das mein Passierschein – ich musste
       in keine Geschlechterschublade passen.“
       
       Tempest spricht nun erstmals darüber, wie es war, mit dieser Dysphorie
       aufzuwachsen und wie die HipHop-Community zur ersten Gemeinschaft wurde.
       Auch das war eine Rolle, die in anderen Kontexten jeweils neu erarbeitet
       werden musste. Als die ersten bezahlten Gigs öffnete es der Londoner*in
       Möglichkeiten: Tempest lebte nicht nur von der Kunst, sondern konnte eigene
       Gedanken in einer komplexeren Struktur aus Figuren, Erzählinstanzen und
       Settings weiter auserzählen.
       
       2016 wanderte etwa das Figurenensemble, das Tempest zwei Jahre zuvor auf
       dem Debüt entworfen hatte, in den ersten Roman: Eine Drogendealerin, eine
       Sexarbeiterin, ein arbeitsloser Akademiker, allesamt gefangen im Alltag mit
       Lohnarbeit, Drogen und Klarkommen, proben den Aufstand und landen
       schließlich im Dazwischen, kämpfend für ein anderes Leben, in dem alle von
       der Gesellschaft Übersehenen Platz finden.
       
       ## Die Schule abgebrochen
       
       Diese Thematik dominiert auch das neue, vierte Tempest-Album. Schon sein
       Titel „The Line Is A Curve“ verdeutlicht das Umkreisende, das eine Suche
       nach Identität birgt: loslassen, sich selbst finden, akzeptiert werden.
       
       Vorausgegangen ist der Musik ein Theaterstück in London („Paradise“) und
       ein Essayband, der auch auf Deutsch vorliegt. Tempest schreibt in
       „Verbundensein“ erstmals über sich selbst. Die Zeilen lesen sich wie ein
       längst fälliges Geständnis: „Seit ich zwölf Jahre alt war, habe ich eine
       seltsame und leidenschaftliche Beziehung zu meiner eigenen Kreativität, ich
       litt unter psychischen Problemen, nahm Drogen und trank, um mit meinem
       vertrackten Gehirn, den häuslichen Konflikten und meiner gestörten
       Geschlechtsidentität klarzukommen. Als Teenager riss ich aus, brach die
       Schule ab und dealte mit Drogen, war aber weiß und
       mittelschichtsprivilegiert genug, um mir damit nicht mein gesamtes Leben zu
       ruinieren.“
       
       Tempest gedenkt damit zweier Freunde, die es nicht geschafft haben.
       Hautfarbe oder Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse verstellten ihnen Auswege,
       die Tempest offenstanden. Als einer dieser Auswege stellt sich Tempests
       Kreativität heraus.
       
       ## Cover von Wolfgang Tillmans
       
       Diese Offenlegung zeigt auch: Tempest wusste immer, wovon gesprochen wird,
       wenn es um die Beschreibung der Tiefpunkte (vermeintlich) anderer ging. Auf
       „The Line Is A Curve“ verzichtet Tempest nun auf die Hilfe der gedachten
       Figuren und einer ordnenden Erzählinstanz. Tempests Worte klingen somit
       unmittelbarer und direkter, sind aber gleichzeitig sinnlich und stürmisch
       wie zuvor.
       
       Der Ausbruch und Findungsprozess, das Formannehmen spiegelt sich auch im
       grafischen Konzept des neuen Albums. Etwa im unscharfen Coverbild, für das
       Tempest den [1][Fotografen Wolfgang Tillmans] engagiert hat, und im Video
       zu „No Prizes“, in dem sich Personen unter einem gespannten Stück Stoff
       bewegen und zur Musik ihre Umrisse zeigen oder verbergen.
       
       Auch wenn die neuen Songs, ebenso wie der Essayband und das aktuelle
       Theaterstück, stark von Fragen der Identität und des Coming-out geprägt
       sind, reicht die Linie des neuen Albums noch weiter zurück. Der Auftaktsong
       entstand bereits während der Tour zum zweiten Tempest-Album „Let Them Eat
       Chaos“ (2016).
       
       ## Song mit Ohrwurm-Potential
       
       Dokumentiert wird dies mit einer Sprachnachricht, die Tempests Produzent
       Dan Carey, seit dem Debüt für die Instrumentierung verantwortlich,
       geschickt hat und die die beiden ins Intro von „Smoking“ auf helle
       Synthesizer-Tupfer gebannt haben. Auch die Co-Musiker repräsentieren
       Tempests Jugend: Drummer Kwake Bass und Rapper Confucius MC, mit dem
       Tempest als 16-Jährige in derselben Crew war. Tempests Worte werden zu
       seinen: „When I smoke, I remember my mother smoking, that can’t be
       healing“, singt Tempest. „No healing, til it’s all broken“, ergänzt
       Confucius MC.
       
       „More Pressure“ hat tatsächlich Ohrwurm-Potenzial und zeigt, wie mitreißend
       ein elektronischer Beat klingen kann. „These Are The Days“ beginnt mit
       einem Zusammenspiel von Schlagzeug, Perkussion und E-Gitarre, sogar
       Blechbläser deuten sich an – und erinnern damit an die vielschichtigen
       Kompositionen zwischen Jazz und Postpunk, wie sie die Bands Black Midi und
       Black Country, New Road aktuell in Tempests Heimatstadt hervorbringen.
       Auffällig ist außerdem, dass sich erstmals überhaupt mehrere Features auf
       dem Album befinden.
       
       Neben Rapper Kevin Abstract, der Tempest in „More Pressure“ unterstützt,
       ist etwa auch Grian Chatten dabei. Das hibbelige „I Saw Light“ bringt die
       Stärken von HipHop und Spoken Word zusammen, wobei die zurückgelehnt
       sprechende Stimme von Chatten Tempests schnellen Flow viel besser
       kontrastiert als der Rap-geschulte Vortrag von Kevin Abstract. Chatten ist
       Frontmann der irischen Rockband Fontaines D. C., Abstract Mitglied des
       queeren US-HipHop-Kollektivs Brockhampton. „I saw light in the windows, in
       the buildings at night, on the side of your face, it went dark“, flowt es
       aus Tempest heraus.
       
       ## Ein hungebungsvolles Stück
       
       Musikalisch entfernt sich „The Line Is A Curve“ von seinem Vorgänger, denn
       Tempest und Carey haben mehr Haltepunkte in ihren sphärischen
       Synthieflächen eingebaut. Die analog eingespielten Drums und der Beitrag
       zweier Gastsängerinnen, Lianne La Havas und ássia, helfen, Careys
       mäandernden Instrumentals und Tempests textlicher Kraft eine etwas
       greifbarere Songstruktur zu geben. Das sorgt dafür, dass die Songs dieses
       Mal mehr als solche funktionieren statt nur als komplettes Album – ein
       erklärtes Ziel von Tempest.
       
       Zum Finale erklingt das hingebungsvolle Stück „Grace“, dessen Musik auf
       sparsamen Gitarrenakkorden basiert: „Grace“ erzählt von absoluter
       Selbstaufgabe in der Liebe: „Let me give love, receive love and be nothing
       but love, in love and for love and with love.“ Ob die Worte einem konkreten
       Gegenüber, etwa der eigenen Partnerin gelten, ob es sich um ein Liebeslied
       an die LGBTIQ-Community handelt – Kae Tempest scheint genau zu wissen, wo
       die Akzeptanz zu finden ist.
       
       2 Apr 2022
       
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