# taz.de -- Kunsttipps der Woche: Mit taxonomischer Beflissenheit
       
       > Kunst inspiriert von feministischen Vorreiter:innen, Kunst inspiriert vom
       > biographischen Gedächtnis und Kunst inspiriert von der Industrie.
       
 (IMG) Bild: Markues und Michaela Meise, „Your Horizon Has Limits Even Holes“, 2021, Installationsansicht
       
       Mit der Gewissheit ohne Gewissheit zu sein, bewegen wir uns derzeit durch
       den pandemischen Alltag. Solch ein Zustand der Diffusität kommt auch im
       neuen Projektraum [1][Scherben] auf. Nicht nur, weil sich ab und an ganz
       unbemerkt ein Nebel zwischen die Arbeiten von Markues und Michaela Meise
       verteilt, so dass zwischenzeitig der Boden unter den Füßen zu verschwinden
       scheint.
       
       Michaela Meise kehrt ein architektonisches und gleichsam patriarchales
       Sinnbild für Stabilität, die Säule, in ein fragiles Arrangement aus
       Holzstangen um. Mit den „Trans Columns“ arbeitete Meise bereits 2009 auf
       ihre so eigene, konzentrierte Art ein Symbol für die damalige Finanzkrise
       heraus. Markues hingegen zeigt eine Reihe Aquarelle der letzten Jahre, auf
       denen Zitate aus Liedern, Slogans und Theorie zwischen dünn mäandernden
       Farbflächen zerfließen, unklar ob sie Worte oder Bilder sind.
       
       Darunter auch jenes metaphorische Zitat der Psychoanalytikerin und
       Philosophin Luce Irigaray „Your horizon has limits even holes“, das zum
       Titel der Ausstellung geworden ist. Luce Irigaray – auch auf einem kleinen
       Portrait Meises im Raum zu entdecken – vertritt aus feministischer
       Perspektive die Besonderheit jedes Individuums, das sie aber nicht als
       vereinzelt versteht, sondern als stets in gemeinschaftlicher Verbindung zu
       anderen.
       
       Und so rücken Markues und Michaela Meise ihre jeweilige Hinterfragung von
       Gewissheiten nicht nur unter das nebulöse Licht der jetzigen Pandemie,
       sondern appellieren auch mit Irigaray, dass in der Vieldeutigkeit die
       Möglichkeit von Gemeinschaft liegt.
       
       ## Im biographischen Gedächtnis
       
       Warum schauen wir uns immer wieder Filme, Bücher und Bilder von der
       Kindheit anderer an? Vielleicht weil sie das eigene biografische Gedächtnis
       wachrufen können und das Nachdenken darüber, wie wir als Subjekte
       entstehen.
       
       Matthew Krishanu malt Erinnerungen aus seiner Kindheit. Als öffnete er ein
       verstaubtes Familienalbum, breitet er auf seinen Malereien in der
       [2][Galerie Tanya Leighton] Ausschnitte aus seinem Leben als kleiner Junge
       aus: auf Reisen mit dem Onkel, im Türrahmen stehend mit seinem Bruder,
       reitend auf einem Esel und spielend mit Pfeil und Bogen. Diese Szenen
       übersetzte er aus dem Gedächtnis und von tatsächlichen Fotografien in eine
       flächige, farbintensive, geradezu schablonenhafte Figürlichkeit, sodass
       letztlich die subjektive Erinnerung zu einer distanzierten Abbildung wird.
       
       Und so erzählt er, der Sohn einer bengalisch-indischen Mutter und eines
       englischen Priesters, mit dieser entpersonalisierten Darstellung die
       Geschichte seiner Ich-Werdung. Einer Ich-Werdung in Südasien, in einer
       streng christlichen Umgebung, wo über dem Bett ein Gemälde vom Abendmahl
       wacht und der Alltag einem strikten Ritual folgt.
       
       Eine schön anzusehende und doch verstummte Malerei über die Suche nach der
       eigenen Kindheit. Eine, die derart reduziert ist, dass Personen und Objekte
       den gleichen Rang einnehmen. Dabei sind diese christlichen Objekte, dort in
       Südasien, zugleich Hinterlassenschaften eines europäischen Imperialismus.
       
       ## Industrie-Paintings und die eigene Hand
       
       Metallene Industrieprodukte hängt Nadim Vardag in einem strengen Raster an
       die Wände des Projektraum [3][Stations]. Gebürstet, poliert und geschliffen
       arrangiert er die Gegenstände aus Aluminium oder Eisen in einer Art
       taxonomischen Beflissenheit. Zumeist sind es Rahmen für Werbeplakate an
       Bushaltestellen oder in Cafés, die er aufmontiert und mit neuen komplexen
       Schrauben versieht. Manchmal legt er Bilder hinein, so etwas wie
       Industrie-Paintings aus Metalltextilien, aber auch mühselig von eigener
       Hand gefertigte Kaltnadelradierungen mit filigranen Mustern.
       
       Und bei beiden Gegenstandsarten, dem Industrieprodukt und dem vom Künstler
       selber ausgeführten Bild, kann man sich für die Präzision des Materials und
       die geistige Verdichtung, die sich hinter einem Objekt wie einer Schraube
       verbirgt, begeistern. Da befindet man sich aber auch schon an der etwas
       beängstigenden Schwelle, von der Arbeit der Maschine und der des Künstlers
       gleichsam ästhetisch berührt zu sein.
       
       23 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://scherben.in/
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