# taz.de -- Hybris des Westens in Afghanistan: Null moralische Lufthoheit
       
       > Der Westen hat sein Recht verspielt, sich über die Taliban zu erheben.
       > Wiedergutmachung ist angesagt, nicht erneute Großspurigkeit.
       
 (IMG) Bild: Patrouille auf den Straßen Kabuls
       
       Die Taliban beherrschen wieder Afghanistan – fast 25 Jahre, nachdem sie zum
       ersten Mal in Kabul einzogen und knapp 20 Jahre, nachdem sie infolge der
       Anschläge vom 11. September von der Macht vertrieben wurden. Es gibt nur
       [1][sporadischen Widerstand,] dafür aber eine allumfassende Angst bei jenen
       Afghan:innen, die für ein demokratisches Projekt die Hoffnung in den Westen
       gesetzt hatten.
       
       Die Versprechen des Westens sind von Anfang an Lippenbekenntnisse gewesen.
       Die Hybris des Westens was so groß, dass die Möglichkeit einer Niederlage
       nie einkalkuliert wurde. Jetzt wird angesichts der desaströsen, weil höchst
       unvollständigen Evakuierung der afghanischen „Partner“ endgültig sichtbar,
       wie massiv das Scheitern des Westens ist – politisch und moralisch.
       
       Jetzt läuft die Debatte, ob man mit den Taliban reden oder besser Druck
       ausüben, sie gar boykottieren und sanktionieren soll. Das wird oft von der
       noch offenen Antwort auf die Frage abhängig gemacht, ob das neue Regime in
       die repressiven Praktiken der ersten Taliban-Herrschaftszeit (1996–2001)
       zurückfallen wird oder gewisse, ebenfalls umstrittene Anzeichen von
       Mäßigung sich verfestigen werden.
       
       Die Taliban haben in den letzten 25 Jahren vieles dafür getan, dass große
       Skepsis herrscht: Massaker, öffentliche Hinrichtungen, die fast totale
       Verbannung von Frauen aus dem öffentlichen Leben; später Anschläge mit
       einer hohen Zahl ziviler und anderer Opfer. Das setzte sich mit weiteren
       Gräueltaten während ihrer [2][militärischen Offensive] fort, an deren Ende
       die kampflose Ü[3][bernahme der Hauptstadt Kabul] stand.
       
       ## Die neuen Massaker
       
       Die inzwischen in Auflösung befindliche [4][Afghanische
       Menschenrechtskommission] (AIHRC) sowie [5][Human Rights Watch (HRW)
       dokumentiert]en frühzeitig Talibanmassaker an gegnerischen Kombattanten,
       aber auch Unbeteiligten am 14. Juli in der Grenzstadt Spin Boldak bei
       Kandahar und bereits Anfang Juli im Distrikt Malestan, der von Angehörigen
       der [6][Minderheit der schiitischen Hasara bewohnt wird].
       
       Ebenfalls am 14. Juli veröffentlichte [7][CNN ein Video,] das zeigt, wie
       Taliban im Landesnorden afghanische Kommandosoldaten erschießen, die sich
       ihnen ergeben hatten. Jüngst legte die Talibanführung Frauen in Arbeit –
       mit Ausnahme jener im Gesundheitswesen – nahe, aus „Sicherheitsgründen“ bis
       auf Weiteres zu Hause zu bleiben. Wenn sich das verstetigt, wäre das ein
       Rückfall in böse alte Zeiten.
       
       Die Regierungen des Westens aber sind längst nicht mehr in einer Position,
       sich über die Taliban zu erheben. Einige der am heftigsten kritisierten
       brutalsten Vorgehensweisen haben sich die Taliban von ihnen abgeschaut. Das
       reicht von der Doppelstrategie, gleichzeitig Krieg und Friedensgesprächen
       zu führen bis zu gezielten Tötungen ihrer vermeintlichen Feinde, etwa von
       Regierungsmitarbeitern.
       
       Es war die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton, die die US-Strategie
       des „fighting and talking“ zur gleichen Zeit entwickelte. Das
       „decapitating“ (die Enthauptung) der Talibanführung bis auf die
       Distriktebene durch Drohnenschläge und nächtliche Kommandounternehmen nach
       dem Prinzip „kill or capture“ wurde als Aufstandsbekämpfungskonzept des
       US-Militärs entwickelt.
       
       ## Taliban übernehmen Nato-Jargon
       
       Auch die Bundeswehr und der BND lieferten Ziele für die euphemistisch
       „Gemeinsame Prioritätswirkungsliste“ (JPEL) genannten Zielliste der
       Nato-Truppen zu. Die Taliban übernahmen auch den Nato-Jargon für zivile
       Opfer: „Kollateralschaden“. Zudem verhinderte der Westen systematisch, dass
       Kriegsverbrechen früherer Kriegsphasen aufgearbeitet wurden, da die
       mutmaßlich Verantwortlichen zu ihren Hauptverbündeten im Kampf gegen die
       Taliban gehörten. Doppelte Standards verspielen Glaubwürdigkeit.
       
       In diesem Klima fallen auch ungeprüfte Berichte auf fruchtbaren Boden, etwa
       ein UN-Report, der an die Medien geleakt wurde und demzufolge die Taliban
       „die Jagd auf alle Kollaborateure des früheren Regimes intensivieren“ und
       sie schlimmstenfalls „hinrichten werden“. In der Tat gibt es Anzeichen
       dafür, dass der Taliban-Geheimdienst nach vorbereiteten Listen potenzielle
       Gegner einschüchtert; in einigen Fällen berichteten Angehörige von
       Verhaftungen.
       
       Die norwegische Zeitung Morgenbladet hat jetzt recherchiert, dass der
       Bericht von einem Ein-Mann-Institut stammt, das selbst renommiertesten
       Afghanistan-Forschern des Landes bisher unbekannt war und dessen Leiter
       sich bisher vor allem mit Umweltforschung befasste. Sie fanden seine
       weitreichenden Schlussfolgerungen durch die bisherige Faktenlage nicht
       gedeckt. UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet bestritt, dass sie
       den Bericht als Quelle verwendet habe.
       
       ## Kriegsverbrechen zuverlässig dokumentieren
       
       In dieselbe Kategorie gehört ein Bericht von Amnesty International vom 19.
       August über ein Massaker im Juli, in dem nicht erwähnt wird, dass AIHRC und
       HRW bereits darüber berichteten. Schon 2015 hatte die Organisation, einst
       Goldstandard für die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, auf der
       Grundlage vermeintlicher Augenzeugenberichte behauptet, die Taliban hätten
       bei der Eroberung der Stadt Kundus im dortigen Wohnheim Studentinnen
       vergewaltigt, was sich später als komplett falsch erwies. Will man die
       Taliban zur Rechenschaft für Kriegsverbrechen und
       Menschenrechtsverletzungen ziehen, müssen sie zuverlässig dokumentiert
       sein.
       
       Im deutschen Fall entsteht der Eindruck, als ob die Bundesminister, die die
       Verantwortung für die letzte Episode des deutschen Anteils am
       Afghanistan-Desaster tragen, jetzt besonders forsch mit wohlfeilen
       Sanktionen, etwa dem Einfrieren von Entwicklungsgeldern, ihr eigenes
       Versagen zu kaschieren versuchen. Stattdessen sollten sie Kanäle zu den
       Taliban offen halten, um selbst kleinste Verbesserungen für die Millionen
       Menschen herauszuholen, die sie in Afghanistan zurücklassen.
       Wiedergutmachung ist angesagt, nicht erneute Großspurigkeit.
       
       30 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Widerstand-gegen-die-Taliban/!5791106
 (DIR) [2] /Afghanistan-nach-dem-Abzug/!5792076
 (DIR) [3] /Taliban-uebernehmen-Afghanistan/!5789645
 (DIR) [4] https://twitter.com/AfghanistanIHRC/status/1421465267566174216/photo/1
 (DIR) [5] https://www.hrw.org/news/2021/08/03/afghanistan-advancing-taliban-execute-detainees
 (DIR) [6] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/08/afghanistan-taliban-responsible-for-brutal-massacre-of-hazara-men-new-investigation/
 (DIR) [7] https://edition.cnn.com/videos/world/2021/07/12/video-afghan-commandos-taliban-coren-pkg-vpx.cnn
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Ruttig
       
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