# taz.de -- Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co enteignen: Demokratie wagen
       
       > Die Enteignung wird als revolutionär abgestempelt, dabei ist sie eine
       > Reform. Das vergisst die SPD beim Volksbegehren.
       
 (IMG) Bild: Plakat des Berliner Volksbegehrens Deutsche Wohnen & Co enteignen
       
       Am Freitag startet das [1][Berliner Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co]
       enteignen in die nächste Phase. 175.000 Unterschriften müssen in vier
       Monaten gesammelt werden, um die Vergesellschaftung jener
       Wohnungsunternehmen weiter voranzutreiben, die mehr als 3.000 Wohnungen in
       der Stadt besitzen. 243.000 Wohnungen würden so – gegen Entschädigung! – in
       kommunale Verwaltung übergehen und den für Menschen mit Gering- oder
       Normaleinkommen existenziell bedrohlich gewordenen Wohnungsmarkt in der
       Hauptstadt entlasten.
       
       Beständig versuchen stolze Neoliberale dieses Volksbegehren zu
       delegitimieren. Das Schreckgespenst Kommunismus wird wieder aufgerufen und
       sogar vor Vergleichen zur „Arisierungspolitik“ der Nazis schreckte
       Welt-Chefredakteur [2][Ulf Poschardt in diesem Kontext] nicht zurück. Er
       reproduzierte das antisemitische Bild der „reichen Juden“, die besonders
       von der Berliner Enteignung betroffen wären.
       
       Auch Sozialdemokrat*innen tun sich schwer mit der Initiative. Die
       Verhandlungen von DW & Co enteignen mit der rot-rot-grünen Landesregierung
       [3][scheiterten vor allem an der SPD]. Das ist unverständlich, denn
       entgegen seinem Image ist das Volksbegehren keine Revolution – die mit der
       SPD ja tatsächlich nicht mehr zu machen wäre –, sondern eine Reform.
       
       Innerhalb des Grundgesetzes soll die in [4][Artikel 15] angelegte
       Enteignungsmöglichkeit aktualisiert werden, die etwa für Autobahnen längst
       Anwendung findet. Und der erste Teil des [5][28. Artikels der Berliner
       Landesverfassung] soll endlich ernst genommen werden: „Jeder Mensch hat das
       Recht auf angemessenen Wohnraum. Das Land fördert die Schaffung und
       Erhaltung von angemessenem Wohnraum, insbesondere für Menschen mit geringem
       Einkommen, sowie die Bildung von Wohnungseigentum.“
       
       ## Zentrales Projekt der SPD
       
       Um dieses Recht besser zu verwirklichen, ergriff die Enteignungsinitiative
       das ebenfalls verfassungsmäßige Mittel eines Volksbegehrens. DW & Co
       enteignen zeigt damit auch, wie viel politische Teilhabe und direkte
       Demokratie in der bestehenden Ordnung möglich sind. Allein dafür sollten
       die Staatsorgane dankbar sein, denn sie sind auf den Glauben in das
       Problemlösungspotenzial der Demokratie angewiesen. Die [6][rot-roten
       Privatisierungen] der Vergangenheit haben in Berlin zu solchem Glauben
       nicht gerade beigetragen.
       
       Im späten 19. Jahrhundert hingegen war mehr Demokratie noch das zentrale
       Projekt der SPD. Es überlagerte sogar die besonders in Berlin dramatische
       „Arbeiterwohnungsfrage“. Stimmen, die mit einer Erweiterung des
       Enteignungsrechts und kommunalem Wohnungsbau eine Antwort auf überfüllte
       Mietskasernen und auf die Massenobdachlosigkeit geben wollten, konnten sich
       zunächst in der Arbeiterpartei nicht durchsetzen. Praktische
       Reformvorschläge würden das „Volk von Berlin“ dazu verleiten, von den „aus
       dem Dreiklassenwahlsystem zusammengesetzten städtischen Behörden Almosen“
       zu erbetteln, hieß es 1872 auf einer „Volksversammlung“.
       
       Doch nicht nur das Wahlsystem nach Steuerklasse und Bismarcks
       „Sozialistengesetze“ verhinderten im Kaiserreich die politische Teilhabe
       der Arbeiter*innenschaft. In Berlin, wie in fast allen Teilen Deutschlands
       galt das „Hausbesitzerprivileg“. Demnach sollten die Hälfte aller
       Stadtverordneten über Grund- und Hausbesitz verfügen. Eine Mehrheit von
       „Sozen“, die größtenteils zur Miete wohnten, konnte so von vornherein
       verhindert werden.
       
       ## Keine neuen Ideen
       
       Hugo Heimann, ein jüdischer SPD-Abgeordneter und engagiert im
       sozialliberalen Asylverein für Obdachlose, baute deshalb im Berliner
       Wedding die „Roten Häuser“. Heimann übertrug SPD-Kandidaten den Besitz
       daran und ermöglichte damit ihre Wahl ins Stadtparlament. Trotz ihres
       bürgerlichen Hintergrunds und der Beziehungen zu liberalen Sozialreformern
       lehnten Heimann und sein Freund, der damalige Fraktionsvorsitzende Paul
       Singer, Kompromisse mit dem monarchischen Klassenstaat und den bürgerlichen
       Parteien ab.
       
       Die Reformen, die sie praktisch umsetzten, waren ihnen kein Ersatz für die
       Revolution. Der Revisionismus aber, der sich nach Singers Tod in der SPD
       durchsetzte, ermöglichte den Ersten Weltkrieg mit. Die dem Krieg folgende
       Revolution, die nicht nur das allgemeine und gleiche Wahlrecht brachte,
       sondern auch der Wohnraumversorgung Verfassungsrang gab und sozialen
       Wohnungsbau zum zentralen Projekt der Berliner SPD machte, war teuer
       erkauft. Die Nazis wiederum hatten keine neuen Ideen, um die Wohnungsfrage
       zu lösen, außer eben die rassistische „Arisierung“. Hugo Heimann musste ins
       Exil fliehen, seine Tochter wurde ermordet.
       
       Heute entdecken auch die Neonazis vom III. Weg die Wohnraumfrage für sich.
       DW & Co enteignen hingegen bietet eine direktdemokratische und
       nichtrassistische Antwort auf die so drängende Wohnungsfrage. Leider ist
       die Abstimmung darüber an die deutsche Staatsbürgerschaft gebunden und
       lässt damit viele von denen außen vor, die in Berlin besonders von
       Verdrängung betroffen sind. Eine Revolution wäre es, die Verfassung
       insoweit zu ändern, dass auch Nachbar*innen ohne deutschen Pass eine
       Mitsprache bei dieser existenziellen Frage hätten.
       
       26 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Enteignungs-Volksbegehren/!5743994
 (DIR) [2] /Protestoper-in-Berlin-Grunewald/!5707948
 (DIR) [3] /Deutsche-Wohnen-enteignen/!5741449
 (DIR) [4] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_15.html
 (DIR) [5] https://www.berlin.de/rbmskzl/regierender-buergermeister/verfassung/artikel.41548.php
 (DIR) [6] /Wohnungspolitik-linker-Parteien/!5566897
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Hunglinger
       
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