# taz.de -- Angeklagter im Lübcke-Prozess: Eine Erinnerung, viele Fragen
       
       > War neben Stephan Ernst noch ein zweiter Täter am Mord von Walter Lübcke
       > beteiligt? Die Aussage von Lübckes Sohn deutet darauf hin.
       
 (IMG) Bild: Der Angeklagte Stefan Ernst mit seinen Rechtsanwälten Mustafa Kaplan (l) und Jörg Hardies (r)
       
       Frankfurt am Main taz | Stephan Ernst betritt den Saal des
       Oberlandesgerichts Frankfurt auch am 37. Verhandlungstag in Handschellen.
       Er sitzt seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft. Sein früherer
       Kumpel aus der Neonaziszene, Markus H., ist dagegen seit Oktober ein freier
       Mann und plaudert lässig mit seinen Anwälten.
       
       Während der eine wegen der Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke mit
       einer lebenslangen Haftstrafe rechnen muss, könnte der andere mit einer
       milden Strafe davonkommen. Ernsts Tatbeitrag ist wegen einer DNA-Spur am
       Tatort gesichert, H.s Beteiligung nach wie vor unklar. Vor Gericht sind die
       früheren „Kameraden“ längst zu erbitterten Gegnern geworden.
       
       „Wir sind mit unserem Beweisprogramm durch!“ Mit dieser Bemerkung
       signalisiert der Vorsitzende Richter des 5. Strafsenats, Thomas Sagebiel,
       an diesem Donnerstag einmal mehr, dass er die Beweisaufnahme für erschöpft
       hält. Eigentlich hatte er das Urteil noch im Dezember verkünden wollen.
       
       Doch mit Rücksicht auf die Nebenklage, und damit auf die Familie des
       Mordopfers, hat er seinen Zeitplan aufgeben müssen. Deren Vorwurf, das
       Gericht behandle den Mitangeklagten H. zu „freundlich“, hat Sagebiel zwar
       entschieden zurückgewiesen. Doch nach dem Auftritt von Christoph Lübcke,
       einem Sohn des früheren CDU-Politikers, vor zwei Tagen, [1][hat auch das
       Gericht wieder offene Fragen].
       
       ## Christoph Lübckes Aussage führt zu offenen Fragen
       
       Am Dienstag hatte Lübcke junior als Zeuge in diesem Prozess ausgesagt. Da
       schilderte er aus seiner Erinnerung eine denkwürdige Begegnung mit zwei
       Männern, die ihn und seinen Vater sehr irritiert habe. An einem Nachmittag
       Anfang 2018 seien ihnen zwei Männer am Haus [2][der Familie] im kleinen Ort
       Istha, dem Wohnort der Lübckes, aufgefallen.
       
       Die hätten sie angestarrt, gerade so, als würden die beiden Männer sie
       schon länger beobachten „Was war das da jetzt?“, habe damals sein Vater
       irritiert gefragt. An dem kleineren der beiden Männer sei ihm dessen Bart,
       eine blaue oder grüne gefleckte Tarnjacke und eine „Batschkapp“
       (Schiebermütze) aufgefallen, so der Zeuge am Dienstag.
       
       War Walter Lübcke damals mit seinen späteren Mördern zusammengetroffen? Die
       Aussage des Lübcke-Sohnes passt zu einer Aussage des Hauptangeklagten
       Ernst. Seit seiner ersten polizeilichen Vernehmung hat er immer wieder
       vorgetragen, im Februar oder März 2018 sei er zusammen mit seinem damaligen
       Freund Markus H. zum Wohnort Lübckes gefahren, um den Politiker, Ziel ihres
       gemeinsamen Hasses, auszuspähen. Mit [3][widersprüchlichen Versionen] der
       Tat hat Ernst jedoch mehrfach zur Verwirrung beigetragen.
       
       Zunächst hatte er ausgesagt, den Mord allein begangen zu haben. Später
       nannte er H. als Todesschützen, inzwischen hat er mehrfach gestanden,
       selbst geschossen zu haben. Den Entschluss zur Tat hätten sie allerdings
       gemeinsam gefasst, aus Wut über Lübckes Einsatz für Flüchtlinge.
       
       ## Widersprüchliche Aussagen des Angeklagten
       
       Hätte H. mit Ernst gemeinsam den Tatort observiert, wäre H. wohl Mittäter,
       auch wenn ihm eine direkte Beteiligung am Mord nicht nachzuweisen ist. Doch
       wie verlässlich sind für das Gericht die Aussagen des Hauptbeschuldigten,
       der unterschiedliche Tatversionen geliefert hat?
       
       Immerhin, die Aussage des Lübcke-Sohns ist brisant. Entsprechend versuchen
       die widerstreitenden Verteidiger, diese Aussage in ihre Argumentation
       einzureihen. Von einer „Scheinerinnerung“ spricht H.s Verteidiger, die
       Familie sei von dessen Tatbeteiligung überzeugt, deshalb seien die Aussagen
       passgenau aufeinander abgestimmt.
       
       Ernsts Verteidigung sieht sie dagegen als Beleg für Ernsts Glaubwürdigkeit.
       Immerhin sichtet das Gericht am Donnerstag Fotos aus der Zeit, in der beide
       Angeklagten der rechten Szene angehörten. Da war H. tatsächlich mit Bart
       und Batschkapp unterwegs, gemeinsam mit Ernst.
       
       „Keine eindeutige Identifizierung“, kommentiert H.s Verteidiger und auch
       der Vorsitzende Richter hat mehr Fragen als Antworten. Ernsts
       Aussageverhalten nennt er „wechselhaft und zweifelhaft“. Im Oktober hat der
       Senat mit der Entlassung von H. aus der Untersuchungshaft signalisiert,
       dass er dessen Verurteilung wegen Mordes allein aufgrund der Aussagen des
       Hauptangeklagten nicht für wahrscheinlich hält. Dabei dürfte es bleiben.
       
       Am Dienstag wird der Prozess fortgesetzt, allerdings dürfte die
       Beweisaufnahme dann tatsächlich bald abgeschlossen werden. Neue
       Zeugenbefragungen sind jedenfalls bislang nicht mehr vorgesehen.
       
       10 Dec 2020
       
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