# taz.de -- Juristin über Missbrauchs-Gesetz: „Geradezu unlogisch“
       
       > Bundesjustizministerin Lambrecht will Kindesmissbrauch härter bestrafen.
       > Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle kann das „fachlich nicht
       > nachvollziehen“.
       
 (IMG) Bild: „Die Taten von Lügde und Münster konnten und können schwer bestraft werden“
       
       taz: Frau Hörnle, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat
       angekündigt, dass sexueller Missbrauch an Kindern künftig [1][„ohne wenn
       und aber“ immer ein Verbrechen sein soll]. Was bedeutet das? 
       
       Tatjana Hörnle: Die Einstufung als Verbrechen bedeutet, dass die
       Mindeststrafe ein Jahr beträgt. Heute beträgt die Mindeststrafe sechs
       Monate. Deshalb gilt der Missbrauch nicht als Verbrechen, sondern als
       Vergehen.
       
       Wie finden Sie den Vorschlag der Justizministerin, die damit auf die großen
       Missbrauchsfälle von Lügde und Münster reagiert? 
       
       Ich kann den Vorschlag fachlich nicht nachvollziehen. Die Taten von Lügde
       und Münster konnten und können schwer bestraft werden. Sie gelten als
       „schwerer sexueller Missbrauch“. Das ist bereits heute ein Verbrechen. Es
       ist geradezu unlogisch, nach solche schweren Taten, die schwer bestraft
       werden können, eine Anhebung der Mindeststrafe für anders gelagerte,
       leichtere Taten zu fordern.
       
       Die Forderung, Missbrauch stets als Verbrechen zu behandeln, ist aber weit
       verbreitet. 
       
       Mir scheint, das hat etwas mit den Begriffen zu tun. Der Begriff
       „Verbrechen“ klingt nach schwerem Unrecht und der Begriff „Vergehen“ nach
       Kavaliersdelikt. Wenn sich diese Sichtweise durchsetzt, bekäme der
       Gesetzgeber ein großes Problem. Denn in Deutschland sind die meisten
       Straftaten als Vergehen eingestuft, zum Beispiel die Körperverletzung –
       weil es auch hier sehr schwere und leichtere Fälle geben kann.
       
       Was stört Sie so an der Anhebung der Mindeststrafe? 
       
       Sie verhindert tatangemessene Strafen für leichtere Fälle des Missbrauchs.
       Strafbar ist es ja zum Beispiel schon, wenn ein Mädchen einmal über der
       Kleidung an der Brust berührt wird.
       
       Brauchen wir nicht eine deutliche Signalwirkung in die Gesellschaft, dass
       Missbrauch Unrecht ist? 
       
       Bei kaum einer Straftat sind sich die Menschen so einig, dass es sich um
       Unrecht handelt, wie beim sexuellen Missbrauch. Ich sehe hier keinen Bedarf
       für symbolische Gesetzgebung. Schon heute gilt es als „schwerer sexueller
       Missbrauch“ und damit als Verbrechen, wenn der Täter das Kind in die Gefahr
       „einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung“
       bringt. Das ist doch Signal genug.
       
       So argumentierte bis vor kurzem auch das Bundesjustizministerium. Nun ist
       Ministerin Lambrecht abgewichen. Sind sie enttäuscht? 
       
       Ich finde es beunruhigend, dass die Ministerin schon nach wenigen Tagen
       Trommelfeuer seitens des Koalitionspartners, [2][einiger Medien] und
       einiger Verbände eingeknickt ist. Das ist das eigentlich Erschreckende,
       dass nun selbst im Justizministerium nicht mehr differenziert argumentiert
       wird und der Sachverstand unter den Tisch fällt.
       
       Aber auch bei einem Jahr Mindeststrafe können Strafen immer noch zur
       Bewährung ausgesetzt werden. 
       
       Das werden die Gerichte in leichteren Fällen wohl auch machen. Aber dann
       wird die nächste Kampagne kommen: „Keine Bewährung für Kinderschänder.“ Und
       ich bin nun skeptisch, ob die Ministerin dann eine differenzierte Position
       lange durchhält.
       
       Lambrecht hat zudem angekündigt, dass sie den Begriff „sexuellen
       Missbrauch“ abschaffen will, denn es gebe ja auch keinen legalen „Gebrauch“
       von Kindern. Eine gute Idee? 
       
       Auch das halte ich für falsch. Beim sexuellen Missbrauch geht es um den
       Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses. Das gibt es im Strafrecht
       mehrfach: gegenüber Kindern, aber auch gegenüber Strafgefangenen oder
       gegenüber alten Menschen im Pflegeheim. Der Begriff „Missbrauch“ bringt zum
       Ausdruck, dass Abhängigkeitsverhältnisse nicht für sexuelle Handlungen
       ausgenutzt werden dürfen.
       
       Die Ministerin will stattdessen von „sexualisierter Gewalt gegen Kinder“
       sprechen. 
       
       Das ist geradezu irreführend. Beim sexuellen Missbrauch kommt es ja gerade
       nicht auf Gewaltanwendung im umgangssprachlichen oder im juristischen Sinne
       an. Sexuelle Handlungen an Kindern sind immer strafbar, auch wenn das Kind
       freiwillig mitmacht. Wer hier „Gewalt“ in die Überschrift schreibt, gibt
       manipulativen Tätern möglicherweise das Gefühl, dass sie nicht gemeint
       sind.
       
       Die CSU hat weitere Verschärfungen vorgeschlagen. So sollen
       Sexualstraftaten gegen Kinder lebenslang im erweiterten Führungszeugnis
       erwähnt werden. Was halten Sie davon? 
       
       Das halte ich für vertretbar. Denn das erweiterte Führungszeugnis muss nur
       vorgelegt werden, wenn jemand beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern und
       Jugendlichen arbeiten will. Für das einfache Führungszeugnis würde es bei
       der jetzigen Regel bleiben, dass solche Taten nur bis zehn Jahre nach Ende
       der letzten Strafe eingetragen werden.
       
       Was wäre am wichtigsten zur Aufklärung und Verhütung von sexuellem
       Missbrauch an Kindern? 
       
       Wir brauchen Polizeibehörden und Jugendämter, die genügend Personal haben
       und gut ausgebildet sind. Aber das ist Aufgabe der Bundesländer. Wohl
       deshalb diskutiert die Bundespolitik nach schweren Straftaten so gern über
       die Verschärfung des Strafrechts.
       
       3 Aug 2020
       
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