# taz.de -- Neuentdeckung der Gebrauchsfotografie: An die Stadt ranpirschen
       
       > Unstillbar ist der Hunger nach Bildern. Das belegt im Kunstmuseum Basel
       > eine Sammlung von Alltagsfotografien, die alle Bereiche des Lebens
       > durchdringt.
       
 (IMG) Bild: Gebrauchsfotografie wird zum kostbaren Objekt: Unbekannter Fotograf, Werbeaufnahme um 1950
       
       Die Belle Époque in Paris war ein Fest für die Fotografie: Großbaustellen
       waren die neuen Wahrzeichen der Weltstadt. Paris war im Begriff, sich
       gänzlich neu zu erfinden. Alles wurde mit der Kamera protokolliert.
       Anlässlich der Weltausstellung baute man 1889 den Eiffelturm auf die
       rekordverdächtige Höhe von 324 Metern. Um die Pariser Metro zu errichten,
       grub man sich in die Tiefe.
       
       Selbst die Hüte der Damen in den Parks, am Rand von Pferderennen und auf
       den Boulevards scheinen von architektonischem Ehrgeiz getrieben:
       breitkrempig und überladen ziehen sie die Blicke auf sich. Sie sind
       geschmückt mit Federn, Blumengestecken oder voluminösen Rüschen, die
       heutige Betrachter*innen an Modelle von modernen Fußballstadien
       erinnern.
       
       Ein italienischer Graf namens Giuseppe Primoli fotografierte zu dieser Zeit
       die Künstlerszene auf den Straßen, darunter auch die Schauspielerin
       Gabrielle-Charlotte Réju. Als Réjane versetzte sie mit ihren
       Theaterauftritten das Pariser Publikum in helle Aufregung und inspirierte
       Maler wie Henri Toulouse-Lautrec. Ein Album mit eingesteckten und
       handschriftlich annotierten Silbergelatineabzügen legt Zeugnis von Primolis
       Streifzügen durch die Seine-Metropole ab. Er könnte vielleicht als Urahn
       gegenwärtiger straßenfotografierender Modeblogger*innen durchgehen.
       
       Das Album ist derzeit eines von unzähligen Exponaten in der von Olga
       Osadtschy und Paul Mellenthin kuratierten Schau „The Incredible World of
       Photography“ im [1][Basler Kunstmuseum], die sich auf die Bestände der in
       Basel beheimateten umfangreichen Fotografie-Sammlung von Ruth und Peter
       Herzog stützt.
       
       ## Ein Adpet der Schaulust
       
       Flanieren, das hieß damals eben auch, die Stadt mit der Kamera zu
       durchqueren. „Der Fotograf, eine bewaffnete Spielart des einsamen
       Wanderers, pirscht sich an das großstädtische Inferno heran und
       durchstreift es – ein voyeuristischer Spaziergänger, der die Stadt als eine
       Landschaft wollüstiger Extreme entdeckt“ schrieb Susan Sontag Jahrzehnte
       später in ihrem berühmten Foto-Essay. „Ein Adept der Schaulust und
       Connaisseur des Effektvollen, findet der Flaneur die Welt – pittoresk.“
       
       Die Welt der Fotografie erscheint endlos und ist nicht zu fassen. In immer
       neuen Sedimentschichten legen sich die Bilder am Grund der modernen
       Bildkultur ab. Zugleich bleibt der Hunger nach Bildern unstillbar.
       
       Zu Sammlern wurden Ruth und Peter Herzog im Mai 1974 auf einem Flohmarkt in
       Zürich. Das Paar entdeckte eine alte, um 1900 aufgenommene Fotografie von
       Spinnerinnen im Halbkreis. Die anonyme Aufnahme der Arbeiterinnen machte
       den Herzogs klar, „das jede Fotografie immer sowohl ästhetischen als auch
       dokumentarischen Wert besitzt“. Nicht interessiert am Star-System der
       Kunstfotografie, wandten sich die Herzogs von Anfang an der Gebrauchs- und
       Alltagsfotografie zu. Über die Jahrzehnte wuchs die analoge Fotosammlung,
       die von den Anfängen des Mediums bis in die siebziger Jahre reicht.
       
       Allein 3.000 analoge Fotoalben haben die Herzogs über die Jahre
       zusammengetragen. Hauptsächlich handelt es sich um „verwaiste“ Fotografie,
       also Aufnahmen, denen keine Urheber*innen mehr zugeordnet werden
       können. Insgesamt soll die Sammlung schätzungsweise rund 500.000 Motive
       umfassen. Aber was heißt das heute, im Zeitalter der digitalen Fotografie
       eigentlich noch? Eben das: Sichtbar wird vor allem, wie haptisch und
       objektgebunden die Fotografie-Kultur vor der digitalen Ära war.
       
       ## Empfindliche Luxusgegenstände
       
       Das beginnt schon mit den zu Beginn des Ausstellungsrundgangs
       präsentierten, relativ winzigen Daguerreotypien mit Porträts oder
       Familienbildnissen aus der Frühzeit des Mediums um die Mitte des 19.
       Jahrhunderts. Sie waren empfindliche Luxusgegenstände, die meist mit
       speziell angefertigten Rahmen oder Etuis mit Samtauskleidung im
       Vorderdeckel gegen etwaige Beschädigungen geschützt wurden. Die Bildträger
       sind einem ständigen materiellen Wechsel unterworfen. An den Objekten in
       den Vitrinen lässt sich eine kleine Technikgeschichte der Fotografie
       ablesen. Das ist so geblieben: Bis heute ist die Fotografie durch ständige
       Innovation getrieben.
       
       Als Kern ihrer Sammlung beschreiben die Herzogs „die Geschichte der
       Menschen in der Industriegesellschaft in Photographien seit 1839“. Das
       stimmt. Alle Bereiche des Alltags erscheinen von der Fotografie
       durchdrungen: Familie, Arbeit, Freizeit, Reisen, Konsum, Wissenschaft und
       so weiter. Fotografie wird hier aber nicht nur als Dokumentationsmedium der
       Industriegesellschaft greifbar – sondern aufgrund der ihr selbst
       eingeschriebenen industriellen Produktionslogik auch als Teil und
       Katalysator der Modernisierung.
       
       Wie in einen Hohlspiegel blickt man auch in die Abgründe der Moderne: Die
       Schrecken von Krieg oder Kolonialismus etwa finden sich hier ebenso
       fixiert. „Der erste Tote“ steht etwa lapidar unter einem Foto in einem
       Album eines Wehrmachtssoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Man
       fröstelt unwillkürlich beim Betrachten des überbelichteten Abzugs mit dem
       altmodischen Büttenrand.
       
       ## Ohne Ende
       
       Man müsse es aushalten, dass die Sammlung an kein Ende kommen könne, sagt
       Peter Herzog in einem Video, das auf einem Monitor im Loop läuft. In der
       effektvoll ausgeleuchteten Präsentation in Basel ist von der Sammelwut und
       der Bodenlosigkeit nicht mehr viel zu spüren. Die Schau trägt eher den
       Charakter objektivierender Sachlichkeit. So muss das in einem Museum wohl
       auch sein, dass sich über das Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen,
       Vermitteln definiert.
       
       2015 wurde die Foto-Sammlung der Herzogs vom Basler [2][Architekturbüro
       Herzog & de Meuron] übernommen und bleibt somit sozusagen in der Familie.
       Denn Peter Herzog ist der Bruder von Jacques Herzog, dem einen Teil des
       international bekannten Basler Architekten-Duos. Als eigenständige
       Abteilung gehört das Konvolut seither zum Jacques Herzog und Pierre de
       Meuron Kabinett, einer Stiftung, in der alle Werke, Archivstücke, Pläne und
       Modelle des Architekturbüros zusammengefasst und in der Stadt gehalten
       werden sollen. Mit dieser Erwerbung wurde eine sorgfältige Katalogisierung,
       Erforschung und Digitalisierung der Sammlung in Angriff genommen. Parallel
       zur Ausstellungseröffnung gingen Teile der Sammlung unter der Adresse
       „[3][fotosammlung.com]“ erstmals online.
       
       „The Incredible World of Photography“ ist in zwei große Ausstellungskapitel
       unterteilt: Während sich der erste Teil als eine Hommage an das Sammlerpaar
       Herzog lesen lässt, wird im zweiten Teil untersucht, wie sich die
       Alltagsfotografie und die Sammlung des Museums durch Gegenüberstellungen
       miteinander sinnvoll in Beziehung setzen lassen. Hier sticht vor allem die
       Autofarben-Serie des kürzlich gestorbenen kalifornischen Konzeptkünstler
       John Baldessari heraus. Mitte der Siebziger fotografierte Baldessari,
       nachdem er das Atelier verlassen hatte, die verschiedenen Lackierungen der
       Autos in Nahaufnahme, die in seiner Straße geparkt waren. In dem so
       entstandenen halben Dutzend fotografischer Farbfelder hinter Plexiglas
       gehen Humor, Konzept und Beiläufigkeit eine sehr glückliche Verbindung ein.
       So gelang es Baldessari, selbst der radikalen Autostadt Los Angeles
       flanierend einen malerischen Moment abzutrotzen.
       
       22 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /War-Games-im-Kunstmuseum-Basel/!5505556
 (DIR) [2] /Herzog--de-Meuron-gewinnen-Wettbewerb/!5674541
 (DIR) [3] https://www.fotosammlung.com/collection.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kito Nedo
       
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