# taz.de -- Abgeriegeltes Mietshaus in Göttingen: Flucht, Ohnmacht, Sucht
       
       > In Göttingen wird ein Wohnblock wegen Corona abgeriegelt. Es ist der
       > Tiefpunkt einer langen Kette von Diskriminierungen in der Uni-Stadt.
       
 (IMG) Bild: Abgeriegelt: der Wohnblock in Göttingen
       
       Die Göttinger Punkband „Hund Kaputt“ hat einen Wohnblock in der Stadt
       („Haus 9a bis c“) [1][einmal so besungen]: „Wenige Quadratmeter / viele
       Menschen und eine Menge zerplatzter Träume / in dieser Enge / Flucht,
       Ohnmacht, Sucht“. Weiter brüllt der Sänger, dass „euch das Leid dahinter
       einen Dreck“ interessiere – beim „Skandalisieren des äußeren Schmutzes“.
       
       Das Lied ist von beklemmender Aktualität. Vorige Woche hat die Stadt wegen
       Corona genau dieses Haus unter Quarantäne gestellt. In dem Block, in dem
       700 Menschen wohnen, wurden 102 auf das Virus positiv getestet. Alle
       BewohnerInnen dürfen den Wohnkomplex nicht verlassen – die Stadt hat ihn
       sogar mit Bauzäunen verbarrikadiert. [2][Am Wochenende versuchten
       BewohnerInnen, aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis zu entkommen]; lokale
       Medien berichten von Steinen und Autoreifen, die auf die Polizei
       heruntergeworfen wurden.
       
       Es ist unwahrscheinlich, dass eine Stadtregierung gediegene Wohnviertel mit
       Zäunen zusperren würde. Eine Masseninfektion in diesen Vierteln ist eher
       ausgeschlossen, weil es sich dort luftiger wohnt. Aber selbst wenn es dort
       viele Infizierte gäbe: Eine Stadt würde sich nie trauen, solche
       BewohnerInnen einzusperren, und wenn doch, würden diese sich per Anwalt
       wehren; mit geworfenen Autoreifen müssen sie sich nicht die Hände schmutzig
       machen.
       
       Jede größere Stadt hat so ein „Haus 9a bis c“. In den 60er und 70er Jahren
       hochgezogen, sind diese Häuser irgendwann zum Notaufnahmelager für all jene
       geworden, die die Mehrheitsgesellschaft in ihren Reihen nicht haben will:
       dauerhafte Hartz-IV-EmpfängerInnen, mittellose MigrantInnen, im Göttinger
       Fall viele Sinti und Roma.
       
       ## Wutausbruch als Hilfeschrei
       
       Göttingen hat im Stadtrat seit Jahrzehnten eine linke Mehrheit, der
       Oberbürgermeister ist von der SPD. Die Sozialdezernentin der Stadt sagte im
       schönsten SozialarbeiterInnensprech, man wolle die Situation „nicht gegen
       die Menschen gestalten, sondern mit ihnen“. Ein schöner Witz: Es ist die
       lokale Politik, die den Wutausbruch der BewohnerInnen, der eigentlich ein
       Hilfeschrei ist, zu verantworten hat.
       
       Über Jahre hat sie wenig bis nichts getan, um für menschenwürdige
       Wohnbedingungen zu sorgen – was auch im Interesse der Gesundheit der
       BewohnerInnen wäre. Es ist bitter nötig, gegen auch nur latenten Rassismus
       und Ungerechtigkeiten vorzugehen. Doch sollten nicht nur „die Anderen“ im
       Blick stehen: Es lohnt sich, auch bei den politisch Verantwortlichen im
       eigenen Milieu, in linken Uni-Städten etwa, genauer hinzuschauen.
       
       22 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://hundkaputt.bandcamp.com/track/haus-9a-c
 (DIR) [2] /Ausschreitungen-wegen-Corona-Quarantaene/!5690924
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gunnar Hinck
       
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