# taz.de -- Nach zwölf Jahren am höchsten Gericht: Ein unerwartet krawalliges Ende
       
       > Seine Zeit an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts war geprägt von
       > europarechtlichen Konflikten. Ein Porträt zum Abschied von Andreas
       > Voßkuhle.
       
 (IMG) Bild: Noch in roter Robe: Andreas Voßkuhle im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
       
       Eigentlich ist Andreas Voßkuhle ein Mann der Mitte; einer, der den
       Ausgleich liebt, also ein idealer Verfassungsrichter. „Jede gute Sache
       wird falsch, sobald wir sie zu Ende denken“, dieses Zitat von Hans Magnus
       Enzensberger benutzt er gerne. Aber gilt dieser Gedanke für ihn auch, wenn
       es um die Karlsruher Rolle in Europa geht? Nach dem jüngsten Urteil zur
       Europäischen Zentralbank (EZB) kann man daran zweifeln. Denn in einer
       Mischung aus Rechthaberei und Revierkämpfen droht das
       Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Schaden
       zuzufügen.
       
       Voßkuhle war zwölf Jahre lang Richter am Bundesverfassungsgericht, zehn
       Jahre lang sogar dessen Präsident. Man spricht inzwischen von einer „Ära
       Voßkuhle“, die nun zu Ende geht. So viel öffentliche Projektion zogen seine
       Vorgänger nicht auf sich.
       
       Als Voßkuhle 2008 zum Verfassungsrichter gewählt wurde, war er nur Insidern
       bekannt. Er war Juraprofessor in Freiburg, galt als moderner
       Verwaltungsrechtler und war gerade zum Uni-Rektor gewählt worden, als er
       einen Anruf der damaligen Justizminsterin Brigitte Zypries (SPD) erhielt:
       ob er sich vorstellen könnte, Verfassungsrichter zu werden. Voßkuhle dachte
       nur wenige Minuten nach: „Eine solche Anfrage kann man nicht ablehnen.“ Er
       verzichtete also auf das Rektorenamt, das er nur wenige Wochen innehatte.
       
       Dass Voßkuhle Verfassungsrichter werden sollte, war von der SPD zunächst
       gar nicht geplant. Ihr eigentlicher Kandidat war der Rechtsprofessor Horst
       Dreier. Doch die Union protestierte gegen dessen liberale Haltung zur
       Embryonenforschung. Linke und FDP kritisierten Dreiers vage Position zum
       Folterverbot. Deshalb zog die SPD Dreier wenige Tage vor der geplanten Wahl
       zurück und präsentierte stattdessen Voßkuhle, der keine Angriffspunkte bot.
       Voßkuhle ist parteilos, steht nach eigener Aussage aber den
       „Grundpositionen der Sozialdemokratie“ nahe.
       
       Aufgrund der Konstellation im Gericht war von Beginn an klar, dass Voßkuhle
       besondere Verantwortung übernehmen sollte, zunächst als Vizepräsdident des
       Gerichts. Zwei Jahre später wählte der Bundestag Voßkuhle dann auch zum
       Präsidenten des Verfassungsgerichts – zum bislang jüngsten, er war erst 46
       Jahre alt. Medien erwähnten damals oft noch seine jungenhaften
       Gesichtszüge, die er mit einer markanten Hornbrille konterkarierte.
       
       ## Er wollte nicht Bundespräsident werden
       
       Voßkuhle wurde schnell als neues Gesicht des Karlsruher Gerichts bekannt.
       Er erwies sich als deutlich fernsehgerechter als sein etwas umständlich
       formulierender Vorgänger Hans-Jürgen Papier. Voßkuhle spricht in klaren und
       druckreifen Sätzen, auch wenn er erklärt, wie kompliziert alles ist. Seine
       Ausstrahlung ist souverän und unprätentiös, seine Stimme ist warm, man hört
       ihm gern zu.
       
       Gleich nach seiner Wahl zum Verfassungsrichter stellte sich Voßkuhle den
       Fragen der Presse, ein Novum. Auch suchte er bald das Gespräch mit der
       Politik, wenn er merkte, dass Urteile nicht verstanden wurden, etwa weil
       interessengeleitete Zusammenfassungen kursierten.
       
       Im Gericht galt Voßkuhle als guter Moderator. In seinem Zweiten Senat, der
       früher zerstritten war, schuf er ein faires und konstruktives
       Diskussionsklima. Seine Abschiedsreden für ausscheidende Richter sind
       kleine Kunstwerke.
       
       Manchmal wird Voßkuhle als „Deutschlands oberster Richter“ bezeichnet. Aber
       er hatte in dem achtköpfigen Senat wie alle anderen nur eine Stimme. Auch
       als Gerichtspräsident musste er seine Kollegen mit Argumenten überzeugen.
       Das Präsidentenamt brachte vor allem viel Repräsentationspflichten mit
       sich. Bei Staatsakten saß er neben der Kanzlerin und dem Bundespräsidenten
       in der ersten Reihe.
       
       Die Verfassungsgerichtsbarkeit sieht Voßkuhle als „Reflexionsschleife“
       des politischen Systems. Während Regierung und Parlamente oft hektisch und
       umfragengetrieben entscheiden, können die Verfassungsrichter ausgewählte
       Probleme von allen Seiten beleuchten, lange diskutieren und eine möglichst
       konsensfähige Lösung finden. Voßkuhle betonte zwar immer, das Gericht
       entscheide nur nach „Recht und Gesetz“. Man sei vor allem an die bisherige
       eigene Rechtsprechung gebunden. Er räumt aber auch ein: „Die Entscheidung,
       die ein Verfassungsgericht trifft, ist nur sehr selten die einzig
       mögliche.“ Deshalb ist das Bundesverfassungsgericht auch ein durchaus
       politisches Staatsorgan. Es ist der Reparaturbetrieb, der konsensfähige
       Lösungen erzwingt, um die Akzeptanz der Demokratie zu sichern.
       
       Eine wichtige Rolle des Verfassungsgerichts sah Voßkuhle darin, die
       Offenheit für neue politische Entwicklungen sicherzustellen. Von ihm stammt
       die Formel: „Das Bundesverfassungsgericht sichert die Spielräume des
       Parlaments gegenüber der Exekutive, der Opposition gegenüber der Mehrheit
       und der außerparlamentarischen Akteure gegenüber der etablierten Politik.“
       
       Sein Spezialgebiet war das Beamtenrecht, wo er eine eher vorsichtige Linie
       verfolgte. Unter Voßkuhles Federführung lehnte das Gericht 2018 ein
       Streikrecht für Beamte ab. Zuvor hatte Karlsruhe 2015 allerdings den
       Gesetzgeber verpflichtet, Beamte nicht von der allgemeinen Lohnentwicklung
       abzukoppeln.
       
       Als Mann der Mitte wurde Voßkuhle auch zweimal gefragt, ob er
       Bundespräsident werden wolle, 2012 und 2016. Doch er wollte lieber in
       Karlsruhe bleiben. Zu Kanzlerin Merkel soll er gesagt haben: „Einen guten
       Bundespräsidenten finden Sie leichter als einen guten Präsidenten des
       Bundesverfassungsgerichts.“
       
       Für die europäische Integration aus tiefem Herzen 
       
       Geprägt war Voßkuhles Amtszeit von europarechtlichen Konflikten. Dank immer
       neuer Klagen von EU-Skeptikern wie Peter Gauweiler (CSU) konnte sich
       Voßkuhles Zweiter Senat stets mit den großen Fragen der Europapolitik
       beschäftigten. Anfang Mai beanstandete der Senat dann den billionenschweren
       Anleiheankauf der EZB und erklärte dabei erstmals ein Urteil des EuGH wegen
       angeblicher grober methodischer Mängel für unverbindlich. Voßkuhles
       Amtszeit endete unerwartet krawallig.
       
       Voßkuhle legt allerdings Wert darauf, dass er die europäische Integration
       aus tiefem Herzen befürwortet. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die
       EU-Politik kritisch beleuchte, diene dies der europäischen Einigung. „Wer
       schnell fahren will, braucht eine gute Bremse“, argumentiere Voßkuhle 2012
       auf dem Deutschen Juristentag in einer Diskussion mit dem Philosophen
       Jürgen Habermas. „Nur wenn die Bürger das Vertrauen haben, dass bestimmte
       Grenzen nicht überschritten werden, sind sie bereit, weitere
       Integrationsschritte hinzunehmen.“
       
       Die Anmaßung des Bundesverfassungsgerichts, die europäische Politik zu
       kontrollieren, hat Voßkuhle nicht erfunden. In einem Aufsatz von 2009 hat
       er ihr aber einen theoretischen Überbau verschafft. Das
       Bundesverfassungsgericht sei Teil eines „europäischen
       Verfassungsgerichteverbunds“ – neben dem Luxemburger EuGH und dem
       Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte. Karlsruhe befinde sich dabei
       „auf Augenhöhe“ mit den europäischen Gerichten.
       
       Zuletzt hat sich Voßkuhles Senat vom EuGH aber nicht ganz ernst genommen
       gefühlt. Daher nun wohl das EZB-Urteil als Schuss vor den Bug der
       Luxemburger Kollegen. Selbst in Deutschland wurde das überwiegend als
       gefährliche Eskalation wahrgenommen – in einer Zeit, in der osteuropäische
       Staaten wie Polen und Ungarn offen die Autorität des EuGH anzweifeln.
       
       Wie wird sich das Bundesverfassungsgericht in der Zeit nach Voßkuhle
       positionieren? Im Zweiten Senat [1][wurde Vosskuhle durch die
       Rechtsprofessorin Astrid Wallrabenstein ersetzt]. Sie war von den
       europafreundlichen Grünen nominiert worden. Voßkuhles wichtigster Partner
       in EU-Fragen, der Konservative Peter M. Huber, scheidet in zwei Jahren
       ebenfalls aus. Der bereits gewählte neue Präsident, Stephan Harbarth, ist
       Vorsitzender des Ersten Senats und war deshalb an dem langen Rechststreit
       über die EZB gar nicht beteiligt. Gut möglich, dass die Zeiten enden, in
       denen das Gericht einen großen Teil seiner Zeit auf die Kontrolle von
       EU-Politik verwandte. Dann wäre die Ära Voßkuhle wirklich zu Ende.
       
       Am 22. Juni wird er seine Entlassungsurkunde erhalten. Bundespräsident
       Frank-Walter Steinmeier wird sie ihm in einer kleinen Zeremonie
       überreichen. Dann kehrt Andreas Voßkuhle als Rechtsprofessor an die
       Universität Freiburg zurück.
       
       1 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Rath
       
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